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Bologna-Prozess - Studieren nach dem Lego-System

Immerhin: Die Langzeitstudenten mit 21 Semestern gibt es nicht mehr. Aber nun, zwei Jahre nach Abschluss der europäischen Studienreform, regieren an Deutschlands Hochschulen Einheitsmaß und wild gewordene Evaluationsagenturen. Eine kritische Zwischenbilanz

Autoreninfo

Konrad Adam ist Mitbegründer der AfD. Ende September 2020 erklärte er seinen Austritt aus der Partei. Bis 2000 war er Mitglied der Feuilleton-Redaktion der FAZ, danach bis 2007 politischer Chefkorrespondent der Welt.

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Zumindest der Titel der Aktion war gut gewählt. Das internationale Großunternehmen mit dem Ziel, die Studienbedingungen in Europa einheitlich zu gestalten, nannte sich nach Bologna, der Stadt, in der sich, neben oder nach Paris, die erste europäische Universität befunden haben soll. Von dort, von Norditalien oder von der Île de France, ging die Bewegung aus, die nach und nach in ganz Europa ähnliche Einrichtungen hervorbrachte. Auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches folgten Residenzstädte wie Prag, Heidelberg und Wien, in Frankreich Toulouse, Salamanca in Spanien, in Schweden Uppsala sowie Oxford und Cambridge in England.

In dieser frühen Zeit hatte sich von selbst verstanden, was Jahrhunderte später unter dem Namen Bologna neu in Gang gesetzt werden sollte: die Internationalisierung der höheren Bildung, äußerlich erkennbar an der Leichtigkeit, mit der Studenten und Professoren von einem Land ins andere wechselten. Erasmus von Rotterdam, der heute dem europäischen Stipendienprogramm als Namenspatron dient, hatte in Paris studiert, war in Italien promoviert worden und als akademischer Lehrer in seiner Heimat, den Niederlanden, aber auch in England und in der Schweiz tätig gewesen. Dieser Beweglichkeit hofften die europäischen Bildungsminister aufzuhelfen und damit einen Beitrag zum Zusammenwachsen des Kontinents zu leisten, als sie für Dauer, Gestalt und Abschluss des Studiums einheitliche Maßstäbe beschlossen.

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Ein schöner Plan, der wohl aufgegangen wäre, wenn den Bildungspolitikern vor Augen gestanden hätte, dass ihre Aufgabe darin bestand, über das Schicksal der nächsten Generation zu entscheiden statt einer wild gewordenen Zulassungsindustrie zu Macht und Einkommen zu verhelfen. Genau das haben sie jedoch getan. Gewinner des Bologna-Prozesses sind nicht die Studenten, sondern die Akkreditierungsräte und Evaluationsagenturen. Sie wirken als Gleichmacher der Bildung, denn sie belohnen jene, die einen Standard perfekt umsetzen. Überall, auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene, sind sie tätig und verdienen ihr Geld damit, dass sie die Hochschulen von der Pflicht befreien, sich die jungen Leute, die als Studenten zu ihnen kommen, näher anzusehen.

Um die Reform von Bologna einschätzen zu können, lohnt es sich, an ihren Anfang zurückzugehen und sich ihrer Motive zu besinnen. 1999 unterzeichneten die europäischen Bildungsminister die Bologna-Erklärung, nach der bis 2010 ein einheitlicher Hochschulraum in Europa geschaffen werden sollte. Deutschland verfolgte daneben ein weiteres, bis heute gern verschwiegenes Ziel. Mithilfe des Bologna-Prozesses wollte man endlich erreichen, was immer wieder angemahnt und versprochen, aber genauso oft verfehlt und hintertrieben worden war, eine Verkürzung des Studiums. Im internationalen Vergleich lagen die Deutschen mit ihren Studienzeiten von zwölf und mehr Semestern weit an der Spitze; was nicht nur teuer war, sondern deutsche Absolventen gegenüber Mitbewerbern aus den übrigen Ländern auch zurückwarf.

Hauptverantwortlich dafür, dass es mit der Studienzeitverkürzung nicht voranging, war der Staat. Bei ihm fand ja, einer alten deutschen Tradition folgend, der Löwenanteil der Hochschulabsolventen sein Ein- und Unterkommen; nach Grundsätzen allerdings, die das lange Studium belohnten, nicht das kurze. Mit zwölf oder mehr Semestern landete man im höheren, nach einem Kurzstudium von neun Semestern nur im gehobenen Dienst, der deutlich schlechter bezahlt wurde. Solange das so blieb, waren ein paar Semester mehr ein glänzendes Geschäft, das sich ein ganzes Leben lang rentierte. An diesem naheliegenden Kalkül sind alle Versuche, das Studium zu verkürzen, zunächst einmal gescheitert.

Bis zur Mitte der siebziger Jahre blieb der Staat seiner Rolle als Hauptabnehmer der Universitäten treu; 1972, als die von Willy Brandt versprochene Verbreiterung des öffentlichen Korridors im vollen Gange war, fanden mehr als zwei Drittel aller Hochschulabsolventen ihren Dauerarbeitsplatz im Dienst des Staates. Doch dann, rund fünf Jahre später, lief die Einstellungswelle aus, weil das Geld ausging. Damit geriet die Hochschulreform in eine neue Krise: Der öffentliche Sektor war nicht mehr, die private Wirtschaft war noch nicht dazu bereit, die steigende Zahl von Hochschulabsolventen zu übernehmen, zumindest nicht zu den komfortablen Bedingungen, die im Staatsdienst üblich waren.

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Da sie das Recht auf Bildung, das sie so großzügig verkündet hatten, nicht durch das Recht auf einen Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst ergänzen konnten, verfielen die Kultuspolitiker auf den fatalen Gedanken, die Universität als Warteraum zu benutzen, als Zwischenlager für Studenten, die anderswo nicht unterkommen konnten oder wollten. Was sprach dagegen, die viel zu vielen durch zusätzliche Semester noch eine Zeit vom Arbeitsmarkt fernzuhalten und so die wichtigste von allen amtlichen Dateien, die Arbeitslosenstatistik, zum Vorteil der Regierung zu entlasten? Die Einladung wurde angenommen und ließ die Zahl der ewigen Studenten drastisch steigen. Im Bewusstsein, den Zeitgeist im Rücken zu haben, trumpften die Dauerstudenten auf und bekannten sich demonstrativ zu ihrem 20., 21. oder noch höheren Semester.

Zwar entwarfen Reformkommissionen Studiengänge, verabschiedeten Prüfungsordnungen und stritten über den Begriff der Regelstudienzeit. Am Alltag änderte das aber wenig, der Betrieb lief in seinen alten Bahnen weiter, nur langsamer, umständlicher und schwerfälliger als je zuvor. Während sich die Professoren, um der Last der ihnen auferlegten Lehrverpflichtungen zu entkommen, an irgendwelche Centers for Advanced Studies zurückzogen, fanden sich die Studenten im Irrgarten der Massenuniversität nicht mehr zurecht. Unter dem Titel „Uni-Angst und Uni-Bluff“ riet ein seinerzeit weitverbreitetes Handbüchlein den kopflosen jungen Leuten, sich auf das Nötigste zu beschränken. „Wenn du herausgefunden hast, was die Minimalanforderungen in deinem Fach sind, dann belege und besuche nur die!“

Auch das war aber noch zu viel, solange sich die Studenten auf das fragwürdige Privileg der Studienfreiheit berufen konnten. Die Einsicht, dass man 30 oder 40 Prozent eines Altersjahrgangs nicht nach Methoden unterrichten konnte, die seinerzeit für 5 oder 6 Prozent entworfen worden waren (und die auch da nicht immer griffen), blieb eine anerkannte, aber folgenlose Theorie. „Überlast auf Zeit“ hieß das Verfahren, das Lehrenden und Lernenden immer weitere Verpflichtungen aufbürdete und so den Ruf des deutschen Universitätswesens ramponierte. Das Bundesverwaltungsgericht zog nur die letzte Konsequenz, als es den Wunsch einer Massenuniversität, neben den Quantitäten auch die Qualität von Forschung und Lehre im Auge zu behalten, als „unzulässige Niveaupflege“ bezeichnete und verwarf.

Da kam Bologna gerade recht. Es schuf den Druck, auf den man sich berufen konnte, um das nachzuholen, was jahrelang versäumt worden war. Nur dass man auch diesmal wieder der Versuchung nachgab, dem alten mit einem neuen Exzess zu begegnen, indem man an die Stelle der überkommenen Studienfreiheit ein ziemlich lückenloses Reglement setzte. Die durchaus dehnbaren Empfehlungen der Bologna-Planer – der erste Teil des Studiums bis zum Bachelor sollte drei bis vier Jahre, der zweite mit dem Master als Abschluss ein bis zwei Jahre dauern – wurden in Deutschland so eng wie möglich umgesetzt, enger als in jedem anderen Land der Gemeinschaft. Das Ganze dann auch noch auf Englisch, mit Bachelor und Master anstelle von Diplom und Magister, da deutsche Wissenschaftsverwalter das Englische auch dann als Ausweis höherer Bildung betrachten, wenn sie es selbst nur unvollkommen beherrschen.

All das hätte den Kern des Studiums nicht berühren müssen, hätte Bologna nicht als Waffe gedient, die alte Vorstellung vom Fach zu zerschlagen und durch das neue Einheitsmaß, das Modul, zu ersetzen. Das Fach bewahrte ja, wie fragwürdig auch immer, den Glauben an die Möglichkeit, zwar nur einen Teil der Welt, den aber einigermaßen gründlich kennenzulernen, ihn zu überblicken und mit Fleiß und Glück zu erweitern. Als Teil einer größeren Gemeinschaft, der scientific community, sollte der Student lernen, die Wissenschaft, wie Wilhelm von Humboldt sich ausgedrückt hatte, „als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten und unablässig als solche zu suchen“.

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Die Modularisierung bricht mit diesem Glauben. Sie ersetzt das Fachprinzip durch den Baustein, besser gesagt: durch eine Unzahl von Bausteinen, die sich nach dem Lego-System zu allen möglichen Formen zusammensetzen, auseinandernehmen und neu verbinden lassen. Der Modulator serviert Häppchen, keine Mahlzeiten; er betrachtet das Lernen als Akkordarbeit, differenziert nach Studium, bei dem der Student im Hörsaal sitzt, und Selbststudium, bei dem er zu Hause sitzt. Die Einheit, in der abgerechnet und bewertet wird, ist der credit point, der einem Zeitaufwand von 25 bis 30 Stunden entspricht oder doch entsprechen soll. Wenn davon 180 beisammen sind, hat man den Bachelor erworben, mit 300 den nächst höheren Abschluss, den Master. In Sonderfällen schließt sich die Promotion als dritte und letzte Stufe an.

Das Studium als Weg zur Bildung, zur Selbsterfüllung oder Selbstverwirklichung, um hier die Schlagwörter der Achtundsechziger noch einmal zu gebrauchen, hat ausgedient. Humboldt, hört man in Deutschland überall, sei tot; hierzulande gewiss. Wer ihm begegnen will, muss nach Amerika gehen, nach Stanford beispielsweise, dessen langjähriger Präsident Gerhard Casper bis heute das Hohe Lied auf Humboldt singt. Die deutschen Bildungsmanager sind da anderer Meinung; sie halten sich an den BDI, der schon vor Jahren Präsidenten und Rektoren dazu aufgefordert hatte, sich selbst als Unternehmer, die Hochschule als Firma und die Studenten als Kunden zu betrachten. Die Wirtschaft schwört auf Praxisbezug, Output-Orientierung und Effizienz; sie wünscht sich eine gehorsame, keine skeptische Generation, karrierebewusste statt umweltbewusste Mitarbeiter und einen Nachwuchs, der sich für Produkte interessiert, deren Entstehung ihn nicht kümmert.

Die Modularisierung, berichtet eine vom Universitätsbetrieb ernüchterte Studentin in einem Zeitschriftenbeitrag, verflache das Lehrangebot. Sie hemme, ja verhindere die Entwicklung zu intellektueller Selbstständigkeit: „Es gibt kaum noch Studierende, die ‚einfach so‘ in der Bibliothek stöbern (wenn sie denn überhaupt noch offen hat); denn es bleibt gerade noch Zeit, zielstrebig für das nächste Referat zu recherchieren.“ Wo früher thematisch breit gefächerte Seminare angeboten wurden, gebe es nur noch Spezialissima wie Metapherntheorie hier, Erzähltheorie dort. Insgesamt, so lautet das abschließende Urteil, habe sich Ängstlichkeit breitgemacht, die stets fragt: „Werde ich alle Belegpflichten in diesem Semester erfüllen können? Werde ich schnell genug durch das Studium kommen, um den Anforderungen des Arbeitsmarkts zu genügen?“

Wer so etwas liest, wird einsehen, dass Humboldt wirklich tot ist. Doch warum sollte man darüber froh sein?

Auch wenn es für ein Urteil über den Bologna-Prozess noch zu früh ist, zeichnet sich schon ab, dass die Reform ihr ehrgeizigstes Ziel, den Austausch zwischen Ländern und Kulturen zu befördern, nicht erreichen wird. Die „Mannigfaltigkeit der Situationen“, von der sich Humboldt den bildenden Effekt des Studiums versprochen hatte, wird von der einen Seite, den Hochschulen, nicht mehr geboten, auf der anderen, von Seiten der Studenten, nicht länger gesucht: Wozu wechseln und dabei noch Zeit verlieren, wenn man das durchnormierte Studium so schnell wie möglich hinter sich bringen kann und soll?

Um Originalität und Neugier zu belohnen und den Wechsel attraktiv zu machen, müssten die Hochschulen ihre Eigenheiten pflegen, ihre Stärken bekannt machen und ihre Unterschiede herausstellen, also das tun, was unter dem Schlagwort Profilbildung läuft: Vielfalt ist besser als Einfalt, vor allem in der Wissenschaft. Sie hätten sich daran zu erinnern, dass die Universität europäischer Prägung neben allem anderen einen Bildungs- und Erziehungsauftrag hatte, und dass ihre Aufgabe darin besteht, die Studenten berufsfähig, nicht berufsfertig zu entlassen. Aber werden die auf Gleichförmigkeit eingeschworenen Bildungsmanager ihnen das erlauben? 

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