Internationale Abhängigkeiten - Exklusiv für Xing-Leser: Tödliche Verflechtung

Internationale Handelsbeziehungen galten als der beste Garant für Frieden. Denn welche Nation gefährdet schon freiwillig ihren Wohlstand? Der Ukrainekrieg und die Taiwankrise widersprechen dieser These jedoch diametral. Wie konnte es so weit kommen?

Arbeiter verladen Frachtgüter im Handelshafen der chinesischen Stadt Yiwu, 2017 / Davide Monteleone
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Dale C. Copeland ist Professor für Internationale Beziehungen an der University of Virginia und Autor des Buches „Economic Interdependence and War“.

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Im vergangenen Jahr mussten die Vereinigten Staaten ein Szenario in Betracht ziehen, das seit dem Kalten Krieg als praktisch undenkbar galt: einen größeren militärischen Konflikt mit einer anderen Großmacht. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hatte Moskau mit Raketen gedroht, um Washing­ton wegen seiner Unterstützung für die Ukraine zu warnen. Und Anfang August, nach dem Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, in Taiwan, hat Peking seine Drohung mit militärischen Aktionen gegen die Insel drastisch verschärft.

Fast ebenso verblüffend wie die Drohungen selbst sind deren Hinweise auf die Grenzen wirtschaftlicher Interdependenz als friedensstiftende Kraft. Sowohl China als auch Russland sind in außerordentlichem Maße auf den Handel angewiesen, um ihr Wirtschaftswachstum zu steigern und ihre Position auf der Weltbühne zu sichern. China hat es geschafft, sein Bruttoinlandsprodukt in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten zu verfünffachen, und zwar größtenteils durch den Export von Industrieerzeugnissen; mehr als 50 Prozent der russischen Staatseinnahmen wiederum stammen aus dem Export von Öl und Gas. Einer einflussreichen Theorie der internationalen Beziehungen zufolge sollten diese entscheidenden wirtschaftlichen Verbindungen für beide Länder den Preis für militärische Konflikte hochtreiben. Doch zumindest dem Anschein nach übt sich keine der beiden Mächte durch den potenziellen Verlust eines solchen Handels in Zurückhaltung.

Der Handel im Realismus

Das Bild ist jedoch vielschichtiger. Zum einen können Handelsbeziehungen unter bestimmten Umständen eher als Anreiz denn als Abschreckung für einen Krieg dienen. Außerdem geht die Durchsetzung militärischer Macht oder sogar die Androhung einer Konfrontation nicht immer mit einem Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen einher. Wie die Fälle Chinas und Russlands gezeigt haben, entwickeln sich die wirtschaftlichen Beziehungen oft anders als erwartet. Wenn Handel dazu beitragen soll, Konflikte zwischen Großmächten zu verhindern, ist es von entscheidender Bedeutung, die komplexe Art und Weise zu durchdringen, in der wirtschaftliche Kräfte das strategische Denken in Peking und Moskau tatsächlich geprägt haben.

Um zu verstehen, wie der Handel das Risiko eines militärischen Konflikts erhöhen und nicht verringern kann, muss man sich auf die Erkenntnisse der realistischen Theorie stützen. Im Allgemeinen konzentriert sich der Realismus auf das Ringen der Großmächte um ihre relative militärische Macht und Stellung in einer Welt, in der es keine zentrale Autorität gibt, die sie schützt. Realisten sind sich jedoch darüber im Klaren, dass wirtschaftliche Macht die Grundlage für langfristige militärische Stärke und dass der internationale Handel für den Aufbau einer wirtschaftlichen Machtbasis unerlässlich ist.

Für Realisten hat der Handel zwei wichtige mögliche Auswirkungen. Erstens kann er durch den Zugang zu billigen Rohstoffen und profitablen Märkten die allgemeine Wirtschaftsleistung und den technologischen Entwicklungsstand eines Staates verbessern – und damit seine Fähigkeit, eine langfristige militärische Stärke aufzubauen. Dies ist der Vorteil einer relativ offenen Handelspolitik und erklärt, warum Japan nach der Meiji-Restauration und China nach dem Tod von Mao Zedong ihre jeweils gescheiterte Autarkiepolitik hinter sich ließen und den Anschluss an die Weltwirtschaft suchten.

Die Notwendigkeit für Handelsbeziehungen

Der wachsende Handel hat aber noch eine zweite Wirkung. Er erhöht die Anfälligkeit einer Großmacht für Handelssanktionen und Embargos, nachdem sie von der Einfuhr von Ressourcen und der Ausfuhr von Waren zum Verkauf im Ausland abhängig geworden ist. Diese Anfälligkeit kann Staatsoberhäupter dazu veranlassen, Seestreitkräfte zum Schutz von Handelsrouten aufzubauen und sogar in den Krieg zu ziehen, um den Zugang zu lebenswichtigen Waren und Märkten zu sichern.

Solange Staatsoberhäupter davon ausgehen, dass die Handelsbeziehungen auch in Zukunft stark bleiben, werden sie wahrscheinlich zulassen, dass ihr Land bei den Ressourcen und Märkten, die sein Wachstum vorantreiben, zunehmend von Außenstehenden abhängig wird. Dies war die Situation Japans von 1880 bis 1930 und Chinas von 1980 bis zum heutigen Tag. Die Führer beider Staaten wussten, dass sie ohne bedeutende Handelsbeziehungen zu anderen wichtigen Nationen, einschließlich der Vereinigten Staaten, keine ernst zu nehmenden Mitglieder im Klub der Großmächte werden konnten.
 

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Wenn sich jedoch die Erwartungen in Bezug auf den künftigen Handel verschlechtern und die Staats- und Regierungschefs zu der Überzeugung gelangen, dass die Handelsbeschränkungen anderer Staaten ihren Zugang zu wichtigen Ressourcen und Märkten einschränken könnten, dann werden sie langfristig mit einem Rückgang ihrer wirtschaftlichen und damit auch ihrer militärischen Macht rechnen. Sie dürften zu der Überzeugung gelangen, dass eine selbstbewusstere und aggressivere Politik notwendig ist, um die Handelswege zu schützen und die Versorgung mit Rohstoffen und den Zugang zu den Märkten zu sichern.

In dieser Situation befand sich Japan in den 1930er Jahren, als sich Frankreich, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten in zunehmend geschlossene und diskriminierende Wirtschaftsräume zurückzogen. Infolgedessen sah sich die japanische Führung gezwungen, die Kontrolle des Landes über seine Handelsbeziehungen zu den Nachbarländern auszuweiten. Sie erkannte jedoch auch, dass solche Schritte sie nur noch aggressiver erscheinen ließen und dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten neue Gründe lieferten, die japanischen Rohstoffeinfuhren, einschließlich Öl, zu beschränken.

Putins Kalkulation

Heute steht die chinesische Führung vor einem ähnlichen Dilemma – wie die Regierungen fast aller aufstrebenden Staaten der modernen Geschichte. Peking weiß, dass seine Außenpolitik moderat genug sein muss, um das Grundvertrauen zur Fortsetzung der Handelsbeziehungen zu erhalten. Aber es muss auch genügend militärische Stärke zeigen, um andere davon abzuhalten, diese Beziehungen zu kappen. Die realistische Sichtweise der Auswirkungen des Handels auf die Außenpolitik erklärt zu einem großen Teil, warum die chinesische Führung im vergangenen Jahr bestimmten Entwicklungen in Ostasien – vor allem in Bezug auf Taiwan – so ablehnend gegenüberstand. In begrenzterem Maße kann diese Sichtweise auch helfen, die Besessenheit des russischen Präsidenten Wladimir Putin von der Ukraine zu erklären.

Den meisten Berichten zufolge wurde Putins Krieg in der Ukraine von seinen Ängsten um die Sicherheit Russlands angetrieben (angeblich befürchtete er, dass die Ukraine in naher Zukunft der Nato beitreten würde) sowie von seinem Wunsch, als jener Mann in die Geschichte einzugehen, der den Wiederaufbau des russischen Imperiums bewerkstelligt hat. Doch die Entscheidung für die Invasion wurde wahrscheinlich in zweierlei Hinsicht durch etwas anderes verstärkt: die russischen Energieexporte nach Europa.
Erstens hat Putin sicherlich erkannt, dass Europa viel stärker von Russland abhängig war als umgekehrt Russland von Europa.

Vor Februar dieses Jahres bezog die Europäische Union etwa 40 Prozent des Erdgases, das sie für ihre Industrie und zum Heizen ihrer Häuser benötigte, aus Russland. Die russische Wirtschaft war natürlich auf den Verkauf dieses Gases angewiesen. Angesichts der Beschaffenheit des Rohstoffs konnte Putin jedoch davon ausgehen, dass jede erhebliche Verringerung der Erdgaslieferungen zu einem Anstieg des Preises führen würde, was der EU in zweifacher Hinsicht schaden würde – durch ein geringeres Angebot und höhere Kosten –, während sich die Gesamteinnahmen Russlands aus seinen Gasexporten nur geringfügig ändern würden.

Die Reaktion des Westens unterschätzt

Wie der Wirtschaftswissenschaftler Albert Hirschman 1945 unter Bezugnahme auf die einseitigen Beziehungen Deutschlands zu den osteuropäischen Ländern in den 1930er Jahren festgestellt hatte, ist der weniger abhängige Staat in einer Situation asymmetrischer gegenseitiger Abhängigkeit wahrscheinlich zuversichtlich, dass er seine abhängigeren Partner mit Gewalt dazu bringen kann, seine harte Politik zu akzeptieren – einfach, weil sie den Handel brauchen und zu schwach sind, um sich zu widersetzen.

Die Tatsache, dass die Europäer nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 weiterhin in großem Umfang russisches Gas und Öl kauften, ließ Putin vermuten, dass sie sich nicht aufregen würden, wenn er 2022 in die Ukra­ine einmarschierte. Er hat die Heftigkeit der europäischen Reaktion eindeutig unterschätzt. Aber Putins Wissen um die wirtschaftliche Abhängigkeit Europas von Russland in Verbindung mit der allgemeinen Überzeugung, dass Russland die Ukraine in wenigen Wochen mit Leichtigkeit würde besiegen können, gab ihm die Zuversicht, dass sein kühner Angriff gelingt.

Zweitens hatte Putin Grund zu der Befürchtung, dass Russlands wirtschaftlicher Einfluss auf die Ukraine und Europa in Zukunft abnehmen würde. Im Jahr 2010 wurden südlich der ostukrainischen Stadt Charkiw riesige Erdgasvorkommen entdeckt, die sich bis in die Provinzen Donezk und Luhansk erstrecken. Man schätzte, dass das Feld etwa zwei Billionen Kubikmeter Gas enthält – eine Menge, die aktuell dem Gesamtverbrauch der EU mit ihren 27 Ländern in fünf Jahren entspricht. Die ukrainische Regierung änderte rasch die staatlichen Vorschriften, um ausländische Investitionen zu fördern, und unterzeichnete 2013 ein Abkommen mit Shell Oil zur Erschließung des Feldes, wobei Exxon­Mobil und Shell vereinbarten, bei der Tiefsee-Gasförderung vor der Südostküste zusammenzuarbeiten.

„Jetzt oder Nie“

Obwohl Putins Invasion der Krim und des Donbass im Jahr 2014 wahrscheinlich anders motiviert war, war man sich in Moskau zu diesem Zeitpunkt darüber im Klaren, dass die Ukraine im Falle der Erschließung der Erdgasvorkommen in der Ostukraine durch westliche Unternehmen nicht nur ihre Abhängigkeit von russischem Gas beenden, sondern auch damit beginnen würde, ihr eigenes Gas in die EU zu exportieren – wodurch sich ihr Verhandlungsspielraum in Bezug auf ihre Verträge mit Moskau über die Durchleitung von russischem Gas durch die Ukraine erhöhen würde.

Von den drei Pipelines, über die Russland sein sibirisches Gas in die EU transportiert (darunter eine durch Weißrussland und eine weitere durch die Ostsee nach Deutschland), ist die durch die Ukraine verlaufende Pipeline historisch gesehen die wichtigste, vor allem weil europäische Binnenländer wie Ungarn und die Slowakei besonders abhängig von russischem Gas sind. Würde die Ukraine ihr eigenes Gas in die EU exportieren und sich von russischen Lieferungen lösen, würde sie ihre asymmetrischen Energiebeziehungen zu Moskau umkehren. Und würde Kiew auch nur informelle Beziehungen zur Nato und zur EU aufbauen, geschweige denn einer oder beiden Organisationen beitreten, würde die Ukraine nicht nur zu einer politischen Bedrohung für Moskau werden, sondern könnte womöglich sogar Russlands langfristige Wirtschaftskraft erheblich untergraben.

Kurz gesagt: Obwohl die Schritte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Ende 2021, mit denen er die politischen und wirtschaftlichen Bindungen seines Landes an den Westen verstärken wollte, sicherlich Putins Vorstellung von Russlands Schicksal erschütterten und vielleicht seine Befürchtung verstärkten, dass sich die liberale Demokratie in Russland ausbreiten könnte, deuteten sie auch auf einen erheblichen Verlust von Russlands künftiger Fähigkeit hin, die Energiekarte auszuspielen. Die Erwartung in Moskau, dass Russland seinen wirtschaftlichen Einfluss auf die Ukraine verlieren könnte, trug somit zu Putins Gefühl bei, dass „jetzt oder nie“ der größte Teil der Ukraine östlich des Dnjepr übernommen werden müsse – ein Gebiet, in dem sich mehr als 90 Prozent der ukrainischen Erdgasreserven befinden.

China wäre durch Sanktionen am Boden

Im Gegensatz dazu ist Chinas wirtschaftliche Verflechtung mit dem Rest der Welt weitaus symmetrischer als die Russlands. Chinas Wirtschaft wird durch den Export von Industriegütern angetrieben, und ähnlich wie Japans Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit ist China in hohem Maße von der Einfuhr von Rohstoffen abhängig, um seine Wirtschaft am Laufen zu halten – einschließlich Öl und Gas aus dem Nahen Osten und Russland. 

Chinas Position als „Werkstatt der Welt“, die global einen erheblichen Anteil aller Laptops, Smartphones und 5G-Kommunikationssysteme produziert, verleiht dem Land einen gewissen Einfluss auf seine Handelspartner. Es kann diesen Partnern mit selektiven Ausfuhr- und Einfuhrbeschränkungen drohen, wenn ihm deren Außenpolitik nicht gefällt. Aber ähnlich wie Japans Abhängigkeit von Importen in der Zwischenkriegszeit führt Chinas Abhängigkeit zu kurzfristigen Anfälligkeiten, wie man sie so in Russland nicht kennt. Moskau kann sicherlich durch Wirtschaftssanktionen getroffen werden, aber seine Fähigkeit, Öl und Gas zu verkaufen – zu hohen Preisen, die durch seine eigenen Aktionen in der Ukraine entstanden sind –, federt den Schlag ziemlich gut ab.

Sähe sich China auch nur annähernd mit derartig umfassenden Sanktionen konfrontiert, wie sie jetzt gegen Russland verhängt wurden, läge die chinesische Wirtschaft völlig am Boden. Tatsächlich wirkt Pekings Wissen um diese Verwundbarkeit bereits als wichtige Abschreckung für seine Expansionsbestrebungen, einschließlich seiner Pläne für eine Invasion Taiwans. Man bedenke die konkreten Einzelheiten der chinesischen Reaktion auf Pelosis Besuch in Taiwan, trotz der Drohungen, die es zuvor ausgesprochen hatte. Obwohl Peking seinen Zorn mit robusten Militärübungen und Raketen, die in den taiwanischen Luftraum eindrangen, zum Ausdruck brachte, beschränkte es seine wirtschaftliche Reaktion weitgehend auf Sanktionen gegen taiwanische Agrarexporte. Insbesondere vermieden chinesische Beamte sorgfältig jegliche Beschränkung der taiwanischen Halbleiterexporte, da China für mehr als 90 Prozent seiner Hightech-Chips und einen großen Teil seiner Low-Level-Chips von Taiwan abhängig ist.

Auf die Haltung Washingtons kommt es an

Und natürlich hat China darauf geachtet, die Vereinigten Staaten nicht direkt zu sanktionieren, da es befürchtete, einen neuen Handelskrieg auszulösen, der die ohnehin schon schwächelnde chinesische Wirtschaft noch weiter belasten würde.
Nichtsdestotrotz könnte Chinas wirtschaftliche Abhängigkeit zu aggressiven Maßnahmen führen, sollten die chinesischen Erwartungen an den künftigen Handel einbrechen.

Nehmen wir den Fall der taiwanischen Hightech-Halbleiter. China ist inzwischen in der Lage, Chips mit Transistoren zu produzieren, die weniger als 15 und sogar weniger als zehn Nanometer groß sind. Doch um bei den technologischen Entwicklungen in den Bereichen künstliche Intelligenz, selbstfahrende Fahrzeuge und Smartphone-Produktion an der Spitze zu bleiben, braucht es Chips mit einer Größe von unter sieben oder unter fünf Nanometern, die nur Taiwan in hoher Qualität in Massenproduktion herstellen kann. Das neueste Apple-iPhone zum Beispiel wird zwar in China zusammengebaut, verwendet aber einen von Apple entwickelten Fünf-Nanometer-Chip, der von der Taiwan Semiconductor Manufacturing Company hergestellt wird.

Chinas Fähigkeit, zu den Vereinigten Staaten aufzuschließen, hängt weitgehend von einem kontinuierlichen Zugang zu taiwanischen Chips ab – so wie Japans Position in den 1930er Jahren vom Zugang zu Öl abhing, das von den Amerikanern und Briten kontrolliert wurde. Und genau wie 1941, als die Amerikaner ein Ölembargo gegen Japan verhängten, könnte Peking zu dem Schluss kommen, dass es notwendig ist, die Insel jetzt einzunehmen, um einen langfristigen wirtschaftlichen Niedergang zu vermeiden. Zumal Peking fürchtet, dass die Vereinigten Staaten Maßnahmen ergreifen könnten, um den chinesischen Zugang zu taiwanischen Chips zu unterbinden. Dies ist übrigens kein abwegiges Szenario: Im Juni 2022 erklärte ein prominenter chinesischer Wirtschaftswissenschaftler, dass China in Taiwan einmarschieren sollte, um sich den Besitz seiner Chip-Produktionsanlagen zu sichern, falls Washington ähnliche Sanktionen gegen China verhängen würde wie in diesem Jahr gegen Russland.

Aber es gibt auch gute Nachrichten: Die chinesischen Erwartungen für den zukünftigen Handel sind (wie die japanischen Erwartungen im Jahr 1941) eine Funktion der politischen Entscheidungen Washingtons. Wenn US-Beamten klar ist, dass ihre Politik direkt die Art und Weise beeinflusst, wie Peking das künftige Handelsumfeld sieht – und zwar nicht nur im allgemeinen Warenaustausch, sondern auch im Hightech-Handel in Bezug auf Taiwan –, können sie vermeiden, dass die chinesische Staatsführung sich zu militärischen Schritten gezwungen sieht, um die heimische Wirtschaft zu retten. Indem die Amerikaner Peking zusichern, dass China weiterhin Halbleiter aus Taiwan beziehen kann (wenn auch nicht die hochentwickelten Maschinen aus den Niederlanden, die zu ihrer Herstellung benötigt werden), kann die Regierung Biden die Bedenken Pekings hinsichtlich des künftigen Handels abschwächen und die Wahrscheinlichkeit von Krisen und Kriegen verringern.

Interessen durch Abhängigkeiten

Der chinesische Präsident Xi Jinping und seine Gefolgsleute werden natürlich gegen diese Haltung der Vereinigten Staaten Einspruch erheben, da sie China bei den Chips, die die Grundlage sowohl einer modernen Hightech-Wirtschaft als auch einer Militärmacht sind, von Außenstehenden abhängig machen. Weil ein Angriff auf Taiwan jedoch nicht nur Wirtschaftssanktionen nach sich zöge, die Chinas Handelsbeziehungen mit der westlichen Welt gefährden würden, sondern auch zu einer unbeabsichtigten Zerstörung der Chip-Fabriken selbst führen könnte, hat China mit Blick auf Taiwan allen Grund zur Mäßigung.

Putin mag geglaubt haben, der Westen würde angesichts der Abhängigkeit Europas von russischem Öl und Gas in der Ukraine einknicken. Aber die chinesische Führung weiß jetzt, dass die Amerikaner, die Europäer und ihre globalen Partner entschlossen sind, Eindringlinge zu bestrafen, und dass sie mit einem Angriff auf Taiwan alles zerstören könnte, was die Kommunistische Partei Chinas in den zurückliegenden vier Jahrzehnten erreicht hat. Die Geschichte zeigt, dass abhängige Großmächte in ihrer Außenpolitik vorsichtig sind, wenn ihre Führer positive Erwartungen in Bezug auf den künftigen Handel hegen. Denn sie wissen, dass der Handel dazu beiträgt, die langfristige Machtbasis des Staates zu verbessern und den Wohlstand der Bürger zu erhöhen. Und Xi braucht beides, wenn er die Legitimität der Einparteienherrschaft in China und die Stabilität des Staates selbst erhalten will.

Wenn Großmächte versuchen, wirtschaftliche Verflechtungen um des Friedens willen zu nutzen, stehen sie vor einem schwierigen Balanceakt. Es reicht nicht aus, einfach nur über ein hohes Handelsvolumen zu verfügen, weil abhängige Staaten wie Japan in den 1930er Jahren und das China von heute zu einer aggressiveren Politik gedrängt werden können, wenn sie fürchten müssen, bald keinen ausreichenden Zugang zu Rohstoffen und Märkten mehr zu haben. Weniger abhängige Staaten wie die Vereinigten Staaten hingegen müssen darauf achten, dass sie nicht den Eindruck erwecken, einen abhängigen Staat am Boden zu halten oder in den Niedergang treiben zu wollen – so wie Präsident Franklin Roosevelt mit seinem Ölembargo 1941 gegenüber Japan. Gleichzeitig kann eine offene Handelspolitik auch problematisch sein, wenn auf ihrer Grundlage abhängige Staaten mächtiger und auf lange Sicht womöglich zu einer Bedrohung werden (wie es der Sichtweise von Barack Obama bis Joe Biden im Hinblick auf China entsprach).

Die Eskalation ist vermeidbar

Ein besserer Ansatz wäre es, aufstrebende Mächte wie China dazu zu drängen, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, indem sie Praktiken wie Währungsmanipulation, Subventionen und die illegale Aneignung ausländischer Technologie beenden – und diesen Staaten gleichzeitig versichern, dass sie unter der Voraussetzung maßvoller Außenpolitik den Zugang zu allen Ressourcen und Märkten behalten, die für wirtschaftliches Wachstum und innere Stabilität nötig sind. Großmächte müssen sich um Handelsbeziehungen bemühen, die es den kleineren Staaten ermöglichen, in absoluten Zahlen zu wachsen – und gleichzeitig sicherstellen, dass keine der beiden Seiten in Zukunft einen erheblichen Rückgang ihrer relativen Wirtschaftskraft fürchten muss, der sie anfällig für Bedrohungen von außen oder für zivile Unruhen macht.

Angesichts der aktuellen Spannungen um Taiwan, die durch Xis fortgesetzte Annäherung an Putin noch verschärft werden, könnte dies schwierig werden. Aber da die Großmächte-Diplomatie wieder ausgeglichener ist, kann Washington darauf hinwirken, Peking daran zu erinnern, dass es die Vereinigten Staaten und die westlichen Partner braucht, um seine eigenen wirtschaftlichen Ziele zu erreichen. Und daran, dass Washington Chinas Abhängigkeit nicht ausnutzen wird, um diese Ziele zu untergraben. Biden kann Xi versichern, dass die Lektion von 1941 (wonach die düsteren Erwartungen eines Staates hinsichtlich künftigen Handels zu einem Krieg führen können) auf amerikanischer Seite gelernt wurde. Aber er kann Peking auch empfehlen, aus den Fehlern Japans in den 1930er Jahren zu lernen und auf aggressive Politik zu verzichten, die internationales Vertrauen – und damit gesunde Handelsbeziehungen – zerstört.

Wenn es den Verantwortlichen in Washington und Peking gelingt, die gegenseitigen Erwartungen mit Blick auf künftige Handelsbeziehungen zu verbessern, sollten Szenarien wie in der Ukraine eigentlich vermieden werden können. 

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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