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Andy Ridder

Politikerkinder als Politiker - Wie der Vater

Die Väter waren Politiker, und ihre Kinder tun es ihnen nach. Boris Palmer, Nina Scheer und Matthias Filbinger hat die Politik angezogen, obwohl sie auch das Abstoßende an ihr kennen. Eine Geschichte darüber, was man so macht wie die Eltern – und was ganz anders

Autoreninfo

Georg Löwisch war bis 2015 Textchef bei Cicero. Am liebsten schreibt er Reportagen und Porträts. Zu Cicero kam er von der taz, wo er das Wochenendmagazin sonntaz gründete. Dort kehrte er im Herbst 2015 als Chefredakteur zurück.

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Als er die Nachricht vom Sieg auf dem Smartphone hat, schwingt sich Boris Palmer aufs Rad und fährt in den Sonnenuntergang. Schlaksige Gestalt, roter Fahrradhelm, schwerer Schlüsselbund rechts hinten an der Hose, auf seinem E-Bike wirkt er wie ein großer Junge. Aber er ist Oberbürgermeister von Tübingen und gerade im Amt bestätigt worden. 2006, vor seiner ersten Wahl, da verhielt er sich anders als sein Vater, er übernahm nichts von der schrägen Art des Alten, Politik zu betreiben. Aber diesmal, im zweiten Wahlkampf, da hat er ihn rausgelassen und trotzdem gewonnen. Es ist der Sieg seines Lebens.

Er jagt die Serpentinen von Kirchentellinsfurt Richtung Tübingen hinunter. Den Scheinwerfer hat er schon eingeschaltet, die Sonne verschwindet gerade hinter dem Berg gegenüber, aber ihr weißgoldenes Licht leuchtet noch. Mehr als 60 Prozent für ihn, das hat sein Mitarbeiter um 18.31 Uhr gesimst. Noch eine Kurve, da bremst Palmer sachte das Rad ab. Er macht ein Foto vom Sonnenuntergang, 19. Oktober 2014. Er nimmt den Moment in sich auf.

Boris Palmer ist ein Politikerkind, das Politik macht. Er tut, was der Vater getan hat, anders zwar, aber es ist dasselbe Fach. In einer Demokratie muss niemand Söhne und Töchter von Politikern wählen, und die müssen auch nicht in ein Geschäft, von dem sie oft die schmerzhaften und schmutzigen Seiten erlebt haben. Manche tun es dennoch. Boris Palmer, Sohn des parteilosen Rebellen Helmut Palmer. Genau wie Nina Scheer, Tochter des SPD-Solarpapsts Hermann Scheer. Und auch Matthias Filbinger, Sohn des einstigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, hat es mit der Politik probiert, erst in der CDU, dann bei den Grünen.

Ihre Väter haben starke Berührungspunkte, auch wenn sie politisch vieles trennte. Sie arbeiteten alle in Baden-Württemberg, im reichen Südwesten, wo die CDU nach dem Krieg stark wurde wie in keinem Bundesland sonst, wo aber auch immer ein skeptischer, ein widerständiger Geist zu Hause war. Die drei Väter verbindet die Frage, was Demokratie ist und wie sie sich nach dem Terrorregime des Nationalsozialismus entfalten kann. Filbinger, Christdemokrat und früher Nationalsozialist, gab andere Antworten als der Einzelkämpfer Palmer oder der Sozialdemokrat Scheer. Ihre Antworten wirken in die Biografien der drei Kinder hinein.

Das Politikerkind als Politiker – dieses Phänomen spitzt zugleich Fragen zu, die sich jedes Kind stellt. Was zieht mich in die Welt der Eltern? Trete ich deren Erbe an oder schlage ich es aus? Werde ich so wie sie? Oder distanziere ich mich?

Nina Scheer arbeitet genau an der Stelle, wo ihr Vater kurz vorher aufgehört hat. Matthias Filbinger hat es anders gemacht, indem er sich abgrenzte vom Vater. Boris Palmer, vielleicht am schwierigsten, wollte ihn übertreffen und dennoch ein wenig so sein wie er.

Die drei haben über den Weg in die Welt ihrer Väter gesprochen. Wenn sie über frühe Erfahrungen mit der Politik reden, kommen alle auf den Wahlkampf, eine der großen Bühnen der Demokratie.

Matthias Filbinger, 58, denkt an den Geruch von Tapetenkleister. Im November 1974 hat er in einer Halle in Stuttgart CDU-Plakate auf Pressholzplatten geklebt. Er kämpfte damals in der Jungen Union für die Partei des Vaters.
Nina Scheer, 43, hat an Wahlkampfständen in Schwaben ihrem Vater zugehört, wenn er für sich und die SPD warb.
Boris Palmer, 42, erinnert sich, wie er am Eingang von Hallen saß mit seinem jüngeren Bruder und für die Wahlkampfauftritte des Vaters Eintritt kassierte, fünf Mark pro Person, denn die Schlagfertigkeit des Rebellen war berühmt, die Söhne waren stolz darauf.

Jetzt sitzt Boris Palmer in einem Café in Berlin und erzählt vom Gefängnis. Er war fünf oder sechs Jahre alt, als er mit der Mutter durch das Tor von Stuttgart-Stammheim ging. Die Familie durfte sich nur in Gegenwart eines Beamten sehen, der Vater auf der einen Seite einer Panzerglasscheibe, die Familie auf der anderen. „Keine Szene aus dieser Zeit ist mir so plastisch in Erinnerung“, sagt er. „Im Gefängnis, bei den Besuchen, ist mir ziemlich bald aufgefallen: Das muss nicht sein, dass man in der Politik ist und dafür ins Gefängnis geht.“

War Helmut Palmer überhaupt Politiker? Er kandidierte mehr als 250 Mal und gewann keine einzige Wahl. Aber er erreichte als Außenseiter zweistellige Ergebnisse, da waren es ehrenhafte Niederlagen.

Als Junge war Helmut Palmer verlacht und verhauen worden. Sie riefen ihn Mose, weil sein Vater Jude war, noch dazu ein uneheliches Kind. Später sagte er den Bürgermeistern und Beamten, sie seien Nazidackel. Manchmal wurde er handgreiflich. Sie zeigten ihn an. Er gab nicht nach, auch nicht vor Gericht. Er war kompromisslos. Ein Obsthändler, der schwäbischen Bauern eine Methode des Apfelbaumschnitts anerziehen wollte, die er in der Schweiz erlernt hatte. Hausfrauen, die auf den Wochenmärkten an seinen Stand kamen und keinen Korb, sondern eine Plastiktüte dabeihatten, verjagte er. Leitplanken, die an Ausfahrten damals nicht im Boden mündeten und dadurch gefährlich waren, senkte er ab. Boris Palmer sagt, sein Vater habe in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollen, unbedingt zwar, aber nur zu seinen Bedingungen.

Um drei in der Früh fuhr Helmut Palmer mit dem Laster los, um sein Obst auf die Märkte zu bringen, in den Ferien den Boris vorn auf dem Beifahrersitz. Hinten am Lkw war zu lesen: „Furchtbare Juristen“. Auf der Namensliste darunter stand auch Hans Filbinger, denn der langjährige Ministerpräsident war Nationalsozialist und hatte als Jurist im Krieg an Todesurteilen mitgewirkt.

Sein Sohn Matthias hat sein Haus in Stuttgart-Vaihingen in einer gepflegten Siedlung aus Eigenheimen. Auf dem Klavier stehen Familienfotos, auf einer Schwarz-Weiß-Aufnahme sieht man ihn und seine Schwestern um Vater und Mutter gruppiert, beide sind verstorben. Matthias Filbingers Geschichten klingen oft bitter. Wie er versuchte, den Vater zu verteidigen, obwohl er gar kein eigenes Wissen haben konnte über die Todesurteile, die der gefordert hatte. Wie er fast alle seine Freunde verlor, als der Vater zurückgetreten war. Aber er hat auch Distanz zu den Dingen von damals, es ist eine andere Zeit jetzt, seine Zeit, und so hat das Gespräch auch gelöste, frohe Anteile. Auf dem Tisch steht libanesisches Konfekt, das zwei seiner Kinder von einer Reise mitgebracht haben. „Nehmen Sie noch einen Kaffee?“

Er zitiert den Vater und klingt sogar amüsiert dabei. „Marsch! Marsch!, hat er gern gesagt.“ Dann erzählt er wieder vom Druck des Wahlkampfs, der nie nachließ. Zum Erscheinungsbild gehörte die Familie. Patzer der Kinder konnten Kratzer im Image des Vaters werden. „Wenn ich Berufspolitiker bin, bin ich abhängig“, so nahm er es damals beim Vater wahr. „Ich bin gefangen.“

Mit elf Jahren war Matthias Filbinger froh, die Welt des Vaters verlassen zu können. Es war ein kalter Tag, kurz nach Fastnacht 1968. Sein Vater brachte ihn ins Internat von St. Blasien im Schwarzwald. Er hatte ihn angemeldet, weil er unzufrieden mit dem Zeugnis des einzigen Sohnes war. Hinter dem Jungen lag ein Haus der Macht, Freiburg-Günterstal, ein Grundstück am Wald. Abgeordnete kamen zu Besuch, Minister, mal ein Bischof. Werktags war der Vater von fünf Kindern fort, weil er Landesvater von zehn Millionen Baden-Württembergern sein wollte. Was der Ministerpräsident, einer der wichtigsten Männer der CDU, machte, schaute sich Matthias abends mit den Schwestern im Fernsehen an. Nun, angekommen in St. Blasien, verabschiedete er sich vom Vater. Der Eingang des Internats war der Ausgang aus dem alten Leben. Die Eichentür von St. Blasien fiel ins Schloss.

Und dann, im Juli 1973, die Abhöraffäre im Internat. Filbinger junior hatte einen Minisender gebastelt. In eine Zigarettenschachtel und ab ins Lehrerzimmer damit. Viele Schüler lauschten der Lehrerkonferenz, die der Junge mit dem Mini­sender live übertrug. „Watergate von St. Blasien“, stand in der Badischen Zeitung. „Filbinger-Sohn Minispion?“

Er flog vom Internat und kam nach Stuttgart, wohin die Familie inzwischen gezogen war, aufs Gymnasium. Der Vater verlangte Höchstleistungen, der Sohn widersetzte sich. Durchkommen reichte auch, fand er, in der Zehnten blieb er sogar hängen. Nur in politischen Fragen rebellierte er nicht. Junge Union, Wahlkämpfe, Plakate kleben. Er sagt: „Eine andere Meinung wäre vermutlich mit Familienverrat gleichzusetzen gewesen.“

Matthias Filbinger hat aus der Nähe das Leben eines Mächtigen beobachtet. Und gelernt, wie ohnmächtig ein Politiker nach dem Absturz sein kann. Boris Palmer dagegen, dessen Vater nie mächtig wurde, erlebte abends in den Hallen, wie viele Menschen der dennoch begeistern konnte, wenn er zum Beispiel rief: „Schwarz oder Rot wählen ist, wie wenn ein Rheumakranker sich von der einen auf die andere Seite legt.“

Ende der Achtziger kaufte sich Vater Palmer ein Faxgerät. Es stand im Esszimmer, von hier aus schickte er seine Botschaften in die Welt, zu jeder Tages- und Nachtzeit. An Anwälte, Beamte, Politiker. Er gab Anzeigen auf und wurde ein fantastischer Kunde der Zeitungen. Der Sohn sah, wie am Marktstand Geld in die Kasse floss, aber auf dem Konto blieben die Schulden. Er schrieb ein Programm auf dem PC, Belegerfassung, Verbuchung, Geschäftsentwicklung. Es half nichts. Faxte der Vater wieder Beleidigungen herum – Faschist!, Nazi im CDU-Tarngewand! –, redete er auf ihn ein. „Lass es doch.“ „Entschuldige dich halt.“

Er sah ihn in den Sumpf aus Schulden hineinlaufen, in ein Gestrüpp aus Beleidigungsklagen. Das Kind wollte den Vater beschützen. Es lernte, den Wert der Selbstbeherrschung zu schätzen.

Bald nach dem Abi – das 1,0-Zeugnis hat der Vater ohne sein Wissen in der Weltgeschichte herumgefaxt – meidet Boris Palmer den Alten. Er kann nicht mehr. Ihm fehlt Anerkennung. Sie sehen sich selten. Er studiert Mathe in Tübingen, ein Semester in Sydney, weiter weg geht nicht. Aber er ist noch nicht lange auf Abstand zum Politiker, da begeistert er sich für die Politik. Er setzt einen Nachtbus durch, der die Studenten von den Partys heimfährt. Er geht überallhin, wo politisch etwas geboten wird. Einmal sitzt er bei einer Veranstaltung vor einem alten, freundlichen Herrn und fragt ihn, ob er damals im Krieg gewusst habe, was er da tat. Der Mann heißt Hans Filbinger.

Boris Palmer tritt den Grünen bei. Schon als Student organisiert er Kampagnen, ein 26 Jahre alter Routinier. Als er selbst in den Landtag einzieht, stellt ihn der Vater als den Herrn Abgeordneten vor, vielleicht bekommt er die Anerkennung jetzt: von Politiker zu Politiker.

Der Vater ist schon an Krebs gestorben, als der Sohn erstmals Oberbürgermeister wird. Im Wahlkampf war sein Stil hart, jedoch beherrscht. Ein rechnender Rebell. Er sitzt bereits im Rathaus, da entdeckt er Facebook für sich. Er schickt seine Botschaften in die Welt hinaus, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Er provoziert, prescht vor, prangert an.

Aber es läuft. In seinen acht Amtsjahren entstehen Jobs, er senkt den CO2-Ausstoß, hält das Budget in Ordnung. Dann, im Wahlkampf, produziert er mehr und mehr Aufreger. Einmal beschwert er sich auf Facebook über einen Wirt auf der Schwäbischen Alb, der ihm die Apfelschorle nicht auf der Terrasse servieren will, was Palmer mit der Bemerkung quittiert, „wenn mr aufm Rathaus so schaffe dät wie hier, dann dätet ihr mit der Mistgabel nauf ganga“. Ein Teil des Publikums findet das nicht oberbürgermeisterhaft oder gar eine Schädigung des heimatlichen Tourismus. Es ist noch nichts gegen den Zorn, den er entfacht, als er das Tübinger Max-Planck-Institut und dessen Tierversuche mit Affen verteidigt. Allein 9800 Kommentare auf Facebook. „Was haben die Leute um Gottes willen?“, fragt er sich. „Acht Jahre und dann so ein Hass.“

Es geht gegen seinen Charakter. Es geht aber auch gegen seinen Vater. Er wird wie der Alte, heißt es jetzt. Vater Rüpel, Sohn Rüpel. Der schräge Vogel, der nie die Klappe halten kann, der am Schluss garantiert die Wahl vermurkst und alle lachen.

Daher ist es ein so großer Moment am Wahlabend, als Boris Palmer sich wieder aufs Rad setzt und herunter in die Stadt fährt, um sich feiern zu lassen. 60 Prozent. Er hat den Weltverbesserer verbessert, ohne ihn zu verraten. Später, auf der Party auf dem Markt, sagt er über ihn: „Es ist ein Moment, wo ich Danke sagen möchte für das, was er mir mitgegeben hat.“

Sein Handwerk gelernt hat er von anderen Vaterfiguren. Von Winfried Kretschmann, seinem Chef bei den Grünen im Landtag, der Nachdenklichkeit so zelebrieren kann, dass selbst ­Albwirte und Affenschützer bedächtig nicken würden. Und von Hermann Scheer, dem SPD-Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises Waiblingen, gegen den Helmut Palmer regelmäßig antrat. Scheer hat den alten Palmer geachtet, mehr noch: Er hat ihn gemocht, und das Talent des jungen erkannt. Er hat ihm Denksportaufgaben gestellt. „Ein Sparringspartner, ein väterlicher Freund“, sagt Boris Palmer.

Für Nina Scheer war er nicht väterlicher Freund, sondern der Vater. Zehn vor halb acht an einem Mittwochabend sitzt sie im Hinterzimmer einer Kneipe. Es riecht nach gegrillten Würstchen. Die SPD Berlin-Mitte, Abteilung 3, Friedrichstadt, hat eingeladen, 23 Genossen haben an den Tischen Platz genommen, ein Jungspund mit Designerbrille, eine Frau in scheckiger Bluse, ein Mann mit SPD-roter Weste. Nina Scheer dosiert ihr Lächeln nicht, deshalb wirkt es gewinnend. „Wir haben einen wunderbaren Gast“, stellt Jochen Kletzin sie vor, Bildungsbeauftragter der Abteilung 3, ein alter Metaller mit Stiernacken. „Sie waren nicht unsere erste Wahl.“ Nina Scheer lacht auf. „Weil wir sie nicht kannten. Was eigentlich sträflich ist bei dem Namen.“ Ihr Lachen verschwindet, sie schluckt.

Aber Kletzin, taktvoll, belässt es bei der Andeutung. Wer ihren Vater kennt, soll wissen: Das ist die Tochter. Mehr nicht. Sie diskutiert mit dem Publikum das Freihandelsabkommen TTIP. Die Leute akzeptieren sie als Autorität aus dem Bundestag, wo sie im Ausschuss für Wirtschaft und Energie arbeitet.

Einem Gespräch hat sie erst zugestimmt, nachdem am Telefon klargestellt war, dass sie über sich reden kann, aber nicht so viel über ihre Rolle als Politikerkind. Das ist ein wenig überraschend, weil sie einer nach ihrem Vater benannten Stiftung vorsteht. Als Ort für das Gespräch schlägt sie das Café Einstein in Berlin-Mitte vor, ausgerechnet, ihr Vater traf dort gern Journalisten. Bevor sie kommt, hat der Ober den Reporter versehentlich an einen falschen Tisch geführt, dort sitzt Irmgard Scheer-Pontenagel. Sie klärt die Verwechslung auf: Sie ist die Mutter von Nina Scheer. Gleich hat sie auch einen Termin. Sie ist Teil der energiepolitischen Szene, denn sie leitet die Vereinigung Eurosolar, die ihr Mann einst gegründet hatte.

Der Sozialdemokrat Hermann Scheer erkannte sehr früh, dass die Welt von Öl, Kohle und Kernspaltung loskommen muss. Dem stand aber die Drohung gegenüber, dass dann die Lichter ausgehen, ein griffiges Schlagwort, das 1975 der Ministerpräsident Filbinger geprägt hatte. Scheer sagte, dass das Licht anbleiben kann, und er erklärte wie. Er war der Mann mit dem Ausweg. Er entwarf Pläne für Sonnen- und Windenergie. Die Außenpolitik als Fachgebiet gab er auf und kümmerte sich fortan im Bundestag um sein Ziel: 100 Prozent Erneuerbare. Er bekam den alternativen Nobelpreis, das Magazin Time nannte ihn einen Helden des grünen Jahrhunderts. Als die SPD regierte, schleuste Scheer ein Erneuerbare-Energien-Gesetz durchs Parlament. Es ließ Wind- und Solarkraft boomen.

Sein einziges Kind hat das alles von Jugend an mitbekommen. „Eurosolar war und ist eine breite Bewegung“, sagt sie. „Unsere kleine Familie ging komplett darin auf.“ Sie hat einen Teil der Kindheit in Stuttgart verbracht. Später zog die Familie nach Oberwinter nahe Bonn, wo Nina zur Schule ging; Hermann Scheer pendelte zum Wahlkreis in Schwaben.

Der Vater nahm die Tochter mit zu Parteiveranstaltungen. „Die SPD war immer eine klare Sache“, sagt sie. Mit dem 16. Geburtstag wurde sie Genossin.

Im Jurastudium arbeitet sie bei einer Juristengruppe von Eurosolar mit. Sie geht nach Berlin und promoviert, sie hat 2004 eine Tochter bekommen, die sie allein erzieht. Aber Hermann Scheer ist ja auch in Berlin. Sie wird Mitarbeiterin eines SPD-Umweltpolitikers, schließlich Geschäftsführerin von Unternehmensgrün, einer Lobby von Firmen, denen Umwelt- und Klimaschutz wichtig ist.

2010 stirbt Hermann Scheer plötzlich. Ein Jahr später findet eine Gedenkveranstaltung im Willy-Brandt-Haus in Berlin statt. Ach, die Tochter ist ja auch in der Partei, fällt einigen Sozialdemokraten auf. Sie wird zu SPD-Veranstaltungen eingeladen, und als Frau von Unternehmensgrün gehören solche Auftritte zu ihrem Job. 2012 holt sie der SPD-Landeschef Ralf Stegner zu einer Veranstaltung in den schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf, Hermann Scheer und Ralf Stegner haben zusammen gegen den Börsengang der Bahn gekämpft. „Mensch“, sagt Stegner zur Tochter, „du passt doch zu uns in den Landesverband.“ Für die Bundestagswahl 2013 ist im Norden ein Wahlkreis frei. Sie gewinnt die Nominierung gegen zwei Konkurrenten.

Welchen Anteil hat nun der Vater, der Name, das Netzwerk? Sie überlegt. „Da greift so viel ineinander, dass man das schwer auseinanderklamüsern kann. Zum Namen gehört aber jedenfalls eine eigenständige Person.“

Natürlich kennt sie den Berliner Tratsch: Dass Sigmar Gabriel sie sonst nie bei den Koalitionsverhandlungen in die Energiearbeitsgruppe entsandt hätte, sie als Neue im Bundestag. Blitzkarriere. Ohne den Namen? Undenkbar!
Und es ist ja wirklich selten, dass die Tochter in der nächsten Wahlperiode genau dort weitermacht, wo der Vater aufgehört hat. Wie er sieht sie den Klimaschutz als Gerechtigkeitsfrage – gegen die Kohletradition der Partei.

Sie ist neu im Bundestag, aber kein Neuling. Die Politik ist ihr vertraut. Sie hat intern um Details von Gabriels Energiewende-Novelle gerungen, den öffentlichen Aufschrei jedoch vermieden. In der Abstimmung enthielt sie sich. Sie passt auf, dass sie sich nicht zu stark exponiert.

Die Vorsicht könnte damit zu tun haben, dass sie die hässlichen Seiten der Politik kennt. Ihr Vater ist 2008 bekämpft worden, als er Energieminister in Hessen werden wollte, er war Teil des gescheiterten Projekts von Andrea Ypsilanti. Es ging damals hart gegen ihn persönlich, auch aus der SPD heraus. Er litt darunter. Es war für ihn ein Teil von Demokratie, auch ungeliebte Koalitionen einzugehen.

Mit Nina Scheer kann man über solche Erfahrungen nicht sprechen. „Ich möchte über mich in meiner Rolle als Tochter keine politische Selbstreflexion anstellen“, sagt sie. Es ist bestimmt nicht einfach, als einzige Tochter alleine dem großen Vater gerecht zu werden. Da könnte es eine zusätzliche Belastung sein, sich dabei auch noch von der Öffentlichkeit zuschauen zu lassen. Boris Palmer und Matthias Filbinger verhandeln die Beziehung zu ihren Vätern dagegen sehr öffentlich. Sie entlastet das vielleicht sogar.

Die Strategie von Nina Scheer hängt möglicherweise damit zusammen, dass sie sich erst im Beruf beweisen muss. Am Nachnamen braucht sie nicht zu arbeiten, sie muss sich einen Vornamen machen. Auf ihrer Internetseite kann man eine Hörprobe anklicken. Bach, d-Moll Partita für Violine, Chaconne, das Stück spielt sie. Sie erzählt, dass Musik in der Schulzeit einen großen Teil ihres Lebens ausgemacht habe. Sie hat nach dem ­Abitur zunächst Musik in Essen studiert, Geige. Sie musste es einfach probieren. „Aber auch schon damals blockte etwas in mir: Ich wollte keine berufliche Identität rein über die Musik.“ Sie machte noch den Abschluss und dann mit Jura weiter, die Promotion in Politikwissenschaften.

Nina Scheer hat Umwege genommen, bevor sie in die Politik ging. Auch Boris Palmer hat sich erst verabschiedet aus der Welt des Vaters, ins Studium, nach Sydney. Bei ihm waren es nur Abstecher. Bei Matthias Filbinger dauerte es am längsten von den dreien, bis die Politik ihn wieder anzog: ein halbes Berufsleben.

Als der Vater 1978 zurücktrat, war der Sohn schon aufgebrochen. In seine Welt: Technik und Wirtschaft. Er wurde Manager einer Firma, die Computersysteme verkauft. Stellvertretender ­Geschäftsführer, Geschäftsführer, Vorstand. Millionenaufträge. Heute ist er Unternehmensberater.

„Söhne wollen immer besser sein als ihre Väter“, sagt er. Natürlich hat er einen anderen Weg eingeschlagen. In der Welt der Politik hätte er keine Chance gehabt gegen den Vater.
Seit Hans Filbinger 2007 gestorben ist, hat sich ein Konflikt zwischen Matthias, dem einzigen Sohn, und Susanna Filbinger-Riggert, der ältesten Tochter, entwickelt. Die Schwester hat ein Buch über sich und den Vater geschrieben, in dem sie seine Tagebücher verarbeitet.

Kennen Sie die eigentlich? – „Die Schwester oder die Tagebücher?“ Er lässt die eisige Pointe wirken. Er hat das Buch bekämpft. Irgendwie bekam er das Manuskript vorher in die Hände. „Ich hatt’s in zwei Stunden durch. Da waren Stellen, wo sie mich dermaßen niedergemacht hat, schon am Anfang. Der Bruderneid zog sich durch.“ Beim Verlag setzte er Änderungen durch. Er will nicht, dass die Schwester über das geistige Erbe des Vaters herrscht. Älteste Tochter gegen Stammhalter, so einfach? „Ja. So einfach kann man es sagen.“

Das Durchhaltevermögen des Jungen ist dem Vater wichtig gewesen. Die Familie fährt im Urlaub in die Schweiz zum Bergsteigen. Marsch! Marsch! Im Sommer 1974 steigt der Vater mit dem Sohn auf den Montblanc, den höchsten Gipfel der Alpen: 4.800 Meter.

Am 14. August 1994, genau 20 Jahre später, besteigt der Sohn den Kilimandscharo. Mehr als 5.800 Meter, ohne Vater, sein eigener Gipfel. „Hier bist du angekommen, allein mit deiner Muskelkraft hast du es geschafft.“
Zwei Jahre später tritt Matthias Filbinger in die CDU ein.

Er wird Mitglied des Bezirksbeirats in Vaihingen, des Stadtteilparlaments. Wenige Sitzungen im Monat. Telefonate zur Vorbereitung, erst mal sondieren, im Konjunktiv vortasten. So hat der Vater Verhandlungen vorbereitet. Es gefällt ihm. Weil der Bahnhof Stuttgart 21 gebaut werden soll, will die CDU im Gemeinderat den Busbahnhof vom Stadtzentrum nach Vaihingen verlegen. Hunderte Busse samt Lärm und Schmutz in den sauberen Straßen von Vaihingen?

Filbinger führt die Gegner an und schlägt vor, den Busbahnhof an den Flughafen zu verlegen. Die CDU-Chefin im Gemeinderat will ihn schurigeln. Er stutzt. Marsch, Marsch? „Mich zwingt niemand, in der CDU zu sein“, sagt er. „Ich kann auch wieder austreten.“ Der CDU-Kreisvorsitzende bittet zum Krisengespräch – und erscheint nicht. „Geben Sie mir bitte ein Austrittsformular“, sagt Filbinger zum Pförtner.

Vor der nächsten Wahl fragen die Grünen an. Er kehrt zurück in den Bezirksbeirat, auf dem Grünen-Ticket, aber parteilos. Er wird zu einer Filmvorführung eingeladen, in der Dokumentation geht es um den Widerstand gegen das AKW im südbadischen Whyl. Im Film sagt Hans Filbinger den Satz, dass die Lichter ausgehen werden, er bekämpft die Demonstranten mit harten Polizeieinsätzen. Was denkt der Sohn darüber?, fragen die Grünen. Matthias Filbinger steht vorn und sagt: „So war mein Vater.“

Filbinger grün, vor der Landtagswahl 2011, wird es eine große Story. Frankfurter Allgemeine, Spiegel, dpa, SWR, holländisches Fernsehen. Die Grünen freuen sich über die Symbolfigur, und Filbinger hat Spaß. Er macht sich den berühmten Namen jetzt gern zunutze. Um einen Riesen zu überragen, kann man sich ihm auch einfach mal auf die Schulter setzen.

Er wird Grünen-Mitglied. Am Montagmorgen nach Kretschmanns Triumph ist er auf der Seite drei der Süddeutschen, darunter recht klein ein Ministerpräsident, Kurt Beck, auch in Rheinland-Pfalz ist gewählt worden. Sogar Maybrit Illner lädt Filbinger ein. „Durchaus ganz ähnliche Gefühle“, sagt er, „ganz ähnlich wie auf dem Kilimandscharo.“

Er zieht in den Grünen-Kreisvorstand ein, kandidiert für den Gemeinderat in Stuttgart. Er schafft es nicht, aber die zweitmeisten Stimmen in Vaihingen, das ist doch was. Oder nicht? Am Tag, als die Grünen ihre Mitglieder für den Bezirksbeirat bestimmen, hat seine Frau Geburtstag. Er lässt sich entschuldigen, formuliert die Bewerbung schriftlich. Aber da reicht es nur zum Stellvertreter.

„Stellvertreter?“ Er schaut, als wollte ihm jemand den Killesberg als Kilimand­scharo verkaufen. Auf dem Feld des Vaters kann er keine Niederlagen brauchen, und, verdammt, er muss gar nichts. Er ist nicht gefangen. ­Matthias Filbinger ist frei. Er bleibt Mitglied der Grünen, mehr nicht.

Vielleicht war die Politik nur eine feine Episode. Wie der Biss in ein köstliches libanesisches Konfekt. Oder wie ein kurzer Besuch zu Hause in der Politik, wo Boris Palmer wohnt und Nina Scheer gerade eingezogen ist.

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