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Leitkultur - Die Verfassung darf nicht über der Religion stehen

Eren Güvercin und Eberhard Straub warnen davor, Verfassungswerte zu überhöhen und über die Religion zu stellen. Aus ihrer Sicht gibt es sogar eine radikale „Glaubensgemeinschaft“, die das Grundgesetz zum Heiligen Buch erhebt. Dadurch sei die Freiheit bedroht. Eine Replik auf den Beitrag von Necla Kelek zur Leitkultur

Autoreninfo

Eren Güvercin, geboren 1980 als Sohn türkischer Eltern in Köln, arbeitet als freier Journalist für verschiedene Hörfunksender und Zeitungen. Er ist Mitinitiator der „Alternativen Islamkonferenz“. 2012 erschien von ihm das Buch „Neo-Moslems“ bei Herder.

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In jüngster Zeit wird wieder inflationär nach der Grundgesetztauglichkeit der Muslime gefragt. Politiker wie Julia Klöckner, Cem Özdemir, Volker Beck und Horst Seehofer, aber auch einzelne Vertreter von Islamverbänden fordern, „Muslime nicht in Watte zu packen“.

Immer wieder diskutieren wir, was Muslime alles aufgeben müssen. Aber nie reden wir darüber, was Muslime der Gesellschaft geben können. Sie sollen sich vielmehr einer Leitkultur einfügen. Diese Forderung ist ein Symptom dafür, mit dem Pluralismus der Lebensformen in einer offenen Gesellschaft, von der ununterbrochen die Rede ist, ganz einfach überfordert zu sein. Von Willkommenskultur erfüllte Menschenfreunde reden unumwunden wie Hausmeister, die für Ruhe und Ordnung zuständig sind, für Regeln und Gebote. Im deutschen Hause kann nicht jeder machen, was er will, sagen sie. Die Leitkultur ist ein Mittel, jeden an die Leine zu nehmen und fürsorglich in „unsere“ Wertegemeinschaft zu integrieren.

Leitkultur, Wertegemeinschaft und Integration sind völlig beliebige Vorstellungen. Sie müssen mit Inhalten gefüllt werden. Alle gesellschaftlichen Kräfte bemühen sich darum, wollen ihnen Verbindlichkeit verschaffen. Das Ziel ist die Homogenisierung der Gesinnungen in der Wertegemeinschaft als Religions- und Kirchenersatz.

Diese „Glaubensgemeinschaft“ hat das Grundgesetz längst zum Heiligen Buch erhoben. Es dient dazu, die freiheitlich-rechtliche Grundordnung der profanen Welt zu entrücken und sie zu sakralisieren. Eifersüchtig sind die Apostel dieser innerweltlichen Erlösungslehre als Fundamentalisten darauf bedacht, dass kein anderes Heiliges Buch über diesem Fundament ihre Glaubens stehen dürfe.

Sie verwischen damit die säuberliche Trennung zweier Sphären und Rechtsgebiete. Die freie Kirche im freien Staat gehörte zum liberalen Rechtsstaat, wie er sich im 19. Jahrhundert entwickelte. Selbstverständlich blieb das für den Christen höchste Gebot unangetastet, unter Umständen Gott mehr gehorchen zu müssen als dem irdischen Gesetzgeber. Klassische Liberale waren sich noch bewusst, dass die Mächte, die das sittliche Leben bestimmen, der göttliche Geist und der individuelle Menschengeist, außerhalb des Staatsbereiches sind. Überschreiten der Staat sowie gesellschaftliche Gruppen und Parteien die ihnen gesetzten Schranken, schaden sie mit solchen Übergriffen sich und der Sittlichkeit.

Eine Verfassung legt den äußeren Rahmen fest, in dem sich das Zusammenleben entfalten kann. Was der Einzelne über die Verfassung denkt, ob er sie überhaupt liest, geht keinen etwas an. Diese Gleichgültigkeit gilt den Anhängern des Verfassungskultes mittlerweile als Frevel verstockter Irrgläubiger. Deshalb machen sich zunehmend Bemühungen bemerkbar, Gesinnungen und nicht Handlungen zu kontrollieren. Dazu verleitet auch die Ideologie der one world und des ihr gemäßen überall gleichen Menschen. Sie fordert die Normierung und die Reduzierung der verwirrenden Vielfalt auf eine monotone Einfalt.

Darüber gerät die Freiheit mit ihren mannigfachen Ausdruckformen in erhebliche Bedrängnis. Zu ihr gehört unbedingt die Freiheit der Religion, mit der die Geschichte der bürgerlichen Freiheit begann. Die Religion ist Privatsache, aber zugleich bedarf sie des öffentlichen Raumes, um in aller Freiheit dort gelebt werden zu können. Ein Bekenntnis in den eigenen vier Wänden hat nichts mit Freiheit zu tun. Das muss eine Öffentlichkeit aushalten, die sich übrigens die Freiheit nimmt, Bekenntnisse nicht zu tolerieren, sondern sie verächtlich zu machen. Eine Öffentlichkeit, die übrigens sehr genau aufpasst, ihre sogenannte Wertegemeinschaft  vor Spott oder Verunglimpfung zu schützen. Mit dem Grundgesetz als Heiligem Buch darf kein Schabernack getrieben werden, wie mit der Bibel oder dem Koran.

Die immer gröber und geschmackloser werdende Unduldsamkeit gilt mittlerweile jeder Religion. Der Glaube der Christen oder Muslime wird in gleicher Weise als lästige Herausforderung empfunden, weil er im Widerspruch zur „Aufklärung“ steht. Dabei gibt es die Aufklärung genauso wenig wie das Christentum oder den Islam, auch sie zerfällt in unterschiedlich nuancierte Richtungen. Außerdem gibt es die fast in Vergessenheit geratene Dialektik der Aufklärung, das Bündnis im Namen der Freiheit mit dem mörderischen Schrecken während der Französischen Revolution. Der Terror ist nicht steinzeitlich oder mittelalterlich, sondern ganz modern.

Die Dinge zu verstehen, heißt, sie zu komplizieren.

Es genügt, die einwandernden Muslime mit dem bürgerlichen Recht vertraut zu machen und ihnen die Gelegenheit zu geben, sich zu Staatsbürgern zu bilden. Mehr wird in einem Rechtsstaat auch von keinem Christen verlangt. Mehr darf gar nicht verlangt werden. Vom Islam geht keine besondere Gefahr aus, höchstens von vereinzelten Islamisten. Der Rechtsstaat erhält und schützt sich durch das Recht.

Will er sich aber zur Wertegemeinschaft überhöhen, dann erkennt er über dem Recht höhere, heilige Mächte an, eben die Werte, die dann die Rechte aushöhlen, vor allem im Namen der Sicherheit die Freiheitsrechte. Nicht von den Religionen gehen für die Rechtsordnung Gefahren aus, sondern von Wertsetzern, die als radikale Fundamentalisten ihren Werten absolute, höchste Geltung verschaffen wollen.

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Reiner Arlt | Do., 26. April 2018 - 19:06

Was diese beiden Herren in ihrem höchst irritierenden Artikel vertreten, ist offensichtlich verfassungsfeindlich und keineswegs durch die Meinungsfreiheit gedeckt.