
- Und er kann es doch
Auch Martin Schulz hat sich den Fragen der jungen Internetgemeinde gestellt. Anders als Angela Merkel erntete er dafür viel Lob. Denn er schaffte es, sich gleichzeitig als Staatsmann wie auch als Privatperson zu inszenieren und auf sein Gegenüber einzugehen
„Muss ich das jetzt wirklich sagen? Da schäme ich mich ein bisschen.“ Martin Schulz zieht die Mundwinkel zurück, die Moderatorin kichert nervös. Statt seiner größten Jugendsünde erzählt Martin Schulz dann lieber die zweitschlimmste. Wie er in einer durchzechten Nacht in ein Schwimmbad eingebrochen ist, Waschpulver in das Becken gekippt hat und danach vor der Polizei fliehen musste. Der SPD-Kanzlerkandidat durfte jetzt auch das Format des Youtube-Interviews für sich nutzen – und schnitt deutlich besser ab als Angela Merkel. Schulz gab sich nahbar, antwortete konkret auf Zukunftsfragen und bereitete sich perfekt auf seine Zielgruppe vor.
Großvater Schulz
Vor drei Wochen hatte sich bereits Angela Merkel der Internetgemeinde gestellt. Im Gegensatz zu Schulz wirkte sie jedoch steif, hatte kein Verständnis für die jungen Wähler, sagte sogar einer Interviewerin, dass sie doch froh sein solle, Abitur in Bayern gemacht zu haben. Sie nahm die Youtuber regelrecht auseinander. Damit machte sich Merkel bei vielen jungen Zuschauern unbeliebt.
Ganz anders Martin Schulz. Auf großväterliche Art nutzte er Formen des „Storytellings“ für sich, verpackte seine Politik in anschauliche Geschichten. Er sprach über seine Frau und ihre Wellensittiche, schnitt seine Alkoholsucht an und lachte über Jugendsünden. Selbst Anglizismen wie „feeling“ griff er auf und passte sich damit auch sprachlich an die Youtuber an, die ihrerseits ständig auf ihre „Community“ verwiesen. Das machte er so charmant, dass beinahe unterging, wie er die Interviewer mehr als ein Mal in ihren Fragen zurechtwies.
Themenschwerpunkte am Publikum ausgerichtet
Zwei der Interviewer waren dieselben wie beim Merkel-Interview: Lisa Sophie alias „ItsColeslaw“ und Mirko Drotschmann alias „MrWissen2go“. Beide sind Journalisten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und veröffentlichen auf ihren Kanälen überwiegend Erklärvideos. Neu dazugekommen sind „Nihan“, die größtenteils über Beautyartikel und Persönliches spricht und „Marcel Scorpion“, der Gamervideos und diverses anderes produziert. Der war sich nicht mal zu schade, sein Interview mit Schulz für Werbung für sein Buch zu nutzen. Zusammen haben sie circa 2,75 Millionen Abonnenten auf Youtube. Neu war dieses Mal, dass während des Interviews parallel Fragen auf Twitter gestellt werden konnten, die dann direkt eingeflossen sind. So wurden mit Youtube und Twitter zwei Social-Media-Plattformen für noch mehr Aufmerksamkeit genutzt.
Jeder der vier Youtuber setzte seine eigenen Themenschwerpunkte und hatte circa zehn Minuten Zeit für das Interview mit Schulz. Diese Schwerpunkte waren nah an der Lebensrealität der Youtuber. So macht Nihan Integration und Flüchtlinge zum Oberthema. Ihre Großeltern waren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Ihre Großmutter könne immer noch kein Deutsch, sie selbst werde nicht als komplette Deutsche angesehen. Mirko Drotschmann sprach mit Schulz über soziale Gerechtigkeit und deutsche Außenpolitik. Marcel Scorpion machte den Breitbandausbau und Digitalisierung zum Schwerpunkt und Lisa Sophie fragte zum Thema Bildung und Tierschutz.
Der erfahrene Staatsmann
Schulz universelle Antwort lautete: Investitionen. Geld dafür sei da, den Haushaltsüberschüssen sei Dank. Die Interviewer wirkten zwar um einiges entspannter als beim vergangenen Mal, verpassten es aber auch hier härter nachzuhaken. Obwohl sie es versucht haben. Denn die soziale Ungerechtigkeiten in Deutschland trage die SPD als Teil der Regierung ja wohl mit, wirft Drotschmann in seinem Interview ein. Sie seien ja nur Juniorpartner gewesen, entgegnet Schulz. Aber die SPD stelle doch die Arbeitsministerin, bohrt Drotschmann nach. Schulz ist sich sicher, dass es mit ihm als Kanzler trotzdem anders laufen würde. Danach bezieht Schulz Stellung gegen Trump und Putin, sagt aber, dass es so leicht trotzdem nicht sei. Einzig bei Erdogan bleibt er bei seiner Position der klaren Kante. Das gleiche gilt für Fremdenhass: „Da kriege ich die Krise. Und die AfD schürt das ja.“
Er inszeniert sich als den erfahrenen Staatsmann und verweist mehrmals auf seine Vergangenheit im EU-Parlament. So kann er die Fragen nach den aktuellen Milch- und Butterpreisen fehlerfrei aufsagen, weil er sich auf europäischer Ebene für die Milchbauern eingesetzt habe. Ansonsten kommen ihm die vielen persönlichen Fragen zu Gute. Er kann erzählen, wie er seine Frau kennengelernt hat und sie sich gemeinsam seit Jahrzehnten für Nachhaltigkeit einsetzen. Im Zusammenhang mit seiner Alkoholsucht erzählt er, dass es wichtig sei, sich niemals aufzugeben. Ein Mantra, dass die junge Generation gerne unter ihre Instagram-Bilder schreibt. Auch der Frage nach der Cannabis-Legalisierung stehe er aufgrund seiner Vergangenheit zwar skeptisch gegenüber, er würde die Abstimmung allerdings frei geben.
Vorhersehbare Antworten
Beinah schien es, als habe Schulz Antworte auf jedes Problem. Die Gamingbranche und E-Sports erklärt er zum Zukunftsgeschäft, Massentierhaltung verdammt er. Andererseits: Was soll er auch sagen? Dass er gerne mehr Tiere auf einem Quadratmeter stehen hätte? So blieben die Fragen manchmal zu brav und vorhersehbar. Inhaltlich war nichts Neues zu erfahren. Die Themenauswahl aber war sehr nah an den Interessen der jungen Wähler. Auch dank Schulz persönlicher Anekdoten konnte er davon einige für sich gewinnen. Twitter war danach jedenfalls voll des Lobes für ihn – und die Fragesteller. Um die SPD ging es in der Veranstaltung eher marginal, in der Unterhaltung inszenierte er sich allein. Damit entsprach er wieder dem jungen Publikum, das das alltäglich lebt. Nach der Veranstaltung postete Schulz ein Selfie von den fünf mit der Nachricht: „Formate mit 4 Interviewern können doch aufgehen. Hat Spaß gemacht. Aber bitte: Macht das mit dem Waschpulver nicht zu Hause nach! #DeineWahl“