
- „Ich denke nicht, dass wir um einen zweiten Lockdown herumkommen“
Die Infektionszahlen steigen, erste Regionen beschließen Ausgangsbeschränkungen, Gesundheitsämter sind überlastet und die Appelle der Politik werden ernster. Dass die kalte Jahreszeit zur Herausforderung wird, war absehbar. Aber warum geht es jetzt so schnell?
Prof. Dr. Ulrich Mansmann ist Direktor des Instituts für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBM) an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).
Herr Mansmann, die kalte Jahreszeit steht bevor, die Infektionszahlen steigen, erste Regionen sind vorübergehend wieder im Lockdown. Wie zuversichtlich sind Sie bezüglich der kommenden Monate?
Was die Eindämmung der Epidemie angeht, bin ich nicht sehr zuversichtlich: Ich denke, es wird mehr Fälle geben, auch wenn sie im Vergleich zum Frühjahr milder sein werden. In vielen Ländern steigen die Infektionszahlen, aber die Mortalität zieht noch nicht in dem Ausmaß nach. Skeptisch bin ich beim Schutz von gefährdeten Gruppen. Seit der ersten Welle wurden nicht genug Strukturen aufgebaut, um zum Beispiel Pflegeheime und chronisch Kranke gezielt zu schützen. Zuversichtlich bin ich aber hinsichtlich der immer noch bestehenden Bereitschaft der Bevölkerung, sich in den kommenden Monaten vernünftig und angemessen zu verhalten.
Vergangene Woche hat die Zahl der Neuinfektionen die 11.000er Marke überschritten, der bisherige Rekordwert lag bei 7.830.
Da war ich auch schockiert. Es ist ein Appell – wie der Immunologe Michael Meyer-Hermann sagte: Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf.
Diese zweite Welle wurde prognostiziert, wir wussten, dass der Herbst nochmal herausfordernd wird. Aber warum geht plötzlich alles so schnell?
Das ist das exponentielle Wachstum der Infektionszahlen. Das hat meiner Ansicht nach weniger mit Temperaturschwankungen zum Jahreszeitenwechsel zu tun als mit der Multiplikation der Infektionen durch das Verhalten einzelner.
Bundeskanzlerin Merkel hat vor kurzem in einer Hochrechnung prognostiziert, dass wir bald mit 19.200 Neuinfektionen pro Tag rechnen müssen, wenn nichts passiert. Wann denken Sie, tritt ein solches Szenario ein?