Wo steckt der deutsche Michel?

Er stand jahrhundertelang prototypisch für den Deutschen

Was macht eigentlich: der deutsche Michel? Er schläft. Oder ist gar schon entschlafen. Mehr als ein Jahrtausend hat er treu „den Deutschen“ verkörpert, wechselnder Geschichte seinen Namen und seine Gestalt gegeben. Am Ende aber hat keiner seinen Abgang bemerkt, niemand ihn vermisst, gewürdigt oder ein Wort des Dankes nachgerufen. Ein Füllhorn von Potenzen ist ihm im Lauf seines Lebens zugeschrieben worden. Mal verträumt und verzagt, mal derb und entschlossen, stets grüblerisch und kräftig forciert mit den Farben der Karikatur, hat er geduldig getragen, was immer man ihm aufgelastet hat. Heute Biedermann, morgen Heros, bald verspottet, bald gerühmt, ist er alles in allem ein einzigartiges Wesen, vielschichtig und voller Widersprüche und Spannungen. Und älter, viel älter als alle Konkurrenten. „John Bull“, der Brite (1704), und die französische „Marianne“ (1830), die haben gerade einmal ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel. Vom „russischen Bären“ und „Onkel Sam“ aus der neuen Welt ganz zu schweigen. Über „Michels“ Herkunft gibt es mehrere Thesen. Eine beginnt mit Hartmann von Aue, dem großen Epiker der Stauferzeit, der „michel Knabe“ und „michel Mann“ schrieb, wo es heute „Riesenknabe“ und „starker Mann“ heißen würde. Eine andere greift auf Erzengel Michael zurück, den Drachentöter und Führer der himmlischen Heerscharen. Als die Ungarn 933 an der Unstrut besiegt wurden, trug das Hauptbanner der Deutschen das Bild Michaels. Danach wurde er zum Schutzengel der deutschen Heere, ja zum „Protector Germaniae“. Der wird mit dem Untergang des Rittertums erst einmal verbürgerlicht. Auf die Ritter des Deutschen Ordens wird gereimt: „Die Teutschen Michel nennt man uns, ist wahr, künden nit viel Latein, denn fressen, saufen, Buben sein.“ Überhaupt, wer nicht Latein zu sprechen vermag, ist bald ein „Idiot, Barbar, deutscher Michel“. Ihm folgen der vertrottelte, aber allseits vertraute Dorf-Michel, der Käs-, der Dreck-, der Dumm-Michel. Goethe beschreibt ihn in „Hans Wursts Hochzeit“: „Vetter Michel, guter Gesellschafter, aber hundedumm.“ Chamisso spottet: „Vetter Michel, grad und bieder, redlich wie das liebe Brot.“ Achim von Arnim führt seine Zeitung für Einsiedler, die er 1808 zusammen mit Clemens von Brentano herausbringt, mit einem Bilde Michels ein: „Dieses listige Lauern; dieser schiefe Mund, der auf eine Autorität oder Kritik wartet, um sein Urteil zu bestimmen; die steifen Locken, die sich aus der Nachtmütze drängen, wie alte verrostete Gedanken, die du immer wieder hören möchtest.“ Kleist macht aus Hans Kohlhase nicht zufällig „Michael Kohlhaas“. Dagegen bauen andere Sankt Michael auf. Luther schreibt: „Hüte dich nur vor einem Feinde in dir, der Eitelkeit und dem fleischlichen Hochmut, dann kannst du ein echter, rechter Erzengel Michael deutscher Lande werden.“ Grimmelshausen setzt ihn gar zum Verteidiger der deutschen Sprache ein: „Wir Teutschen Michel verstehen jetzt nihil: Was ist Marschiren, was ist Chargiren, was ist Flankiren, was ist Avanciren, was ist Passiren, was Commandiren, Artigleria, Infanteria ?“ Im letzten Abschnitt seiner Geschichte dient der deutsche Michel nurmehr der Kommentierung politischen Geschehens. Er ist jetzt im öffentlichen Bewusstsein etabliert und selbstbewusst genug, Spott nicht mehr zu fürchten und sich selbst zu ironisieren. Die Zipfelmütze, die ihn zur Chiffre für „deutsch schlechthin“ macht, trägt er in Sieg und Niederlage, und je nach der Stimmung fällt sie ihm schlapp ins Gesicht, schwankt sie im Zweifel, steht sie aufrecht vor Trotz und Kampfesmut. Am Ende trägt der Erzengel in eherner Rüstung dazu bei, dass ein Volk zuerst in einem „Reich“ zu seiner Einheit findet und dann in überschäumendem Nationalgefühl, mit kernigen Gesängen und hasserfüllten Liedern in einen Krieg und seinen Untergang marschiert. 1843 zeigt ihn eine Flugschrift des Literarischen Comptoirs zu Zürich und Winterthur hoch über den Burgen am rechten Rheinufer. Er singt durch einen Maulkorb Nikolaus Beckers junges „Rheinlied“: „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein“ und jagt einen französischen Offizier mit Dreispitz und Degen über den Fluss in die Flucht. In der satirischen Zeitschrift Leuchtkugeln studiert Michel Geschichte: „Wo liegt Deutschland?“ – „Zwischen den natürlichen Grenzen Frankreichs und Rußlands.“ – „Was verstehen die Franzosen unter der natürlichen Grenze?“ – „Das linke Rheinufer.“ – „Und welches ist die natürliche Grenze Rußlands?“ – „Das rechte Rheinufer.“ – „Gut. Wie sieht demnach die zukünftige Karte Deutschlands aus?“ Michel: „Der freie deutsche Rhein.“ 1892 titelt Anton Bruckner über den zweiten Satz seiner Achten Sinfonie „Der deutsche Michel“. Johannes Scherr schreibt einen vierbändigen Roman „Michel. Geschichte eines Deutschen unserer Zeit“. 1893 heizt einer weiter an: „Feinde ringsum! Michel, wirf hin das Zagen, warst du Siegfried, nun werde Hagen.“ 1915 „dichtet“ H. R. Kreibich: „Michel, fasse den Ger, heb hoch die wuchtige Wehr! Und los auf den Welschen, den Russen, los! Und dann heb, Michel, dann hebe den Fuß, der die britische Schlange zertreten muss.“ Noch im Frühjahr 1918 appelliert eine ernsthafte „Geschichte des deutschen Michels“: „Bei deines Namens hellem Erzengelklang, bleibe wach und hart, deutscher Michel!“ Für diesen Michel wird die Niederlage 1918 zum Todesstoß. Er hat sich vor der Nation selbst Lügen gestraft, das Gesicht und die Glaubwürdigkeit verloren. Nur verschämt lässt er sich in den zwanziger Jahren hier und da blicken, geschlagen, selbstanklägerisch, resigniert. Einem Regime, das ein „tausendjähriges“ sein will, kann er nicht mehr nützlich sein. Mühelos und konsequent schickt es ihn ins Exil. Als er nach seiner zweiten, „totalen“ Niederlage zurückkehrt, ist er gebrochen, ziel- und hoffnungslos, ausgepowert und ausgemergelt. Zwar frisst er sich im Wirtschaftswunder noch einmal Wanst und Stärke an. Dann bringt ihn ein Abführmittel, „Darmol“, mit seiner Werbung endgültig zu Bett, im Schlafanzug, mit Kerze, Puschen und Zipfelmütze. Da liegt er nun, der deutsche Michel. Jahrhundertelang war er uns ein getreuer Spiegel der Geschichte, ja selbst ein Teil davon. Alle ihre Wandlungen und Spannungen hat er mitgemacht, in guten wie in schlechten Tagen. Erfolge und Misserfolge, Stärken und Schwächen, Wohlstand und Not, Ideale und Irrtümer der Deutschen, er ist voranmarschiert, er ist ihnen nachgelaufen, er ist mit ihnen groß geworden und mit ihnen gescheitert. Bis seine Kraft im ständigen Auf und Ab verbraucht war. Und zuletzt auch kein „Sommermärchen“ mehr die Deutschen in einem Abbild zusammenzuführen, zu einen vermochte. Wo Europa zusammenwächst, ist kein Raum mehr für Nationalismen, und wenn Liberalisierung und Digitalisierung Konjunktur haben, feiern Individuen Hoch-Zeit, nicht Kollektive. Requiescas in pace? Nein, deutscher Michel, ruhe in Frieden! Günther von Lojewski war langjähriger Intendant des SFB, ist Publizist, Honorarprofessor an der FU Berlin und Direktor des Journalistenkollegs

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