„Auch ich war ein Teufel“

Der Psychologieprofessor Philip Zimbardo wies nach, dass selbst völlig normale Menschen zu Folterknechten werden können. Jetzt veröffentlichte er die Untersuchung „The Lucifer Effect“. Und bekennt erstmals, dass auch er an der Schwelle entfesselter Gewalt stand

Phil war ein kränklicher, magerer Junge. Um nicht unterzugehen in der South Bronx der dreißiger und vierziger Jahre, behauptete er sich früh in einer Gang und punktete mit Diebstählen, Prügeleien und anderen Untaten. So wurde Philip Zimbardo schon in jungen Jahren zum Experten für Machtverhältnisse. Und initiierte später als Psychologieprofessor an der Stanford University eines der aufsehenerregendsten Experimente in der Geschichte der Psychologie: Das ehemalige Ghettokid sperrte im August 1971 sechsundzwanzig Studenten in den Keller der Universität ein. Sie hatten sich freiwillig gemeldet und waren nachweislich emotional stabil. Die Pointe: Nach dem Zufallsprinzip wurden sie in Wärter und Gefangene aufgeteilt. Zwei Wochen lang sollten die Probanden ihre jeweiligen Rollen ausagieren. Was dann allerdings passierte, war ein Schock: Nach nur sechs Tagen als Wärter hatten die erklärten Pazifisten, Tierliebhaber und Underdogadvokaten ein solches Maß an Grausamkeit entwickelt, dass das Experiment abgebrochen werden musste. Demütigungen, Psychofolter und sadistische Ausschreitungen hatten jede Schranke überschritten. „Luzifer-Effekt“ nennt Zimbardo sehr anschaulich den fatalen Kipp-Mechanismus von Empathie und Selbstkontrolle zu monströser Gewaltbereitschaft – als extreme Metamorphose, die den lichtbringenden Engel Luzifer nach seinem Höllensturz in den schwärzesten aller Teufel verwandelt. 36 Jahre nach dem legendären Stanford Prison Experiment veröffentlichte Philip Zimbardo nun eine fünfhundertseitige Abhandlung über die erschreckende Verwandlung anständiger Bürger in Folterknechte und Mörder. „Der Luzifer-Effekt – Warum gute Menschen böse werden“, heißt der Titel des dickleibigen Werks. Der ehemalige Präsident der American Psychological Association hat den changierenden, religiös aufgeladenen Begriff des Bösen im Untertitel gezielt eingesetzt: „Ich weiß, dass dieses Wort mehr Aufmerksamkeit bekommt als jedes andere, weil es von Macht handelt“, sagt Zimbardo im Cicero-Gespräch. „Niemand konnte beispielsweise der Versuchung widerstehen, sich die Zerstörung des World Trade Centers immer wieder aufs Neue im TV anzuschauen – denn man wurde Zeuge einer gigantischen Machtdemonstration.“ Diese dunkle Faszination, so Zimbardo, sei auch dafür verantwortlich, dass wir auf die Fotos starrten, die den Machtmissbrauch amerikanischer Soldaten im Gefängnis von Abu Ghraib dokumentieren. Brisant wurden seine Forschungsergebnisse, als die Täter von Abu Ghraib in den USA vor Gericht standen. Als Systemkritiker, der sich mit dem Einfluss „toxischer Situationen“ auf menschliches Verhalten beschäftigt, reagierte Zimbardo voller Zorn auf die Behauptung der Bush-Regierung, „ein paar faule Äpfel“ seien für den Skandal verantwortlich. Und so begab er sich „ins Herz der Finsternis“, wie er es nennt: Als psychologischer Gutachter für einen der Angeklagten, Sergeant Chip Frederick, studierte er die Vorfälle bis ins letzte Detail. „Frederick war für die Nachtschicht zwischen 16 und 4 Uhr zuständig“, erzählt Zimbardo. „Das Gefängnis war total überfüllt, unter stetem Beschuss, aus Mangel an Kleidung war die Hälfte der Gefangenen nackt.“ Ein Strafvollzug im Ausnahmezustand: „Die Elektrizität fiel immer wieder aus, es gab keine funktionierenden sanitären Anlagen, nur transportable Toiletten, die überquollen“, beschreibt er die Szenerie. „In drei Monaten ist kein einziger Vorgesetzter in die Folterkammern hinabgestiegen – wenn man diesen Soldaten totale Macht über Menschen gibt, die sie als ihre Feinde betrachten, dann sind Übergriffe und Folterungen die logische Folge. Besonders, wenn von oben die diffuse Order kommt, die Insassen für Verhöre ‚weichzumachen‘.“ Sein Gutachten, ein Plädoyer für mildernde Umstände, hatte keinerlei Einfluss auf das harte Urteil für Chip Frederick: acht Jahre Haft, unehrenhafte Entlassung und Annulierung der Rente. Zimbardo zuckt die Schultern. Das „kreative Böse“ als Option in uns allen passt halt nicht in das Weltbild von Politikern. Die Kriminalisierung der Gefängniswärter, ihre Mystifizierung als sadistische Monster ignoriere die Mitschuld der Politiker, die unerträgliche Bedingungen zuließen und billigten. In seinem Buch bekennt Zimbardo nun erstmals auch seine eigene moralische Korrumpierbarkeit: eine kleine Sensation. Als Leiter des Experiments von 1971 hatte er sich das Amt des „Gefängnisdirektors“ zugewiesen. Diese Machtstellung erwies sich als fatal: Viel zu spät stoppte er die entgleisenden Vorgänge im Keller, weil er selbst fasziniert war, schreibt er in seinem schonungslos selbstkritischen Report jener sechs Tage, die unter anderem auch in Deutschland filmisch adaptiert wurden („Das Experiment“, mit Moritz Bleibtreu und Andrea Sawatzki). Machtrausch, Entgrenzung, die Eliminierung des Mitleids – selbst der renommierte Professor war nicht davor gefeit, seine luziferischen Züge zu entdecken. Ohne die Intervention seiner Kollegin Christina Maslach – die er übrigens später heiratete – hätte er den Versuch vermutlich weitergeführt, mit katastrophalen Folgen für die „Gefangenen“. „The Lucifer Effect“ schließt denn auch mit einem Plädoyer für Zivilcourage. Passend dazu erforscht Zimbardo neuerdings die Helden guter Taten. Aber eines weiß er schon jetzt: „Es wird sich leider um einen schmalen Band handeln.“ Claudia Steinberg lebt seit 1980 in New York.Sie schreibt unter anderem für Die Zeit, die FAZ sowie für die New York Times über Kunst, Architektur und Design

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