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Süddeutsche Zeitung Magazin

Schriller Wahlkampf - Die Klamauk-Republik

Steinbrück zeigt den Stinkefinger, Nahles singt im Bundestag: Deutschland ist zur Klamauk-Republik verkommen. Das erleichtert Politikern den Wahlkampf, ist aber gefährlich für die Demokratie

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Merle Schmalenbach

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Wer sich in diesen Zeiten mit Politik beschäftigt, kann schnell den Eindruck gewinnen, in einem Kaspertheater gefangen zu sein.

Da zeigt ein Kanzlerkandidat den Stinkefinger – und die Hauptstadtpresse flippt aus.

Da besucht ein Bundesminister das Äffchen von Justin Bieber: Er glotzt es an, das Äffchen glotzt zurück. Das Ganze ist ein Medienereignis.

Da trifft die mächtigste Frau Europas auf ihren Herausforderer im Fernsehen und alles, was davon hängen bleibt, sind die Wörter „Schlandkette“ und „King of Kotelett“.

Da werden die Deutschen von der NSA ausspioniert, aber alles, worüber sie sich aufregen, ist der Veggie Day.

Und schließlich: Da singt die SPD-Generalsekretärin öffentlich das „Pippi Langstrumpf“-Lied. Und das nicht irgendwo, sondern im Bundestag, während einer politischen Debatte.

Was ist da los?

Wohin man auch schaut, sieht man zurzeit Politiker, die sich freiwillig lächerlich machen, Bürger, die lieber rumblödeln, als auf die Straße zu gehen und Medien, die solche Albernheiten allzu gerne aufgreifen. Deutschland hat sich in eine Klamauk-Republik verwandelt.

Den ganzen Tag lang wird hier getickert, getwittert und geliked, sich über Witzchen amüsiert und über Banalitäten aufgeregt. Aber die Energiewende? Die Euro-Rettung? Die NSU-Morde? Ach nö!

Es ist kaum zu übersehen: Dem politischen Diskurs mangelt es an Ernsthaftigkeit. Und das hat mehre Gründe.

1. Sachpolitik ist wie der müffelnde Onkel

Wir leben in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeit flüchtig ist. Nachrichten, Videos und Tweets überfluten die Menschen. Nur was besonders lustig ist, sexy oder schrill, ragt heraus.

Sachpolitik kann all das nicht leisten. Sie ist wie der langweilige, müffelnde Onkel, der auf Familienfesten herum steht und die Gäste mit Geschichten über Altersvorsorge und Energiedämmung nervt. Man hört mit einem Ohr zu und überlegt verzweifelt, wie man ihn los wird.

Im Netz kann man diesen Onkel einfach wegklicken, das geht schnell und ist verführerisch. Sachpolitik hat es hier deshalb schwer. Andrea Nahles weiß das, nur deshalb hat sie im Bundestag gesungen. Und so plump und peinlich das auch war – ihre Botschaft hat sich über Twitter, Facebook & Co. tatsächlich verbreitet. Ob ihr das geholfen oder geschadet hat, ist eine andere Frage.

Im Jahr 2002 war es Guido Westwelle, der durch ähnlich grelle Aktionen versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. Er fuhr im Guidomobil durch Deutschland, besuchte den Big-Brother-Container und zeigte jedem die "18", die unter seinen Schuhen klebte. Doch damals war die Zeit noch nicht reif für solche Aktionen, Westerwelle scheiterte, seine Politiker-Kollegen schüttelten den Kopf.

Und heute?

Die Kindereien haben rasant zugenommen.

Nehmen wir mal die AfD: Ausgerechnet die sogenannte „Professoren-Partei“ bestreitet ihren Wahlkampf mit Handpuppen. Es spielen mit: der Hund „Lucky“, eine Kröte und eine Socke mit Sonnenbrille. Eine Welt-Journalistin nannte die Videos, die auf Youtube eingestellt sind, eine „Muppetshow für schlichtere Gemüter“. Bis zu 20.000 Nutzer klickten trotzdem drauf.

Oder schauen wir zu Hans-Christian Ströbele, der mit Comic-Plakaten für sich wirbt, die gut zu einem Kindergarten passen würden.

Oder denken wir an Martin Lindner, den Vize-Vorsitzenden der FDP-Fraktion, der im Fernsehen gekifft und und danach verkündet hat, dass er sich „saugut“ fühle.

All das zeigt: Der politische Klamauk ist salonfähig geworden. Dazu passt, dass ausgerechnet Stefan Raab das Kanzlerduell moderiert hat, unser Experte für Gags und seichte Unterhaltung.

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2. Die Wähler fühlen sich machtlos und abgehängt

Diese Art von politischem Klamauk verdeckt ein großes Problem: Die meisten Deutschen haben sich innerlich längst von der Politik verabschiedet. Wichtige Entscheidungen sind nach Brüssel verlagert worden, die Politik wird immer komplexer und rasanter. Das überfordert viele Wähler, sie fühlen sich machtlos und abgehängt. Mit ihrer Politik der Alternativlosigkeit hat Angela Merkel diese Lethargie verstärkt. Deshalb prallen Themen wie die Euro-Rettung oder die NSA-Überwachung längst an den Deutschen ab.

Viel lieber regen sie sich über den Veggie Day auf, der vergleichsweise unwichtig ist. Doch das Thema ist leicht verständlich, es betrifft den eigenen Alltag und man braucht kein Fachwissen, um sofort mitzureden. Der Politikwissenschaftler Gary S. Schaal spricht solchen Debatten einen reinen „Placebo-Effekt“ zu: Denn das wirklich Wichtige blenden sie aus.

Hinzu kommt: Längst haben sich viele Wähler auf Twitter, Facebook und Co. geflüchtet, sie spotten dort über Merkels Riesenposter, witzeln über ihre Halskette und das verunglückte „Wort halten“-Plakat von Christian Ude. Das ist oft lustig und erweckt den Anschein, am politischen Geschehen beteiligt zu sein. Aber es ersetzt keine Debatte. Es ist politisches Junkfood.

3. Politiker, Wähler und Journalisten schaukeln sich gegenseitig hoch

Auch Nachrichtenportale greifen Klamauk-Themen gerne auf. Sie stehen unter hartem Konkurrenzdruck, müssen den Nutzern stündlich etwas Neues bieten und haben nur wenige Ressourcen. Für die Recherche, für tiefe Themen bleibt oft keine Zeit. In dieser Situation ist es leichter, über Merkels Halskette zu schreiben, als sich in Dossiers zur Europarettung einzugraben. Es ist auch dankbarer, weil es mehr Klicks erzeugt. Und Klicks sind heute alles, was zählt.

Auf diese Weise schaukeln sich Politiker, Wähler und Journalisten gegenseitig hoch, sie vermitteln zunehmend das Bild einer Demokratie, in der alles lustig, ironisch und grell sein muss. Das ist schade und vor allem gefährlich.

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Denn es gibt genug Fragen da draußen, die für uns wichtig sind und die wir nicht ignorieren sollten: Wie viel Freiheit brauchen wir? Wie viel Sicherheit? Was passiert mit unseren Daten? Wohin driftet Europa? Wie gehen wir mit Kriegen um, die uns nicht betreffen, aber deren Grausamkeiten jeden Tag über unsere Bildschirme rauschen? In was für einer Welt wollen wir eigentlich leben?

Diese Fragen – und noch viele mehr – sollten wir uns jeden Tag stellen. Wir sollten uns streiten, uns aufregen und engagieren.

Natürlich können wir stattdessen auch den leichten Weg wählen. Wir können weiter herumalbern, dösen und uns mit Stinkefingern, Pippi Langstrumpf, Kiffen und Affen befassen.

Es ist unsere Entscheidung.

Update: Aus aktuellem Anlass haben wir Peer Steinbrücks Stinkefinger als weiteres Beispiel aufgenommen.

 

 

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