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Wer war Rudi Dutschke?

Seit sich der Todestag von Rudi Dutschke zum 25. Mal jährte, wird um eine geistig-politische Einordnung seiner Person neu gerungen. Held oder Scharlatan? Revolutionär, Brandstifter oder Pazifist? Sein Patenkind erinnert sich.

Kurz vor Weihnachten 1979 tauchte Rudi Dutschke bei uns zu Hause in Hamburg auf. Er übernachtete ein paar Tage. Gelegentlich traf ich ihn im Haus. Manchmal plauderte ich mit ihm im Wohnzimmer, wenn Klaus Rainer Röhl gerade in der Küche verschwunden war. Der liebte es, seine Gäste zu bewirten, und Rudi liebte es, derart versorgt zu sein. Seit 1967 hatte es immer ein freies Bett im Hause Röhl für Rudi Dutschke gegeben. Und wenn’s ihn nach Hamburg verschlug, machte er auch regelmäßig Gebrauch davon. Wenige Tage zuvor hatte Dutschke seinen Einstieg in die Politik und damit auch eine mögliche Rückkehr nach Deutschland in Bremen besiegelt. Die dortige Bremer grüne Liste hatte am 7. Oktober 1979 als erster Verband den Einzug in ein Landesparlament geschafft, und Dutschke erlebte am 14./15. Dezember die Eröffnungssitzung der Bürgerschaft mit und sollte die Bremer Grünen als deren Delegierter auf der Gründungsveranstaltung der Bundesgrünen am 10. Januar 1980 in Karlsruhe vertreten. Ich interessierte mich für das, was zu Hause passierte, damals nur am Rande. Die Weihnachtsferien hießen für mich, O.H., Inga, Jessika, Jophie, Thomas und Tobi und viele andere unter einen Hut zu bringen, und es war jeden Tag entweder eine Party oder das Madhouse, das ChaCha oder ein anderes Treffen angesagt. Das hieß nicht, dass ich mich nicht gerne mit dem, wie immer wahnsinnig freundlichen, revolutionswachen und gleichzeitig erschöpft und müde wirkenden und eher schäbig angezogenen Gast mit den angegrauten Haaren unterhielt. Mir waren auf eine anregende Weise die Grünen daher sehr früh gegenwärtig. Unsere Kleinfamilie, Klaus Röhl, seine 21-jährige Freundin Regina und wir, seine 17-jährigen Töchter, waren noch mit den letzten Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt und so war mein Abschied von Rudi vor allem hektisch. Plötzlich raste er mit Röhl los. Er musste seinen Zug nach Aarhus in Dänemark, wo er mit seiner Familie lebte, erreichen und auf den allerletzten Drücker auch noch die Weihnachtsgeschenke für seine beiden Kinder und seine Frau besorgen. Ich dachte: Das ist wieder mal typisch für diesen permanenten Weltrevolutionär! Am ersten Weihnachtstag erfuhr ich, dass Rudi am Heiligabend in seiner Badewanne plötzlich gestorben war, vermutlich an den Spätfolgen des Attentats vom April 1968. Mit 39 Jahren. Betroffen erinnerte ich mich daran, wie er das erste Mal im Herbst 1967 – ich war gerade fünf Jahre alt geworden – zu Besuch kam. Meine Eltern hatten sich gerade ihr Haus in Blankenese gekauft und unterhielten sich gern über die berühmten Hamburger Medienestablishmentpartys, die fast an jedem Wochenende stiegen. Kein berühmter Name bewegte dabei so sehr, dass ich es erinnere. Bis Klaus Röhl seiner Frau Ulrike Meinhof sagte, Rudi Dutschke kommt zu uns. Ich schnappte den Namen auf und merkte sofort, dass beide Eltern sich anders benahmen als sonst. Irgendwie elektrisiert, verunsichert, voller Erwartung. Ich fieberte mit und war enttäuscht. Da stand ein unrasierter, sehr kleiner Mann in der Tür, der ganz anders aussah, als ihn meine Eltern, die Rudi Dutschke schon vor einiger Zeit kennen gelernt hatten, beschrieben hatten. Unter Volldampf mit Weltbesserung und Befreiungskampf beschäftigt, sprang er dann allerdings mitten ins Gespräch. Hypermotiviert, sportlich, strahlend und permanent dozierend. Ich verstand natürlich nichts. Beide Eltern waren damals von Dutschke fasziniert. Ulrike Meinhof hielt ihn für einen großen Revolutionär, lauschte seinen Worten gebannt, bewunderte ihn für seine mitreißenden Reden, die sie selber bei ihren häufigen Reisen nach Berlin in einigen, politischen Podiumsdiskussionen miterlebte. Sie sah in ihm einen Weggefährten. Klaus Röhl, als Typ eher spielerisch und zynisch, war dagegen von dem ungeheuren Ernst, dem Fehlen jeder Ironie in Dutschkes Wesen und Auftritt begeistert. Er wurde zu einem treuen Anhänger von Dutschke, unterstützte dessen Wirken, lieh ihm mit seiner Zeitschrift konkret das erste große Forum für Interviews und Artikel und bezahlte Dutschke gut. Röhl hielt Dutschke für „christusartig“, „ehrlich“ und „vertrauenswürdig“. Es war eigentlich nur ein gutes Jahr zwischen 1967 und 1968, in dem Dutschke zum unumstrittenen Kopf der so genannten Außerparlamentarischen Opposition aufstieg. Er war der Wortführer gegen den Krieg in Vietnam und rief zur Solidarität mit den Befreiungskämpfen in der Dritten Welt auf. Er plädierte für „direkte Aktionen“ und andere Kampfformen in der westlichen Welt mit dem Ziel, mit Bewusstseinsveränderungen die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse zu sprengen. Dann das Attentat. Am 11. April 1968 zielt Josef Bachmann auf offener Straße aus nächster Nähe direkt auf Dutschkes Kopf und drückt drei Mal ab. Der Mordversuch an Dutschke, der den Anschlag schwer verletzt überlebt, wird zu einem Eskalationspunkt in der Gewaltbereitschaft der linken Opposition in der Bundesrepublik. Dutschkes eigene Gewaltbereitschaft wurde durch diese Gewalt, die ihm selber widerfuhr ein Stück weit aus dem öffentlichen Dutschke-Bild getilgt. Ich erlebte in Berlin zweieinhalb Jahre lang die Aufregung der großen Vietnam-Demonstrationen, der Studentenrevolte und das Unterhaken der Demonstranten, den Dauerlauf auf die Barrikaden, das Ho-Tschi-Minh-Schreien persönlich mit. Auch das Drama um die Schüsse auf Rudi Dutschke, seine späteren mühsamen Genesungsversuche – all dies gehörte zu unserem Leben, wurde bei uns zu Hause diskutiert, besprochen, mitgefühlt. Seit Anfang der siebziger Jahre sah ich Dutschke in Hamburg wieder, als er uns dann, von Aarhus aus Dänemark kommend, des Öfteren besuchte und wieder mit leuchtenden Augen politisierte. Zu meiner nicht kirchlichen Konfirmationsfeier im Herbst 1976 an meinem 14. Geburtstag hatte Klaus Röhl viele Verwandte und einige seiner Weggefährten eingeladen, unter anderen auch Dutschke mit seiner Familie. Mein Vater hatte Rudi gebeten, zu meinem Patenonkel zu werden, was er gerne annahm, was ihn freute und was ihm ernst war. Soweit ich mich erinnere, kam dann zu der Feier aber nur Gretchen mit den beiden Kindern Hosea Che und Polly, während er selber wegen irgendwelcher Termine erst ein paar Tage später in Hamburg eintraf und dann erst die Geschenke für meine Schwester und mich – jeweils eine Halskette mit einem Riechfläschchen – überreichte. Rudi war hinreißend sympathisch, entwaffnend optimistisch und selber fast kindlich, als er zum Ausdruck zu bringen versuchte, dass wir nun ein neues, irgendwie schon etwas erwachsenes Verhältnis haben würden. Er gab den Gesprächen auch mit Kindern oder Jugendlichen, wenn er sich überhaupt interessierte, einen verblüffenden Ernst, der sein Gegenüber in eine besondere Stimmung versetzte. Dutschke hatte in diesen Jahren bis zu seinem Tod allerdings auch oft etwas an sich, was zum Erbarmen war. Etwas Elendes, Verzweifeltes, Ruheloses und Weltfremdes, was er höchst erfolgreich hinter seiner Revolutionsfassade zu verschließen suchte. Seine Reden hatten etwas Stereotypes. Seine Theorie-Tiraden wurden inhaltlich oft langweilig und ziellos, worüber allerdings seine Demagogik oder sein Charisma, je nach Geschmack des Zuhörers, hinwegtäuschte. Rudi hatte irgendwie Narrenfreiheit. Die meisten schienen sich selber so viel Rücksicht verordnet zu haben, dass er überall das ideologische Alphatier blieb, wo er auch auftrat. Er war schon damals der berühmte Studentenführer, der einen Kopfschuss überlebt hatte. Er predigte, hielt Hof, tourte durchs Land und füllte Säle, aber vermutlich nur noch mit Vertretern einer kleinen festen Klientel. Er fand nie zu seiner Form und gesellschaftsbewegenden Wirkung von 1968 zurück, als er in der heißen Phase der so genannten Studentenbewegung, deren erklärter Führer er war, kurzzeitig einen internationalen Ruf erwarb. Er litt. Er promovierte schließlich über Lenin, schrieb Artikel und versuchte seinen eigenen Revolutionsfaden wieder aufzunehmen, was ihm kaum gelang. Auch finanziell ging es ihm bis zuletzt nicht gut. Rudi Dutschke konnte seinen eigenen frühen Ruhm weitaus weniger effizient ausnutzen, als es seine Erben heute tun. Die Grünen wären vielleicht sein Comeback gewesen. Sie wären unter Umständen seine Bühne geworden, wenn entweder die Grünen sich auf die antikapitalistische Sozialrevolution eingelassen hätten, für die Dutschke steht, oder Dutschke umgekehrt, was er immerhin bereits ausprobierte, zum Anti-AKW-Menschen, zum Öko-Freak, zu einem echten Urgrünen geworden wäre. Die Grünen hätten für ihn, wie sie es für so viele erfolgreiche und gescheiterte Achtundsechziger und Berufsrevolutionäre aller Couleur waren, eine mögliche Zukunft darstellen können. Der Tod riss ihn aus dieser Perspektive heraus.

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