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Wolfgang Schäuble 2007 zur Rente: - Mit 67 ist noch lange nicht Schluss!

Wie sich die Zeiten ändern: 2007 fand Wolfgang Schäuble – damals Innenminister der Großen Koalition –, die Menschen müssten sogar noch länger arbeiten als bis 67. Im Magazin Cicero warnte Schäuble vor einem Kollaps der Sozialsysteme. Heute verteidigt der Finanzminister die schwarz-rote Rente mit 63

Autoreninfo

Wolfgang Schäuble ist seit 2009 Bundesfinanzminister. Zuvor war er Bundesinnenminister und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Außen-, Sicherheits- und Europapolitik.

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Cicero Klassiker: Zum zehnjährigen Jubiläum präsentieren wir Ihnen zehn großartige und zeitlose Texte aus zehn Jahren. Dieser Schäuble-Gastbeitrag erschien im Januar 2007.

Die Verlängerung der Lebenszeit ist ja eigentlich eine erfreuliche Entwicklung, denn die Alternative zum Älterwerden ist es, jung zu sterben. Das wird von den meisten auch nicht vorgezogen. Der Rückgang der Geburten ist wiederum eine Entwicklung, die man ändern, beeinflussen und auch politisch streitig stellen kann, wenn man will. Demografische Veränderungen sind langfristige Entwicklungen, die in viele Bereiche des Lebens mit oft unabsehbaren Konsequenzen hineinwirken. Insofern sind sie mit Klimaveränderungen zu vergleichen. Tatsächlich scheint mir der Umgang mit dem Phänomen des demografischen Wandels exemplarisch zu sein für die generellen Schwierigkeiten, die wir in unserem Lande haben, wenn es darum geht, auf Veränderungen zu reagieren. Wenn wir diese Herausforderung bewältigen wollen, müssen wir die Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft von Staat und Gesellschaft an grundlegende Veränderungen verbessern.

Das ist dann nicht nur eine Frage der Anpassung von Organisationsstrukturen und Verfahren. Es geht insbesondere um die Einstellung von uns Bürgerinnen und Bürgern zu solchen Veränderungsprozessen. Denn ohne unsere Zustimmung, ohne unsere Bereitschaft, solche Veränderungen nicht nur als Bedrohung, sondern als Chance zu erkennen, besitzt politisches Handeln in einer Demokratie keine Basis.

Die Politik und die Politiker müssen deshalb besser lernen, die Notwendigkeit von Veränderungen als Selbstverständlichkeit zu verstehen und zu vermitteln, anstatt sie immer als Bedrohung darzustellen. Politik muss bewusst machen, dass Veränderungen nicht krisenhafte und bedrohliche Ausnahmesituation, sondern in Wahrheit der Normalfall des Lebens sind. Dies gilt umso mehr, als unsere Gesellschaft immer komplexer und vielschichtiger wird – mit dem Ergebnis, dass die Veränderungen zunehmen und sich auch schneller vollziehen.

Max Webers Verdikt, wonach Politik verstanden werden sollte als ein „starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“, gilt unter den Gesetzen der Mediendemokratie für politische Führung wie politische Gefolgschaft gleichermaßen. Lösungen brauchen Zeit, dauern lange und erfordern Augenmaß. Sie sind harte Bretter und bedingen Leidenschaft auch in dem Sinne, dass man das Leiden bei der Betrachtung des Zustandekommens von Lösungen ertragen muss. Dabei gilt auch Karl Poppers Erkenntnis, dass alles Leben letztlich Problemlösen ist und dass dieses Problemlösen stets von der Methodik des trial and error begleitet und geprägt ist. Das müssen wir immer wieder betonen, wenn wir verhindern wollen, dass eine Mehrheit der Mitbürgerinnen und Mitbürger wachsende Zweifel an der Demokratie empfindet.

Im Alter topfit: Grauhaarige laufen noch den Berlin-Marathon


Der demografische Wandel und die Bewältigung seiner Folgen könnten insofern zu einem Musterbeispiel für politische Führung werden. Deshalb ist es wichtig, die auf uns zukommenden Veränderungen nüchtern zu beschreiben und sie als etwas Normales und Notwendiges darzustellen. Wir müssen der Verunsicherung der Bürger durch eine klare Zukunftsperspektive entgegenwirken, indem wir Handlungsmöglichkeiten, Auswirkungen und Alternativen überzeugend darlegen und auch die Dauer und zeitliche Abfolge der notwendigen Anpassungen präzise beschreiben. Aber das Allerwichtigste ist, dass wir diese Veränderungen nicht in erster Linie als Bedrohung empfinden und beschreiben, sondern eher als eine Chance.

In den meisten OECD-Ländern steigt die Lebenserwartung eines Neugeborenen seit 150 Jahren im Durchschnitt um drei Monate pro Jahr. Mit anderen Worten: alle vierzig Jahre wurde ein neugeborener Mensch im Durchschnitt zehn Jahre älter als zuvor. Wir leben also länger. Und es gibt dafür vor allem zwei Ursachen: Die Menschen leben gesünder, und die Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit ist deutlich zurückgegangen. Um 1900 starben in Deutschland noch 20 Prozent aller Lebendgeborenen in den ersten fünf Jahren. Heute sind es mit 0,5 Prozent immer noch zu viele, aber eben doch nur ein Bruchteil.

Aufgrund dieser Entwicklung sollte sich unsere Definition davon, was alt ist, nach oben bewegen. Wenn man sich die Zahl der Grauhaarigen anschaut, die zuletzt beim Berlin-Marathon erfolgreich und zum Teil mit Zeiten um die drei Stunden teilgenommen haben, dann verbirgt sich dahinter, dass die meisten von uns mit 50, 60 oder auch 67 Jahren sehr viel jünger im Kopf, im Geist und auch im Bezug auf ihre körperliche Leistungsfähigkeit sind, als es noch vor wenigen Jahren der Fall gewesen ist.

Das, was Altsein bedeutet, schiebt sich zeitlich also ein ganzes Stück weit nach hinten. Es wird wichtig sein, dass wir das als Glück empfinden und in einem nächsten Schritt dieses Glück in die Alltagswirklichkeit umsetzen. Es ist ja nicht so, dass die Menschen nicht bis ins Alter von 80 Jahren und darüber hinaus noch hochleistungsfähig wären. An Adenauer, Churchill, dem verstorbenen oder auch dem jetzigen Papst sieht man, dass man bis ins hohe Alter noch sehr leistungsfähig sein kann.

Längere Lebenszeit erleichtert auch die Weitergabe historischer Erfahrungen und kultureller Vorstellungen an die nachwachsende Generation. Da wir heute vielfältige Probleme haben, ist die Weitergabe von generationellen Erfahrungen des Erfolges und des Scheiterns – also Wertevermittlung und Erziehung, auch in Konkurrenz zu modernen Kommunikationssystemen – umso wichtiger. Die Tatsache, dass wir an Lebenszeit gewinnen, ist damit eine Chance, unsere Werte, Erfahrungen und unsere kulturellen Vorstellungen verstärkt weiterzugeben und damit den gesamtgesellschaftlichen Lernprozess zu erleichtern, zu dem auch Fehler und ihre Korrektur gehören. Die ältere Generation ist ein wichtiger Teil des Humankapitals, von dem unsere, von dem jede Gesellschaft lebt. Und um dies besser nutzen zu können, müssen wir das Denken in historischen Zusammenhängen und auch in Generationen individuell wie gesellschaftlich stärken.

Wer wegen der Tatsache, dass die Menschen länger leben, in Alarmismus ausbricht oder Untergangsprophezeiungen verbreitet, der übersieht, dass die steigende Lebenserwartung das gewollte Ergebnis menschlichen Handelns, also eine kulturelle Leistung ist. Alles menschliche Tun – Erziehung, Medizin, Produktion, Verwaltung – ist letzten Endes darauf ausgerichtet, Leben zu schützen, zu erhalten, zu verlängern und es lebenswert zu gestalten. Deswegen sollten wir die Tatsache der steigenden Lebenserwatung nicht als Bedrohung, sondern als Erfolg verstehen. Aber natürlich müssen wir die entsprechenden Konsequenzen ziehen, beispielsweise in den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Ohne eine Anpassung dieser Systeme an die gestiegene und weiter steigende Lebenserwartung werden wir das zunehmende Missverhältnis zwischen Ausgaben und Einnahmen in Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen nicht beherrschen können. Der Zusammenhang lässt sich am Beispiel der Rente verdeutlichen: Ein Mensch, der im Jahre 2006 mit 61 Jahren in Rente geht – und das ist ja häufig das tatsächliche Renteneintrittsalter –, bezieht nach der statistischen Erwartung, weil er heute eben länger lebt, doppelt so lange Rentenzahlungen wie jemand, der vor 40 Jahren mit 61 Jahren in Rente gegangen ist. Damit hat sich der Wert der Rente für den Bezieher verdoppelt – aber natürlich auch die Belastung für die Beitragszahler. Deswegen gibt es nur eine Konsequenz: Wenn man die Systematik des Generationenvertrages erhalten will, dann muss die Lebensarbeitszeit länger werden. Bisher war das Gegenteil der Fall. Ich glaube, dass die meisten Menschen das ahnen oder auch wissen, aber irgendwie hofft man, dass es einen selbst nicht betrifft oder dass man es doch noch irgendwie vermeiden kann.

Hier muss politische Führung ansetzen: Sie muss die Fakten benennen und versuchen, die Ängste abzubauen. Wir könnten doch einmal über längere freiwillige Lebensarbeitszeiten reden. Japan, Finnland oder die USA sind Beispiele für viele OECD-Länder, die eine wesentlich höhere Erwerbsquote von Menschen über 55, 60 oder 65 Jahren haben. Dort sind die Menschen auch nicht unglücklich. Wir könnten über die Belastung der Jüngeren reden oder über deren Zurückhaltung, Nachwuchs zu bekommen – auch aus Angst vor Überlastung. Wir könnten mehr darüber reden, dass sich viele Menschen über 55, 60 oder 65 Jahre ausgegrenzt fühlen.

Wir müssen beispielsweise auch darüber reden, dass Begriffe wie Erfahrung, Reife und Urteilsfestigkeit ebenso wie Geduld und Gelassenheit wichtig sind. In diesem Zusammenhang ist der Beitrag Älterer mit ihrer Erfahrung bedeutsam. In Baden-Württemberg gibt es ein Unternehmen, das ganz bewusst ältere Arbeitnehmer einstellt und damit glänzende Erfahrungen macht. Auch die BMW AG hat diesen Grundsatz bei der Einstellungspolitik für das neue Werk in Leipzig beherzigt. Viele Unternehmer und Unternehmen machen die gleiche Erfahrung. Und noch mehr sollten sich diese Erfahrungen zunutze machen: Sie werden alle auf ein Heer von hoch motivierten, leistungsbereiten und erfahrenen Menschen über 50 stoßen. Hier sind politische Führung und gesellschaftlicher Diskurs gefordert. In diesem Sinne hat die Koalition, die noch keine zwölf Monate im Amt ist, es immerhin geschafft, die schrittweise Anhebung der Altersgrenze für die Regelaltersrente auf das 67. Lebensjahr zu vereinbaren. Das ist nicht das Ende der Entwicklung, um es offen und klar zu sagen. Es ist jedoch ein erster konkreter und richtiger Schritt, mit dem wir auch die Bevölkerung auf diese Entwicklung vorbereiten, sie mit den Veränderungen konfrontieren und den Weg aufzeigen, den wir gehen müssen. Die Bereitschaft, weitere Schritte auch schneller zu gehen, wird sich dann erhöhen.

Arbeit im Alter verringert Demenz-Risiko


Neueste neurologische Forschungen beschäftigen sich verstärkt mit dem Problem zunehmender Demenz. Wer Angehörige hat, die sehr alt werden, der macht die Erfahrung, dass mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit wächst, dass die Geisteskräfte schwinden. Das Leben mit Eltern, die dement sind, gehört zu den großen Herausforderungen, die viele von uns schon erlebt haben. Die Erkenntnis, die die Neurologen ziehen, ist ganz eindeutig: Je länger Menschen aktiv im Leben stehen, je länger sie anspruchsvollen Tätigkeiten nachgehen, je länger sie sich herausgefordert fühlen, desto länger scheint es zu gelingen, Verfallsprozesse wie die Demenz hinauszuzögern. Deshalb ist eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit wahrscheinlich das wirksamste Vorsorgeprogramm gegen die Verbreitung von Demenz. Das ist der Stand der medizinischen Forschung. Wenn man aktiv tätig und gefordert ist, schiebt dies den Verfallsprozess zeitlich hinaus.

Wir sollten die Hindernisse nicht auf-, sondern abbauen. Angesichts schnellerer struktureller Veränderungen in fast allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen und politischen Bereichen brauchen wir die Erfahrung der Menschen aller Altersschichten, auch und besonders in der Familie. In einer Gesellschaft, in der Menschen länger leben, wäre jede Schwächung des Zusammenhalts zwischen Jüngeren und Älteren eine schwere Hypothek für die Gemeinschaftsfähigkeit und für die Stabilität einer freiheitlichen Ordnung. Das gilt nicht nur für alte Menschen. Wir alle sind auf ein gedeihliches Zusammenleben und auf Austausch zwischen Jüngeren und Älteren angewiesen. Aber natürlich brauchen auch alte Menschen in besonderer Weise ein Netz von Kontakten zu anderen Menschen, mit denen geistiger Austausch möglich ist und bei denen sie menschliche Zuwendung erfahren.

Angesichts der Veränderungen unserer Arbeitswirklichkeit fällt es aber gerade auch jungen Menschen ohne den starken Rückhalt eines Familienverbandes zunehmend schwer, Familien zu gründen und den Wunsch nach Kindern mit den beruflichen Anforderungen und Erwartungen zu verbinden. So wenig wir auf die Erfahrung älterer Menschen verzichten sollten, so wenig dürfen wir auf die beruflichen Fähigkeiten von Frauen verzichten. Männer und Frauen wollen auch heute gerne Kinder haben, aber sie wollen eben auch arbeiten. Eine Stärkung der Institution Familie im Sinne des Mehrgenerationenverbundes kann dazu beitragen, die beiden Ziele besser zu verbinden.

Der Wunsch, eine Familie zu gründen, hat letzten Endes mit dem Glauben an die Zukunft zu tun und mit der Bereitschaft, in die Zukunft zu investieren und Verpflichtungen für die Zukunft einzugehen. Kinder sind ja immer Investition und Verpflichtung zugleich. Es hat auch mit dem sozialen Miteinander, mit dem Erlernen und Erfahren von sozialer Wärme und Liebe zu tun. Und die Entscheidung für eine Familie hat mit der Einsicht zu tun, dass materieller Wohlstand und Freizeit nicht die wirklich bestimmenden Faktoren für individuelles Lebensglück sind, sondern dass Zuwendung zur Familie, zu Kindern und Beruf, die Wahrnehmung von Verantwortung wahrscheinlich noch wichtiger sind.

Am Ende können wir in den Erfahrungen vorangegangener Generationen immer auch Rat finden. Konrad Adenauer hat einmal gesagt: „Man darf niemals ‚zu spät‘ sagen. Auch in der Politik ist es niemals zu spät. Es ist immer Zeit für einen neuen Anfang.“ Das ist eine gute Grundlage, um die vor uns stehenden Herausforderungen nicht im Geiste der Resignation, sondern im Geiste einer optimistischen Grundhaltung anzugehen.

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