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(picture alliance) Linguistikprofessor Martin Haase (r.): Strippenzieher in der Piratenpartei, Fan von Tee und Motorrädern

Pirat Martin Haase - „Wir müssen uns wehren gegen Schnodderigkeit“

Ein Professor, der sich zu den Piraten verirrt hat: Martin Haase gilt als mächtigster Pirat im parteieigenen „Liquid Feedback“. Im CICERO-ONLINE-Interview kritisiert er digitale Stammtisch-Diskurse in seiner Partei und fordert die Mitglieder auf, sich gegen verbale Entgleisungen zur Wehr zu setzen

Martin Haase (49) lehrt Romanistik und Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Bamberg. Seit 2009 ist er in der Piratenpartei aktiv. Im „Liquid Feedback“, einer Onlinesoftware, mit der die Piraten Meinungsbilder und Programmanträge erstellen sowie Parteitage vorbereiten, gibt es keinen Nutzer, dem mehr Teilnehmer ihre Stimme übertragen haben. Der leise Strippenzieher Haase hat über das Abstimmungsportal bereits 37 Anträge ins bundesweite Parteiprogramm eingebracht

 

Herr Haase, Sie wurden nie gewählt und haben nicht mal ein Parteiamt inne. In keiner Partei würde sich ein Journalist für ein Basismitglied aus der fränkischen Provinz interessieren. Und doch sitzen Sie hier bei uns – zuvor wurden Sie schon von der ARD und dem Spiegel befragt. Was sagt uns das?
Das sagt uns, dass man sich bei den Piraten sehr schnell sehr intensiv beteiligen und damit auch Aufmerksamkeit erregen kann. Ich kann meinen Laptop irgendwo aufklappen, mache ein paar Klicks – und diese Klicks haben eine Bedeutung. Nicht nur für mich, sondern für sehr, sehr viele Leute.

Was hat einen Intellektuellen wie Sie überhaupt zu den Piraten geführt?
Ich habe mir eigentlich nie vorstellen können, in einer Partei aktiv zu werden. Bis 2009. Da gab es die Diskussion um Sperren im Internet…

…die Kampagne Zensursula, benannt nach der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen.
Da hatte die SPD an einem Punkt die seltsame Idee, „das Internet“ zum Gespräch einzuladen. Ich gehörte zu den „glücklichen“ Menschen, die eingeladen wurden. Das waren fast physische Qualen. Der Berichterstatter der SPD, Martin Dörmann, sprach – und man merkte, er wusste überhaupt nicht, wovon er sprach. Neben mir sagte einer: „Wissen Sie, der Herr Dörmann hat einen jungen Mitarbeiter, der macht ihm das alles.“ Ich dachte, wenn das so weitergeht in der Politik, dann bekomme ich Magengeschwüre und werde irgendwann einen qualvollen Tod sterben. Also sagte ich mir: Aus therapeutischen Gründen trete ich der Piratenpartei bei.

Was bedeutet für Sie Macht?
Bei dem Begriff denke ich gleich an Diktatoren, die nach Belieben Entscheidungen treffen, aus einer Laune heraus. In Demokratien dagegen ist man den Wählern verantwortlich und bekommt die Macht entzogen, wenn man nicht in ihrem Sinne handelt. In unserem repräsentativen System wird jedoch nur alle vier bis fünf Jahre gewählt – und in der Zwischenzeit entsteht so etwas wie dauerhafte „Macht“. Das ist ein Problem. Deswegen sollte man zu einem System kommen, in dem Delegationen immer wieder zurückgenommen werden können. Denn dann wäre auch die Macht futsch. [gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung]

Damit rütteln Sie an den Grundfesten der repräsentativen Demokratie.
Das weiß ich nicht. Wenn es Delegationen gibt, ist es auch immer repräsentativ. Es geht eher um einen Ausgleich zwischen Basisdemokratie und repräsentativer Demokratie. Die Grünen waren ihrerzeit noch angetreten, die reine Basisdemokratie umzusetzen. Das ist gescheitert. Bei den Piraten dagegen geht es um einen Kompromiss zwischen beiden – um partizipativen Parlamentarismus oder Liquid Democracy. Dieses Modell kombiniert das Positive beider Demokratieformen. Negative Seiten dagegen – Stichwort Hinterzimmer-Politik und Seilschaften – werden zurückgefahren, weil alles transparenter wird.

Sie gelten als mächtigster Pirat Deutschlands. Auf der Abstimmungsplattform Liquid Feedback konnten Sie bereits über 160 Stimmen auf sich vereinigen. Über die Software haben Sie viele erfolgreiche Programmanträge eingebracht.
Jetzt sind es gerade 152 Delegationen. Manchmal ist das eine Last. Wenn ich sehe, dass andere Leute Vertrauen in mich setzen, dann entsteht daraus auch ein Gefühl der Verantwortung. Damit muss ich umgehen. Wenn ich mich an einer Stelle überfordert fühle, kann ich auch mal weiter delegieren. Aber die Möglichkeit, Programmentwürfe und vielleicht bald mal Gesetzestexte schreiben zu können, ist demokratietechnisch bahnbrechend.

Seite 2: Bei der Piratenpartei herrscht „ein etwas zu lockerer Ton“

Andererseits beteiligt sich nicht einmal ein Drittel der Mitglieder an Abstimmungen auf dieser Plattform. Parteiintern gibt es auch starke Kritiker an Liquid Feedback – etwa Bundesvorsitzender Sebastian Nerz.
Ja, aber die Beteiligung ist größer als bei anderen Parteien. Dort ist doch Programmarbeit ausgesprochen beschwerlich. Zur Kritik: Es gibt in der Partei einen starken Flügel, der das Liquid lieber basisdemokratisch ausrichten möchte – dass also jeder über alles entscheiden muss und möglicherweise auch gezwungen werden sollte. Ein zweiter Konflikt dreht sich um die Frage, ob man weiterhin anonyme Abstimmungen zulassen sollte oder nicht. Da prallen verhärtete Fronten aufeinander.

Was sagen Sie?
Wer sich an der Programmarbeit beteiligen möchte, muss mit anderen kooperieren und ihnen auch vertrauen können. Doch Vertrauen in anonyme Menschen schließt sich aus. Jeder Liquid-Teilnehmer sollte identifizierbar sein – was im Übrigen auch mit Pseudonymen ginge, die den Nutzern eindeutig zugeordnet werden können.

Die Piraten sind laut der jüngsten Forsa-Umfrage derzeit die drittstärkste Kraft und könnten damit sogar die Grünen wegfegen. Wo sehen Sie sich in dieser aufstrebenden Partei?
Ich möchte vor allem inhaltlich arbeiten. Es ist natürlich schön, dass man durch diesen Hype mehr Aufmerksamkeit bekommt. Dann kann man Ideen wie Liquid Democracy oder den fahrscheinlosen Nahverkehr leichter ins Gespräch bringen. Denn plötzlich hören einem die Leute zu.

2013 wird im Bund und in Bayern gewählt – da wäre doch sicher auch für Sie ein Listenplätzchen frei.
Ich habe da noch keine wirklich abschließende Entscheidung gefällt. Es gibt Leute, die sagen: „Mach doch.“ Aber eigentlich habe ich einen Beruf, der mir Spaß macht, bei dem ich die Parteiarbeit zwischendurch oder am Abend machen kann. Das ist viel schöner, als wenn ich in einem Parlament sitze. Da könnte ich nicht einfach klicken und sagen, jemand anders macht das.

Mich würde mal interessieren, wie der Linguistikprofessor die Debatten bei den Piraten einschätzt. Bei Twitter schreiben Parteimitglieder Sachen wie: Das „kotzt mich an“, da heißt es, ein Vorsitzender „kackt“ der Fraktion „auf den Teppich“, da geht ein „Arsch auf Grundeis“.
Ja, so geht‘s halt am Stammtisch zu.

Auch auf Landesparteitagen finden Sie vorne Kandidaten, die das Wort „Scheiße“ benutzen.
Das passiert auf Parteitagen. Twitter ist eher auf Stammtisch-Ebene. Das blende ich in der Regel aus. Natürlich ärgert mich das manchmal. Ich fand es zum Beispiel völlig unangemessen, dass der Pressesprecher der Piraten in einer Debatte andere beschimpft hat und „Pfui“ schrieb. Auch wenn es sein privater Twitteraccount war – was soll das? Einmal ist er privat unterwegs, einmal dienstlich. Bei einem Pressesprecher kann ich das nicht einfach ausblenden.

Aber auch bei einem Vorstand nicht, bei einem Abgeordneten?
Klar.

Diese Zitate stammen alle von ranghohen Piraten, nicht von Basismitgliedern.
Das gebe ich zu, da ist ein etwas zu lockerer Ton, auch bei Parteitagen. Wir haben es in der jüngsten Auseinandersetzung um Rassismus und Sexismus gesehen.

Seite 3: „Tendenz zu Politik-Marketing gibt es auch heute“

Sie sprechen den Appell der Jungen Piraten (JuPis) an. Wobei das auch zwei Sachen sind – das eine sind verbale Entgleisungen von Parteimitgliedern, die in wichtige Ämter oder in Landtage gewählt wurden, das andere sind Leute, die eine bestimmte Ideologie vertreten und sich in die Partei untermischen.
Das muss man trennen. Man muss sich natürlich gegen Leute, die eine falsche Ideologie vertreten, wehren. Rechtsradikales Gedankengut und Rassismus haben in der Piratenpartei keinen Platz. Aber ich finde, auch das mit den Entgleisungen sollte nicht so sein. Die Parteimitglieder sollten sich dagegen wehren, dass eine solche Schnodderigkeit zum System wird.

Kam der Brandbrief der JuPis jetzt nicht ein bisschen zur Unzeit, so direkt vor den beiden Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen?
Wenn man immer nur taktisch denkt und sagt „Jetzt ist Wahl, jetzt müssen wir alle schweigen!“, dann sind wir wieder bei der Politik 1.0. Letztlich ist es nicht schlecht, wenn man selbstkritisch ist. Als [der Spitzenkandidat bei der Berliner Landtagswahl, Anm. d. Red.] Andreas Baum [in einer TV-Sendung] von „Millionen Schulden“ [des Landes Berlin] sprach und es sind eigentlich Milliarden, hat ihm das auch nicht so geschadet.

Sie betreiben zusammen mit dem Journalisten Kai Biermann den Blog neusprech.org, der im vergangenen Jahr mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Der Name ist eine Anlehnung an George Orwells Roman „1984“. Darin erfindet der Überwachungsstaat mit Neusprech eine alles reduzierende Sprache, um kritisches Denken einzuschränken. Was sagt dieser Name über Ihr Verständnis von unserem Staat?
Bereits vor der Veröffentlichung seines dystopischen Romans hat George Orwell im England der Kriegs- und Nachkriegszeit in dem Essay „Politics and the English Language“ auf Sprachmanipulationen hingewiesen. Die Tendenz zu Politik-Marketing gibt es auch heute. Das konnte man bei der Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung beobachten. Oder beim Urheberrecht: Wie da mit Nebelkerzen Meinung gemacht wird, ist nicht gut. Man muss die Meinungsmache durch Sprache, diese PR-Demokratie, aufbrechen. Das Internet bietet da gute Möglichkeiten. Wir versuchen es  mit diesem Blog.

Im Netz sind Sie als „Maha“ unterwegs, schreiben für vier Blogs, machen Podcasts über Motorradkultur und stellen Rezepte für Katzenkuchen ins Netz. Gehört es als Pirat dazu, Teile seines Privatlebens offenzulegen?
Ja, klar. Die Piraten sind im Netz zu Hause, quasi als „Netizens“ oder „Digital Natives“. Ich pflege da verschiedene Interessen, etwa Tee oder eben Motorräder. Deswegen würde ich immer wieder unterstreichen: Der Mensch strebt nicht immer nur nach Materiellem –  sondern auch nach Zustimmung, Vertrauen, nach immateriellen Werten. Das ist bei der Piratenpartei sehr stark ausgeprägt.

Sie beanspruchen für sich, allein den Immaterialismus zu vertreten?
Schauen Sie sich doch die anderen Parteien an: Die SPD ist angetreten, den materiellen Wohlstand der Arbeiter zu verbessern – und das macht sie bis heute. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass die Piraten eine weitere Abspaltung im jahrhundertelangen Auflösungsprozess der SPD seien. Das ist aber völliger Unsinn. Die Grünen sind zwar klar postmateriell, rücken aber das Individuum nicht so sehr in den Mittelpunkt. Bei der FDP wiederum ist das Individuum zentral, aber es geht eben wieder nur um Wachstum und Materialismus. Das ist unzeitgemäß. Und die Union – manche wundern sich, dass die Piraten in Talkshows plötzlich Zuspruch von der CDU bekommen. Aber ich glaube, dass es da Berührungspunkte gibt. Denn in der christlichen Ideologie, die bei der CDU vielleicht noch vorhanden ist, ist das Materielle auch nicht so wichtig.

Sind das schon Gedanken in Richtung möglicher Koalitionen?
Nein! Die CDU ist im Moment die Partei mit der stärksten Tendenz, alles in Hinterzimmer zu verlagern. Und das ist völlig inkompatibel mit den Piraten. Von daher ist es dort noch ein langer Weg.

Herr Haase, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Petra Sorge

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