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Deutsche Presse schweigt - Wusste der BND vom Terror in Frankreich?

Es ist eine ungeheuerliche These: Mit Wissen und Billigung des Bundesnachrichtendienstes sollen in Frankreich Ende der 50er Jahre Hunderte Menschen getötet worden sein. Die französische Presse läuft heiß, während in Deutschland nichts davon zu lesen ist. Warum eigentlich?  

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Es ist eine Geschichte, die eigentlich zu unglaublich klingt, als dass sie wahr wäre. Und doch ist es eine Geschichte, die im Moment den Bundestag, den Bundesnachrichtendienst und die französische Presselandschaft beschäftigt. In Deutschland ist sie bislang mit keiner Zeile erwähnt worden – und deshalb ist das Ganze auch eine medienkritische Geschichte.

Aber fangen wir ganz vorne an.

Ausgangspunkt ist der Staudamm von Malpasset im Département Var, ganz im Süden Frankreichs. 1959 war er einer der modernsten seiner Zeit. Keine fünf Jahre alt. Doch dann geschah eine Katastrophe, die bis heute als eine der schwersten in der jüngeren französischen Geschichte gilt: Der Damm brach. Eine 40 Meter hohe Flutwelle ergoss sich übers Tal, begrub das Städtchen Fréjus, spülte Bäume und Häuser hinfort. Mehr als 400 Menschen starben.

Ein verheerender, aber längst vergessener Unfall.

Oder doch nicht?

Eine arte-Dokumentation vom 22. Januar, die sich eigentlich um die deutsch-französische Annäherung dreht, hat jetzt, geradezu in einem Nebensatz, eine ungeheuerliche These verbreitet: Demnach sei die Ursache der Katastrophe kein Baumangel, sondern ein Anschlag algerischer Terroristen. Akteure der Nationalen Befreiungsfront FLN hätten den Damm gesprengt. Frankreich war zu dieser Zeit in einen Krieg mit seiner Kolonie verwickelt.

[video:WDR/arte-Film: Der steinige Weg zur Freundschaft]

Als Beweis für die These sollen ausgerechnet hochbrisante Geheimdienst-Unterlagen herhalten. Der Bundesnachrichtendienst habe nicht nur Kontakt zu den algerischen Terroristen, sondern auch Kenntnis von den Anschlagsplänen gehabt. „Bis heute ist unbekannt und unklar, warum der deutsche Geheimdienst sein Wissen für sich behält und Hunderte Tote in Kauf nimmt“, heißt es in dem Film.

Der BND wurde über Pläne algerischer Terroristen informiert, einen Staudamm in Frankreich zu sprengen – und verrät den Franzosen kein Wort? Eine ungeheure Unterstellung. Und sie nimmt nicht einmal eine Minute der fast einstündigen Dokumentation ein.

In Frankreich rumort es gewaltig; der Film sticht in eine Wunde. Der Algerienkrieg ist ein Stück Geschichte, das bis heute nicht richtig aufgearbeitet wurde. „Schwer zu glauben“, befindet der nationale Sender France Info; die Zeitung Le Monde widmet der Anschlags-Geschichte gar eine Doppelseite. Wortgewaltige Kritiker werden zitiert. Frankreich will Beweise.

Arte gibt den Druck weiter an den Westdeutschen Rundfunk, wo die Dokumentation ursprünglich produziert wurde. Die Intendanten, die Programmverantwortlichen, die Redaktion: alle sind ratlos, verweisen auf die beiden Filmautoren Peter F. Müller und Michael Müller. Die reichen eine ausführliche Stellungnahme ein. Und ihre Beweise wiegen schwer.

Sie stützen sich auf Aussagen des 1989 verstorbenen Top-Agenten Richard Christmann. In einer persönlichen Akte aus den Jahren 1959/61, die Cicero Online vorliegt, gibt er eine detaillierte Übersicht über die Sabotageaktionen der FLN: Herstellung von Molotow-Cocktails, Anschläge auf Raffinerien, Zerstörung von Trinkwasseranlagen. Unter Punkt 3 findet sich auf der Liste die Notiz: „Sprengung von Staudämmen mittels pressluftgetriebener Sprengsätze, evtl. auch ferngesteuert.“ Und weiter unten dazu: „[N]achdem ein Anschlag auf eine kleine Talsperre in Südfrankreich nur einen Teilerfolg hatte, aber viele Menschenleben forderte, wurden alle Terrormaßnahmen auf Befehl der Gruppe (…) gestoppt.“ Über all das habe er den deutschen Geheimdienst informiert, heißt es an anderer Stelle: „B.N.D. wurde über die Vorbereitungen, Pläne usw. stets vorab unterrichtet“.

Seite 2: Die Stasi wusste, dass Christmanns Sprengstoffexperten sucht

Eine zweite Quelle, die Christmanns Tätigkeiten in Algerien bestätigt, stammt aus den Akten der Stasi-Unterlagenbehörde. Cicero Online liegt dieses Dokument exklusiv vor (Seite 1 und Seite 2). Dort heißt es: „Es besteht kein Zweifel mehr, daß Christmann für die Freiheitsarmee in Algerien deutsche Sprengstoffausbilder sucht. Er hat dies offen (…) gegenüber [einem Stasi-Mitarbeiter, die Red.] zugegeben und ihn erneut gebeten, bei der Suche nach derartigen Fachleuten behilflich zu sein.“

Der deutsche Geheimdienstforscher Erich Schmidt-Eenboom befasste sich zwei Jahre lang mit Richard Christmann, reiste dafür mehrmals in die National Archives in New York. „Wir haben einige Aussagen und Memoiren, die Christmann zwischen 1950 und 1961 getätigt hat, übergeprüft“, sagt Schmidt-Eenboom zu Cicero Online. „Bei den Gegenrecherchen in Protokollen und Interviews der CIA waren seine Berichte zu 100 Prozent deckungsgleich.“ Er ist sich sicher, dass auch die Meldung Christmanns zum Staudamm korrekt ist. „Die Aktenlage ist eindeutig.“

[gallery:Die Algerien-Berichte des Geheimdienstlers Richard Christmann]

Schmidt-Eenboom, der im Film zitiert wird, veröffentlichte seine Erkenntnisse bereits Ende 2011. Gemeinsam mit dem Forscher Matthias Ritzi erschien das Buch: „Im Schatten des Dritten Reiches – Der BND und sein Agent Richard Christmann“. In Frankreich nahm davon niemand Notiz, kein Medienrummel, nichts. Die Dissertation verpuffte einfach.

Erst der arte-Beitrag katapultierte das Thema ins Zentrum der – französischen – Debatte. Und brachte neue Erkenntnisse zutage: Etwa, dass der französische Inlandsnachrichtendienst seinerzeit durchaus Anhaltspunkte für ein Attentat hatte. Die Behörde ließ sogar in den Stasi-Archiven suchen, sagte der frühere stellvertretende Direktor der Behörde der Zeitung „Monacomatin“. Allerdings habe man nichts über den Malpasset-Staudamm gefunden, weshalb der Geheimdienstler die These bezweifelte. Die Informationen, die seinerzeit aus Deutschland kamen, seien „wenig zuverlässig“ gewesen, klagte der Ex-Agent.

Vorwürfe, Spekulationen, Anschuldigungen: Und nichts davon war im deutschsprachigen Raum zu lesen. Weder die arte-Autoren noch Geheimdienstforscher Schmidt-Eenboom wurden bislang von irgendeinem deutschen Journalisten zu der Sache befragt. Vom WDR heißt es, es sei bislang nicht angedacht, einen weiteren Film zu drehen.

Dabei hätte die Meldung einer Verwicklung eines deutschen Geheimdienstes in einen tödlichen Anschlag durchaus Nachrichtenwert. Oder überwogen doch die Zweifel bei den Journalisten? Ist die Sache zu lange her?

Fakt ist: Die wichtigste Quelle in der Geschichte – Christmanns Nachlass, auf den sich Forscher, Buch- und Filmautoren stützen – könnte sich immer noch getäuscht haben. Der Agent könnte 1959 Falschinformationen erhalten haben. Oder er wollte sich gegenüber den BND-Leuten in Pullach wichtig machen. Die Anschlagsthese könnte nur von den damals Beteiligten zweifelsfrei bestätigt oder falsifiziert werden: von noch lebenden ehemaligen FLN-Kadern – oder vom Bundesnachrichtendienst.

Der BND äußerte sich auf Cicero-Online-Anfrage nicht. Auch von der Bundesregierung: keine Reaktion. Dafür interessiert sich schon die Opposition dafür: Im Bundestag werden parlamentarische Anfragen vorbereitet. So will Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele wissen, welche Maßnahmen die Bundesregierung „angesichts der möglichen Beeinträchtigung der deutsch-französischen Beziehungen“ nun treffen werde.

Arte-Autor Peter F. Müller sagt: „Überlegen Sie sich doch mal, wer ein Interesse an der Aufarbeitung dieser Geschichte haben könnte. Algerien sicher nicht, denn die Beziehungen mit Frankreich sind im Keller.“ Die französische Regierung habe bereits vor 53 Jahren den „Deckel drauf“ machen wollen. Und der BND? „Hätte der denn Interesse, Schuld auf sich zu laden?“, fragt Müller.

Ein bisschen mehr Mediendruck würde der Wahrheitsfindung sicherlich nicht abträglich sein.

Update vom 22. Februar: Die Verwicklungen des Bundesnachrichtendienstes in einen möglichen Staudamm-Anschlag in Südfrankreich beschäftigen jetzt die Wissenschaft.

Die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Frühgeschichte des BND (UHK) habe sich bereit erklärt, dem Thema nachgehen zu wollen. Das teilte Kanzleramtschef Ronald Pofalla auf die schriftliche Anfrage des Grünen-Abgeordneten Hans-Christian Ströbele mit, die Cicero Online exklusiv vorliegt. Die Wissenschaflter sollen jetzt die noch nicht erschlossenen Akten des Nachrichtendienstes untersuchen. Eine Recherche in den bereits zugänglichen Altunterlagen hatte keine Beweise dafür ergeben, dass der BND Kenntnis von den Attacken der FLN hatte. Die deutsch-französischen Beziehungen seien von dem Vorfall nicht berührt, stellte Pofalla klar.

Unterdessen plant die französische Stadt Fréjus, eine Untersuchung der Katastrophe von 1959 einzuleiten.

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