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NSU - „Bedeutender als RAF-Prozesse”

Der Terror der NSU machte deutlich, dass die deutsche Sicherheitsarchitektur bröckelt. Der ehemalige Verfassungsschutz-Beamte Winfried Ridder über den anstehenden Prozess, die Verantwortung der Sicherheitsbehörden und seine Forderung, der Polizei das Zepter in die Hand zu geben

Autoreninfo

Lisa Schneider studierte Politik-, Medien- und Sozialwissenschaften in Düsseldorf und Prag.

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Herr Ridder, Sie waren selbst viele Jahre für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) tätig, das weitestgehend im Verborgenen agiert. Waren Sie Teil eines 007-Vereins oder sitzen im Verfassungsschutz angestaubte Beamte an ihren Computern?
Nichts  von beidem. Es ist ein verständliches Klischee, was hier vorherrscht. Schon der Name des Verfassungsschutzes, der nun 60 Jahre existiert, ist missverständlich. Keine Behörde kann für sich in Anspruch nehmen, die Verfassung zu schützen. Das ist unbestritten die alleinige Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Da beginnt die Problematik im Selbstverständnis.

Welche Zuständigkeiten finden sich tatsächlich beim Verfassungsschutz?
Seit der Gründung ist der Kern der Ämter, verfassungsfeindliche extremistische Bestrebungen im linken, rechten und seit dem 11. September auch im islamistischen Spektrum zu beobachten, zu analysieren und – das kann und muss man von den Verfassungsschutzbehörden verlangen –eine Prognose der Trends zu liefern, die in diesen extremistischen Feldern zu beobachten sind.

Diese Trends scheinen sie ausgerechnet im Rechtsradikalismus verschlafen zu haben. In Ihrem Buch Verfassung ohne Schutz schreiben Sie, dass sich die rechte Szene in den 90er Jahren radikalisierte und stellen fest: „Die zuständigen Experten im BfV sahen eine solche Entwicklung nicht“. Was hinderte sie daran, das zu sehen?
Heute ist unbestritten, dass der Rechtsextremismus in der Nach-Wendezeit militanter, ideologischer, gewaltorientierter und jünger geworden ist. Diese Entwicklung hat der Verfassungsschutz nicht mit der gebotenen Sorgfalt und Intensität kommuniziert und damit die Öffentlichkeit und die Politik darauf aufmerksam gemacht.

Offensichtlich machten sie es auch der Polizei nicht deutlich. Im Falle der NSU-Mordserie beharrte diese darauf, es könne sich nicht um rechtsradikale Morde handeln, da es keine Bekennerschreiben gebe.
Die Hauptverantwortung für die fehlerhafte Bewertung liegt beim Verfassungsschutz und nicht bei der Polizei. Es hätte zu den originären Aufgaben des Verfassungsschutzes gehört, diese politischen Entwicklungen zu beschreiben und zu kommentieren. Die Polizei hat im Kern die Aufgabe der Gefahrenabwehr, der Strafverfolgung. Dennoch hat sie in ihrer Fahndungsstrategie gravierende Fehler gemacht, gerade mit der Verengung auf den Bereich der Organisierten Kriminalität.

Die Pannenserie setzt sich im Vorfeld des NSU-Prozesses gegen Beate Zschäpe, der am 17. April in München beginnt, scheinbar nahtlos fort. Das kann doch nicht wahr sein, oder?
Die ersten Einlassungen des zuständigen Senats vor Beginn des Prozesses am 17. April zeigen, dass im Bereich der Justiz noch immer nicht begriffen worden ist, welches Maß an Sensibilität und Vorsicht notwendig ist in so einem heiklen Fall - und zwar nicht nur innen-, sondern auch außenpolitisch. Das Recht auf Gestaltung des Verfahrens hat selbstverständlich der Staatsschutzsenat des OLG München, beziehungsweise dessen Vorsitzender Manfred Götzl. Aber wenn der es von sich aus nicht begreift, dann muss ihn die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen. Gott sei Dank sind wir da auf dem richtigen Weg.

Der Anwalt der Familie Simsek, Stephan Lucas, wirft dem OLG München vor, die Bedeutung der Strafsache zu unterschätzen. Der NSU-Prozess sei in seiner Relevanz dem RAF-Prozess gleichzustellen. Wie sehen Sie das?
Ich denke, dass die Bedeutung dieses Prozesses möglicherweise noch weit über die politische und zeitgeschichtliche Bedeutung der RAF-Prozesse in Stammheim hinausreicht. Denn Sie müssen sich vor Augen führen: Hier geht es nicht nur um die Befriedung innerstaatlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern dieser Prozess hat eine starke außenpolitische Komponente. Wenn der Richter zunächst den Vorschlag machte, der türkische Botschafter solle sich doch bitte wie alle anderen Staatsbürger dieser Republik morgens um fünf Uhr in die Reihe vor dem Gerichtsgebäude einreihen, dann spricht das für sich.

Werden wir im Laufe des Prozesses noch weitere Versäumnisse der Polizei, der Staatsanwalt und des Verfassungsschutzes erleben müssen?
Ja, ich fürchte und ich gehe davon aus, dass eine Entrüstung und eine Scham in diesem Land entstehen wird, wenn die in den letzten Monaten bekannt gewordenen Ermittlungsfehler und –schwächen insbesondere der Polizei, in einer kompakten Weise und in einer deutlich größeren Transparenz gerade von den Nebenklägern in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Das kann sich zu einer gewaltigen Hypothek ausbauen und aufladen. Bei dem Verfahren, das möglicherweise zwei Jahre dauern kann, werden wir von allen Beteiligten eine große Sensibilität erwarten müssen, um das unter Kontrolle zu halten.

Seite 2: Wer kontrolliert die Kontrolleure?

Wird sich der Prozess und die Entrüstung der Gesellschaft nachhaltig auf die sicherheitspolitische Landschaft in Deutschland auswirken?
Davon gehe ich aus, ja! Wenn die Erfahrungen, die in diesem Prozess vermutlich artikuliert werden, und die Mentalitäten in den Sicherheitsbehörden, die den konkreten operativen Fahndungs- und Ermittlungsverfahren zugrunde lagen, deutlich werden, wird es zu einer tiefen Erschütterung der Sicherheitsarchitektur führen.

Wie wird die aussehen?
Vierzig Jahre lang gab es zwischen dem Verfassungsschutz und der Polizei einen Dualismus und den muss man – nach den Erfahrungen insbesondere in Thüringen und Sachsen – überwinden. Ich plädiere dafür, die Zuständigkeit zur Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus in eine Hand zu legen: in die der Polizei. Dem Verfassungsschutz blieben die klassischen Aufgaben der Beobachtung und Auswertung verfassungsfeindlicher Bestrebungen.

Wer kontrolliert eine solche Polizei?
Die Polizei ist in der Regel an ein konkretes Ermittlungsverfahren gebunden, was gleichzeitig eine vorrangige Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft und des Richters bedeutet. Der Einsatz polizeilicher Instrumente, ob es die Telefonüberwachung oder der Einsatz eines verdeckten Ermittlers ist – alles das  ist ohne die Zustimmung eines Staatsanwalts oder eines Gerichts nicht zulässig.

Apropos verdeckte Ermittler: Ebenso wie V-Männer wird kritisiert, dass sie Verdächtige erst zu einer Straftat animieren könnten.
Ich verharmlose die zahlreichen Probleme, die sich beim Einsatz des verdeckten Ermittlers ergeben, nicht.  Aber den grundlegende Zielkonflikt des traditionellen V-Manns, der darin besteht, dass er z.B. morgens ein überzeugter Nationalsozialist als Mitglied einer neo-nazistischen Kameradschaft ist und sich abends als freier Mitarbeiter des Staates mit einem Verfassungsschutzmann trifft, können sie bei einem hauptamtlichen Mitarbeiter überwinden – aber nur dort.

Im rechtsradikalen Spektrum scheint es mehrere V-Männer gegeben zu haben, deren Ziele nicht klar waren…
Ich halte diese Entwicklung für eine absolute Perversion. Dass V-Leute heute in aller Öffentlichkeit erklären können, sie hätten sich als V-Person – im Falle der NPD beim Verfassungsschutz – gesehen und nicht umgekehrt und darauf hinweisen, dass sie die NPD darüber in Kenntnis gesetzt hätten... ich wiederhole: Eine solche Perversion habe ich nicht für möglich gehalten. Heute gehe ich insbesondere im Komplex des NSU davon aus, dass die V-Leute nicht nur eine Hilfe waren, sondern letztlich ein Sicherheitsrisiko für den Staat. Es ist nicht davon auszugehen , dass diese Leute nachrichtenehrlich waren und auf der richtigen Seite standen.

Ginge es ohne menschliche Quellen?
Wir sehen es derzeit beim Verbotsverfahren im Falle der NPD. Dort sagen die Behörden – und das wird von der Öffentlichkeit nicht richtig gewürdigt – sie haben ausreichend Material zusammengetragen, ohne dabei quellengestützte Informationen zu berücksichtigen. Das bedeutet doch, dass es in den politisch legalen Bereichen ohne den Einsatz von V-Leuten geht…

…die Nicht-Anerkennung durch die Gesellschaft deutet doch vor allem darauf hin, dass massiv Vertrauen zerstört wurde.
Das ist unstrittig. Sollte sich wirklich herausstellen, dass das vorliegende Antragsmaterial nicht frei ist von Quelleninformationen und sollte jemand dafür die Verantwortung und die Zuständigkeit haben, ist der Zeitpunkt da, an dem eine Kulturrevolution in diesem Land stattfindet. Was ich meine: Dann müssen Köpfe rollen.

Was hat sich bisher seit November 2011 geändert?
Es gibt derzeit noch keine abschließende Reform. Aber es zeichnet sich ab, dass alle Vorschläge, die im Zusammenhang mit der Bekämpfung des NSU sichtbar geworden sind, die strukturellen Probleme nicht lösen. Daran ändert auch die Etablierung von Abwehrzentren sowohl beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Berlin als auch beim Bundeskriminalamt in Meckenheim nichts.

Herr Ridder, ich danke Ihnen für das Gespräch. 

Das Gespräch führte Lisa Schneider.

Winfried Ridder: Verfassung ohne Schutz. Die Niederlagen der Geheimdienste im Kampf gegen den Terrorismus. dtv Premium, München (März 2013), 160 S., 13,90€.

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