Schnee zum Frühlingsanfang - „Immer ist es entweder zu warm, zu kalt oder zu nass“

Die Aufregung um Schnee und Kälte zum Frühlingsanfang geht dem Meteorologen Jörg Kachelmann auf die Nerven. Im Interview spricht er über doofe Journalisten, doofe Leser und nutzlose Wetter-Apps

Zu doof für die Jahreszeiten? Unsere Empörung über den Frühlingsanfang / picture alliance
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Sie klingen erkältet, Herr Kachelmann. Trotzdem haben Sie sich heute mehr über Leute geärgert, die sich über das schlechte Wetter ärgern, als über das schlechte Wetter an sich?
Ich ärgere mich ja gar nicht. Mir ist das völlig egal. Ich habe genug im Leben erlebt, was wichtiger war. Ich finde eben nur, dass man sich nicht wegen unwichtiger Details aufregen sollte, auch nicht, wenn es ums Wetter geht. Das sage ich aber aus einer völlig entspannten Position heraus.

Dafür haben sie sich heute auf Twitter aber viel beschwert, wenn sich Leute über den Schnee am Frühlingsanfang beklagt haben.
Ja, ich denke mir einfach: Get a real life, Sissies! Das ist alles völlig normal. Journalisten sollten wirklich mal ergründen, was in den vergangenen Jahrzehnten mit der deutschen Bevölkerung geschehen ist. Wetter ist so ein dominantes Thema geworden. Zugleich scheint das Wissen um so etwas wie Jahreszeiten und deren naturwissenschaftlicher Hintergrund völlig abhanden gekommen zu sein. Machen Sie doch mal eine Straßenumfrage mit der Frage: „Warum ist genau heute Frühlingsanfang?“ Ich befürchte Schlimmes. Wir haben einen Bildungsnotstand bei Naturwissenschaften und ich versuche, als kleine Nervensäge dagegen anzustinken.

Der Meteorologe Jörg Kachelmann

Sind wir zu wehleidig?
Es gibt schon ein großes Gejammer. Immer ist es entweder zu warm oder zu kalt oder zu nass. Viele Online-Medien, besonders dumme Online-Medien, haben mit ihrem Wetter-Geschichten einen großen Erfolg. Dass harmlose Wetter-Themen als Aufreger wie „Schock-Prognose: Frühling? Nicht vor Ostern“ funktionieren, kann unterschiedlich interpretiert werden, wenn völlig normale Dinge als wilder Vorgang dargestellt werden. Entweder sind die Journalisten doof oder deren Leser oder alle zusammen.

Es gibt doch diese tollen Wetter-Apps. Wissen wir nicht viel mehr als früher?
Es gibt nichts Schlechteres als diese Wetter-Apps für eine Vorhersage. Die haben zum Niedergang des Rufs der Meteorologie geführt. Vor 10 bis 15 Jahren war die Meteorologie noch relativ gut beleumdet. Die Apps aber liegen leider so oft derart falsch, dass es mit dem guten Ruf wieder vorbei ist. Hinzu kommen all die Räubergeschichten in den Medien über Dinge, die gar nicht gehen oder völliger Blödsinn sind: Bald werden wir lesen, wie angeblich der Sommer wird. Natürlich ist die Vorhersage reinster Schwachsinn, aber das verschweigen die Medien und die Leute nehmen das ernst. Es ist die schlimme Kombination aus der flächendeckenden Bereitschaft zu Fake News im deutschen Online-Journalismus und einer Leserschaft, die mental und von ihrer Schulbildung meist in keiner Form in der Lage ist, diese Fake News zu erkennen. Als Katastrophe obendrauf ist Deutschland die Zentrale für Aberglauben – viele Leute glauben auch den allerletzten Quatsch, von Flüsschen als Wetterscheide über den Hundertjährigen Kalender bis zu Hagelfliegerei und alle sind natürlich total wetterfühlig. Die Wissenschaft ist eine kleine letzte Blume auf dem Mittelstreifen der Autobahn der Scharlatanerie.

Aber Wetter ist schon wichtig, oder?
Für Landwirte, ja. Sonst nicht, aber da geht es eben wie oben schon wieder los mit dem falschen Gefühl, dass das Wetter total wichtig sei. Hat in den USA jemand Kopfweh, hat er Kopfweh. Hat er es einen Monat lang, macht er sich Sorgen. Hat jemand in Deutschland Kopfweh, muss es in der Zentrale für externalisierte Verantwortung („Irgendjemand muss schuld sein“) einen Verantwortlichen geben. So ist hierzulande ein Wettbewerb entstanden, wer ein noch sensiblerer Mensch ist. Es gibt deswegen eine weltweit einzigartige Industrie des angeblichen Fühlens. Menschen, die problemlos mehrfach im Winter beim Wechsel nach Draußen und Drinnen 30 Grad und mehr in kurzer Zeit klaglos überwinden, glauben im Ernst, sie würden einen Temperaturwechsel von 10 Grad über eine Woche verteilt spüren – der auch noch draußen stattfindet, wo sich die meisten Leute eher kurz aufhalten im Winter.

Das Wetter kann ich also nicht beschimpfen, wenn es mir schlecht geht?
Auch ganz toll ist der Aberglaube, die Leute würden Wetterwechsel empfinden und darunter leiden – dieselben Menschen erleben zwar in Aufzügen und in Hochhäusern und bei der Fahrt von zuhause zum Arbeitsplatz jeden Tag Hochts und Tiefs in schneller Folge, aber ich ahne auch da, dass deutsche Schulen heute keine Mitteilung fürs Leben mehr geben wollen auf die Frage: „Wieviel Höhendifferenz braucht man, damit der Luftdruck um einen hPa steigt oder sinkt?“ Es sind gerade acht Meter. Wer ein paar Treppen steigt, erlebt also schon einen schrecklichen Wetterwechsel – der natürlich im Gegensatz zu dem, der sich über eine Woche unmerklich verteilt, nicht zu Beschwerden führt.

Warum ist es dazu gekommen, wer profitiert davon?
Für Ärzte ist diese Massenhysterie um nicht existierenden Hokuspokus eine super Sache. Sie wissen (wie Menschen anderswo weltweit), dass man einfach so grundlos Kopfweh haben kann. Nur bei uns fühlen sich überraschungsarm lebende Menschen etwas bedeutender, wenn sie im Gespräch im Treppenhaus bedeutsam raunen können: „Ich spüre schon den Wetterwechsel.“ Früher haben Ärzte ihren Patienten ehrlich sagen müssen: „Nun, Sie haben Kopfweh, weiß ich doch nicht warum.“ Heute kommt der Patient schon mit einer fertigen Theorie und jeder Arzt, der bei Trost ist, wird den Teufel tun zu widersprechen.

Früher war Wetter doch auch nicht egal.
Es gab mehr Menschen in der Landwirtschaft, heute ist die Hauptbetroffenheit für Wetter beim Cabrio. Meteorologen zucken leicht mit dem Auge bei der existentiellen Frage: „Kann ich morgen offen fahren?“ 

Viele sprechen jetzt vom Märzwinter.
Ja, das kann man so machen. Wenn es im April schneit, wird es Aprilwinter sein. Und wenn es im November mal tierisch warm wird, wird man womöglich Novembersommer oder eben –  historisch belegt – Martinisommer sagen. Das hat keinen wissenschaftlichen Hintergrund, aber ist mir alles lieber als die „Russenpeitsche“ der Klick-Flagellanten.

Nicht mal die Landwirte haben Grund zur Panik?
Was soll denn kaputt gehen? Es ist ja noch gar nichts auf dem Boden drauf. Es ist alles vollkommen entspannt. Außer die furchtbar erschütterten Bürger, die in ihrer Anspruchshaltung neuerdings erwarten, dass jetzt Mitte März gefälligst 20 Grad zu herrschen haben. Das wäre vom Durchschnitt aber mindestens genauso weit entfernt, wie das, was wir jetzt gerade haben. Der Unterschied ist nur, 20 Grad im März würden alle Leute nicht weiter erwähnenswert finden. Man sollte aber schon wissen, in welcher Klimazone wir uns in etwa befinden. Für die Landwirtschaft ist es besser als Wärme jetzt und Kälte später.

Haben wir bezüglich des Wetters ein zu gutes Kurzzeit-, aber ein zu schlechtes Langzeitgedächtnis?
Selektive Wahrnehmung ist sicher nichts Neues, so merkt man sich eher das Gute und Schöne – Schlittenfahren zu Weihnachten, auch wenn's zehn Jahre davor und danach keinen Schnee gab oder analog für Wärme zu Ostern. Das Problem ist, dass draußen auch im Moment ganz normales Wetter stattfindet, halt etwas unter dem Durchschnitt. Das war früher kein Thema, heute sind Onlinemedien voll und es trifft das Bedürfnis reizunterfluteter Schneeflöckchen-Menschen, etwas Besonderes sein zu wollen. Da spüren sich die Menschen, deren Tage sich nicht zu sehr unterscheiden, wenn sie auf Instagram erzählen können: Die Luft, die ich auf einer Minute zwischen Parkplatz und Penthouse erlebt habe, das war aber REKORD! Wahnsinn. Ich hab mir nicht mal eine Jacke übergezogen. Morgen muss ich womöglich Scheiben kratzen. Halt alle die existentiellen Gefahren, die heute auf unsere jungen Menschen lauern und von denen diese – wir lesen das ja immer auch entsprechend – „überrascht“ werden und den berühmten „Unfällen auf glatter Straße“ zum Opfer fallen. Es stand eben nicht auf der App, was das bedeutet, wenn Schnee auf der Strasse ist.

Vermischen wir auch zu häufig das Thema Klimawandel mit aktuellen Wetter-Realitäten?
Ja, diese Wetterlage ist auch da eine große Chance für alles, was anstrengt. Die einen fragen beim Schnee im März: Das also soll bitte jetzt der Klimawandel sein? Dass Klimawandel nicht bedeutet, dass es automatisch überall immer warm ist, ignorieren sie absichtlich. Die andere Seite nervt nicht weniger: Früher war jede warme Wetterlage Klimawandel, inzwischen ist es alles. Im Kampf der Ignoranz wird immer weiter aufgerüstet. Wir machen die besten Vorhersagen im Netz und denken aber gleichzeitig, dass es fast allen Leuten eigentlich egal sein müsste, wie das Wetter morgen ist.

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