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(picture alliance) Für die neuen Mütter bleibt kaum Zeit für Kinderglück

Kinder und Karriere - „Weibliche Lebensläufe werden männlicher“

Berlins konservative Familienpolitik lässt die Frauen im Stich, und die Männer hauen ab: „Wir müssen die Lebensabschnitte anders organisieren“, sagt der Familienforscher Hans Bertram im CICERO-Gespräch

Herr Bertram, woran liegt es, dass ausgerechnet am Weihnachtsfest Familienkräche zur Regel werden?
Weihnachten ist eines der wichtigsten Familienrituale. Es ist mit ganz hohen Harmonie-Hoffnungen verbunden. Am Weihnachtsabend ist meistens noch alles ganz wunderbar, aber schon am zweiten Tag kommen all die Konflikte, die natürlich in Familien genauso vorkommen wie in jeder anderen Gruppe auch, zum Vorschein. Zum Beispiel ändern sich die Geschwisterpositionen, die man mal als Junge und Mädchen eingenommen hat, im Laufe des ganzen Lebens nicht mehr. Die ursprünglichen Beziehungen, die man zu seinen Eltern entwickelt hat, ändern sich auch nicht. Wenn die Kinder während ihrer Pubertät zu ihren Eltern in konflikthafter Konfrontation standen – und umgekehrt –, haben sie ein Leben lang auch offensichtlich schwierige konflikthafte Beziehungen. Das belegen viele Untersuchungen. Und Weihnachten ist nun einmal der Zeitpunkt, an dem alle diese Beziehungen wieder thematisiert werden können, weil die ganze Familie ausnahmsweise wieder zusammensitzt.

War das früher auch so?
Man kann das nur für die fünfziger, sechziger Jahre sagen. Das Erstaunliche ist, dass diese Familienrituale unglaublich konstant sind.

Sie haben am siebten Familienbericht der Bundesregierung mitgearbeitet. Jetzt ist der achte Bericht erschienen. Hatten Ihre Vorschläge und die der anderen Familienforscher irgendwelche Folgen?
Ja. Die Familienpolitik hat das einkommensabhängige Elterngeld eingeführt und umgesetzt. Insofern gab es da sicherlich einen direkten Einfluss. Aber all die anderen Dinge, die wir angeregt haben, sind in der Politik nicht angekommen. Wir hatten vorgeschlagen, die typische männliche Berufsbiografie zugunsten der eher diskontinuierlichen weiblichen Lebensverläufe durch gesetzliche Maßnahmen zu verändern. Jetzt läuft es genau in die andere Richtung. Die Bundesregierung versucht, die weiblichen Lebensverläufe den männlichen anzupassen, und das war nicht die Botschaft unseres Familienberichts.

Wie meinen Sie das?
Die männliche Berufsbiografie folgt der klassischen Dreiteilung, die seit Bismarck gilt: In der Jugend wird gelernt, im Erwachsenenalter arbeitet man, und dann darf man sich erholen. In diesem Lebenslauf gibt es keine Zeit für Fürsorge. Wir haben uns gefragt: Wie kann ich eigentlich in diesen typischen Lebenslauf mehr Zeit für Fürsorge einbauen? Unser Vorschlag eines einkommensabhängigen Elterngelds verkörperte die Idee, dass Fürsorge genauso wichtig ist wie der Beruf. Es ging darum, den Lebensverlauf so zu organisieren, dass man immer wieder Zeiten für Fürsorge oder Zeiten für Bildung einbauen kann. Es gibt eine Berufsgruppe in Deutschland, die ist ein wunderbares Beispiel, nämlich die jungen Offiziere. Die dürfen das. Sie machen zunächst eine akademische, dann eine militärtechnische Ausbildung, darauf folgen sieben Jahre Dienst und danach noch einmal zwei Jahre einer Ausbildung nach eigenem Wunsch – und zuletzt gehen sie ganz woanders hin. Anders gesagt: Es gibt in der Bundesrepublik durchaus Muster, wie man Lebensverläufe anders organisieren kann.

Haben die Offiziersehen dann, statis­tisch gesehen, auch mehr Kinder als der Durchschnitt?
Ja, aber das hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass sie eine sehr sichere Lebensperspektive haben. Für den Rest gilt das Gegenteil, vor allem für die Frauen, aber auch für die jungen Männer. Von ihnen erwarten wir ein extrem hohes Maß an Flexibilität. Wir fordern förmlich von der nachwachsenden Generation, dass sie mit höchster Qualifikation und höchstem Einsatz beruflich tätig wird. Aber dieses Berufsmuster folgt eigentlich dem klassischen männlichen Modell. Und das war nicht die Botschaft des siebten Familienberichts. Wir haben offenbar die klassische, über hundert Jahre alte Vorstellung des männlichen Lebenslaufs kollektiv verinnerlicht und können uns gar nicht vorstellen, dass man das Leben ja auch anders nutzen könnte. Es ist ein Kernproblem der gegenwärtigen Politik, dass man sich da nicht wirklich herantraut.

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Was genau erwarten Sie denn von einer modernen Familienpolitik?
Sie muss Antworten auf die Frage finden, wie man Zeitsouveränität, die bisher im Wesentlichen beim Arbeitgeber sitzt, so organisiert, dass der Arbeitnehmer auch Familienzeit gegen die Arbeitszeit tauschen kann. Die Verkäuferin, die im KaDeWe noch um 20 Uhr verkauft, kann machen, was sie will – da gibt’s keine Familienzeit. Sie hat auch keine Chance zu sagen: Ich will jetzt nicht um 20 Uhr Schmuck verkaufen, ich will lieber um 10 Uhr arbeiten; denn die Leute kaufen eben nur um 20 Uhr Schmuck. Da haben die Gewerkschaften viel zu lange weggeschaut und nicht verstanden, dass Zeit ein ganz wesentliches Element ist, das eigentlich in die Arbeitsgestaltung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaft hineingehört – und nicht nur das Geld.

Aber glauben Sie denn wirklich, dass gesetzliche Maßnahmen, inklusive arbeitsrechtliche Regulierungen, ein offenkundig jahrhundertealtes, tradiertes, kulturelles Familienbild verändern können?
Das kann nicht allein durch die Politik geschehen. Es ist völlig klar, dass auch die Gesellschaftswissenschaften versuchen müssen, neue Modelle zu konstruieren. Wir müssen uns zum Beispiel die Frage stellen, wie ein unterbrochener Lebenslauf auch finanziell gestaltet werden kann. Das betrifft auch die Renten. In Holland zum Beispiel bezieht man nicht die Rente am Lebensende, sondern zwischendurch, wenn man sich fortbildet oder sich um Kinder kümmern will.

Das setzt jedenfalls voraus, dass wir uns verabschieden von dem tradierten Bild des normalen Lebenslaufs.
Stimmt. Und wir müssen jetzt eine neue Vorstellung entwickeln, in der das Leben phasengeteilt ist, wobei aber nicht jede neue Phase auf der bekannten alten Lebenstreppe ein gleichsam staatlich vorgeschriebener Absatz ist. Wir müssen etwas Neues machen können, ohne dass wir, sobald wir unterbrechen, aus dem Beruf draußen sind.

Das gilt nicht nur für Frauen.
Nein, auch für Männer. Wer heute in einer Führungsposition ist, glaubt, dass er jeden Tag mindestens zwölf Stunden im Büro sein muss. Diese Art von Arbeitskultur hat eine normative Vorstellung vom korrekten Leben auf der Karriereleiter entwickelt, die eigentlich unserer heutigen Zeit nicht angemessen ist. Und den Partnerschaften auch nicht.

Haben Sie sich einmal die Scheidungsrate von führenden Politikern angeschaut?
Klar, die haben wir uns ziemlich genau angeguckt. Sie stellen bei bestimmten Berufen, zum Beispiel bei Politikerinnen, fest, dass 40 bis 50 Prozent kinderlos sind. Und 70 bis 80 Prozent sind auch partnerlos. Die meisten weiblichen Bundestagsabgeordneten haben überhaupt keine Kinder und meistens auch keinen Partner.

Nun, sie sind mit ihrer Partei, ihrer Arbeit und ihrem Ego verheiratet.
Es ist ein riesiges Problem unserer Gesellschaft, dass wir glauben, permanente Präsenz im Beruf zu jeder Tages- und Nachtzeit steigert die Leistungsfähigkeit der Individuen oder Firmen. Das ist Quatsch. Was aber auf der Strecke bleibt, ist die Familie und die Fürsorge für die Kinder und die Alten.

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Immerhin sieht man inzwischen öfter Väter mit ihren Kindern auf den Spielplätzen. Ist dieser Anblick statistisch signifikant?
Im Gegenteil, die signifikante Tendenz in Deutschland ist, dass sie heute bei den 40- bis 45-jährigen Männern – und das ist ja eigentlich die Altersgruppe, in der traditionellerweise die meisten Kinder bei ihren Vätern leben sollten –, dass also 45 Prozent dieser Männer ohne Kinder leben, weil sie die bei den Frauen lassen. Das heißt nicht, dass sie sich möglicherweise nicht um die Kinder kümmern. Der Alltag liegt bei der Mutter, und ihr wird auch klar gesagt: „Du musst das auch noch ökonomisch stemmen.“ Wir reden immer über die neuen Väter – doch es sieht eher so aus, als ob ein beträchtlicher Teil der Männer aus der Fürsorge aussteigt. Und das ist eine Tendenz, die Sie nicht nur in Deutschland beobachten, sondern auch in vielen anderen Ländern. Das Erstaunliche ist wirklich, dass das Aufgaben-Portefeuille von Frauen deutlich wächst, während ihr Einkommen stagniert. Und sie bekommen auch nicht die zeitliche Entlastung für die Fürsorge ihrer Kinder.

Aber Sie werden doch nicht abstreiten, dass der Staat sehr viel Geld ausgibt für die direkte individuelle Förderung der Familien, wie zum Beispiel das Elterngeld – 189 Milliarden Euro jährlich.
Das sind zunächst unterschiedliche Geldtöpfe. In unserem föderalen System kann der Bund in der Regel nur, was die Familie angeht, über finanzielle Leistungen wirken. Es ist schon ein unglaublicher Fortschritt, dass Frau von der Leyen durchgesetzt hat, den Bund beim Ausbau der Kinderbetreuung zu beteiligen. Das wahre Problem liegt jedoch darin, dass sich die Politik so unglaublich schwertut, die historische Herkunft unserer Rollenvorstellungen in der Familie infrage zu stellen. Man kann zum Ehegattensplitting stehen, wie man will, aber der Effekt ist beispielsweise gerade jetzt, dass sich die maximale Wirkung des Ehegattensplittings entfaltet, wenn der Mann mit 55 Jahren das höchste Einkommen bezieht und seine Frau einen geringeren Halbtagsjob hat. Dann sind aber in der Regel die Kinder schon aus dem Haus. Im Grunde müsste man heute die Altersgruppe der Älteren höher besteuern und das Geld, das wir nicht brauchen, weil die Kinder aus dem Haus sind, den jungen Erwachsenen geben. Doch aus irgendwelchen Gründen ist dieser Bereich ideologisch so aufgeladen, dass sich nichts ändern lässt.

Stehen finanzielle Zuwendungen an Familien denn nachweisbar in einem Zusammenhang mit der Geburtenrate?
Nicht unmittelbar. Wir haben eine durchschnittliche Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau. Und es gibt zwei Gründe, warum wir eine so geringe Geburtenrate haben. Wenn ich zunächst einmal den Lebensverlauf von Frauen anschaue, unterscheidet sich Deutschland in einem Punkt signifikant von fast allen anderen Ländern. Wenn wir etwa die USA als Beispiel nehmen, so gibt es da 1400 Kinder auf 1000 bis zu 30-jährige Frauen. Und dann kommen in den folgenden Jahren für diese Alterskohorte noch einmal etwa 700 Kinder hinzu – insgesamt kommen die Vereinigten Staaten auf 2,1 Kinder pro Frau. Hört sich schrecklich an, ist aber nur Statistik. Und wenn Sie Deutschland anschauen, dann gibt es etwa 700 Kinder auf 1000 bis zu 30-jährige Frauen. Später werden auch noch einmal 700 Kinder, also genauso viele wie in Amerika, geboren. Aber die fehlenden 700 Kinder, die holen wir nicht mehr auf, weil natürlich aufgrund biologischer und anderer Faktoren die Kinderzahl nicht mehr größer wird. Und deswegen bleibt die Geburtenrate bei uns konstant.

Was also wäre der zweite Grund für diese Zurückhaltung der Deutschen?
Es liegt unter anderem an den extremen Unsicherheiten in der Lebensplanung, die wir der jungen Generation, zumal den Frauen, in praktisch allen Berufssparten zumuten. In Deutschland ist es offensichtlich so, dass das Maß an Sicherheit für die junge Generation eher schwindet und nicht steigt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum unsere Gesellschaft den jungen Leuten zu viel zumutet

Unsicherheit ist aber ein psychisches Problem. Leben wir immer noch in einer Gesellschaft, die aufgrund ihrer historischen Erfahrungen davon ausgeht, dass alles früher oder später schiefgeht?
Ja, aber möglicherweise muten wir gerade deshalb jetzt den jungen Leuten zu, ganz viel Berufsqualifikation zu Anfang zu erwerben und dann sozusagen auf hohem Leistungsniveau ins Berufsleben einzusteigen, während sie in der angelsächsischen Tradition auch schon mit 23 ins Arbeitsleben eintreten können und dann später noch ihren MA oder MBA berufsbegleitend machen können. Das kennen wir einfach nicht. Und auf diese Weise haben unsere jungen Leute natürlich das Problem, wenn sie 30, 32 Jahre alt sind, dass sie keine Zeit für die Familiengründung haben, sondern ihre Karrierechancen nutzen wollen. Wir maximieren das Humankapital der nachwachsenden Generation und reduzieren das Sozialkapital. Und das ist im Augenblick die Tendenz, die wir in unserer Gesellschaft beobachten. Dass das dritte und vierte Kind heute fehlt, hängt damit zusammen, dass die Eltern sich später für Kinder entscheiden, das ist ein ganz einfacher Timingeffekt. Also, wenn eine Frau, um es ganz deutlich zu sagen, mit 35 mit einem Mann schläft, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass daraus ein Kind entsteht, halb so groß, wie wenn sie das mit 25 tut. Wer sich, wie in Deutschland üblich, mit 28 Jahren für eine Partnerschaft entscheidet, wird das letzte Kind, statistisch gesehen, mit 32 Jahren zur Welt bringen. Das heißt, wir müssten in diesen vier Jahren ungefähr das Doppelte an Kindern produzieren wie unsere Großeltern, die sich mit 23 für das erste Kind entschieden haben. Und das geschieht natürlich nicht.

Sterben die Deutschen also doch noch aus?
Diese Angst vor dem Aussterben hat es immer gegeben, auch schon im 19. Jahrhundert. Jedoch sind alle diesbezüglichen Prognosen nie eingetreten. Diese Deutschen waren irgendwie zäher als ihre Propheten.

Die Deutschen – oder die Einwanderer?
Der französische Historiker Braudel hat einmal formuliert: Europa war immer ein wandernder Kontinent. Das heißt, die Leute sind immer kreuz und quer durch Europa gewandert, und dummerweise oder glücklicherweise liegt Deutschland schlicht in der Mitte, also man muss da irgendwie durch, und dann bleiben halt immer irgendwelche Leute einfach da. Es fällt uns wahnsinnig schwer zu akzeptieren, dass wir Deutschen als Volk im Grunde aus diesen Wanderungen entstanden sind. Natürlich gibt es viele Gesellschaftswissenschaftler, die glauben, dass es unbedingt zwei Kinder pro Frau sein müssten, um eine gewisse Stabilität zu garantieren. Das hört sich gut an, hat aber zwei Rechenfehler.

Und die wären?
Nun, wenn eine Bevölkerung jetzt älter wird, was seit den vergangenen 30 Jahren der Fall ist, dann gibt es einfach mehr Menschen. Und zweitens wird bei diesen Prognosen immer davon ausgegangen, dass das Humankapital der nachfolgenden Generation gleich bleibt. Doch heute sind die Kinder viel gebildeter als die früheren Kinder. Mein österreichischer Kollege Lutz sagt, man braucht eigentlich, um den wirtschaftlichen Wohlstand einer Gesellschaft zu sichern, ungefähr 1,5 bis 1,6 Kinder, weil sozusagen die fehlenden 0,5 durch die höhere Qualifikation der nachwachsenden Generation ersetzt wird. Das heißt, die Demografen rechnen statisch, doch man sollte vielmehr davon ausgehen, dass ein Land, das über mehr beruflich Qualifizierte verfügt als früher, seine gesellschaftlichen Verpflichtungen trotzdem erfüllen kann. Und schließlich tut sich Deutschland wahnsinnig schwer damit, einfach zu akzeptieren, dass man in Zuwanderer schlicht und einfach investieren muss. Man muss halt in den sogenannten Problemvierteln die besten Schulen finanzieren und den Leuten in den wohlhabenderen Stadtvierteln sagen, zahlt eure Schule selbst.

So einfach ist das?
Das ist verhältnismäßig einfach (lacht), man kann es nur politisch nicht durchsetzen.

Das Gespräch führten Marie Amrhein und Michael Naumann

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