
- Das Plädoyer der Nahles-Gegnerin
Simone Lange war die einzige Gegenkandidatin bei der Wahl von Andrea Nahles zur SPD-Vorsitzenden. Jetzt fordert sie den Rücktritt der SPD-Parteispitze und hat zur Untermauerung ein Buch geschrieben. Leider offenbart es in seiner Einfallslosigkeit vor allem die Defizite ihrer Partei
Simone Lange errang kurzzeitige Berühmtheit, als sie im April bei der Wahl zum SPD-Vorsitz gegen Andrea Nahles antrat. Sie war beim Parteitag in Bonn die einzige Gegenkandidatin gewesen und galt als krasse Außenseiterin. Dennoch gelang der 41 Jahre alten Oberbürgermeisterin von Flensburg ein bemerkenswerter Achtungserfolg: Sie kam auf 27,6 Prozent der Delegiertenstimmen, während Nahles mit nur 66,4 Prozent zwar gewählt wurde, aber eben mit einem denkbar schlechten Ergebnis. Und weil die Zeiten für die SPD-Chefin seither nicht besser geworden sind – Bayernwahl und das Hickhack um Hans-Georg Maaßen lassen grüßen –, könnte ja für Simone Lange ein zweiter bundespolitischer Frühling angebrochen sein. Ihre siegreiche Gegenkandidatin vom April steht jedenfalls schon fast wieder zur Disposition, zumal den Sozialdemokraten bei der Wahl in Hessen weiteres Ungemach entstanden ist. Lange jedenfalls fordert den Rücktritt der Parteispitze. „Es ist unabdingbar, dass die Parteispitze erkennt, dass sie zurücktreten muss und Platz machen muss“, sagte sie.
Im Duktus von Willy Brandt
Da trifft es sich gut, dass Lange jetzt ein Buch herausbringt, das im Untertitel nicht weniger als eine „Neue Politik für Deutschland und die SPD“ verspricht und in der Überschrift „Sozialdemokratie wagen!“ ausruft – in Anlehnung an Willy Brandts berühmte Sentenz vom 28. Oktober 1969. Brandt ging es damals mit seiner Regierungserklärung und dem angeblich von Günter Grass ersonnenen Slogan „Mehr Demokratie wagen“ bekanntlich um bessere politische Teilhabe der Bevölkerung und um eine breiter angelegte Debattenkultur. Seine Sozialdemokraten hatten kurz zuvor bei der Bundestagswahl 42,7 Prozent der Stimmen eingefahren und waren mit der FDP eine sozialliberale Koalition eingegangen. Goldene Zeiten.
Leider liest sich Simone Langes 176 Seiten umfassender Aufruf nicht ansatzweise so verheißungsvoll, wie Brandts Worte damals geklungen haben dürften. Denn es handelt sich im Wesentlichen um ein Plädoyer für die Rückabwicklung von Gerhard Schröders Agenda-Reformen sowie für ein politisches Bündnis mit der Linkspartei. Was angesichts des Engagements der Autorin in Sahra Wagenknechts „Aufstehen“-Bewegung nicht verwunderlich ist. Wenn Simone Lange ausdrücklich fordert, ihre eigene Partei müsse sich für die „Agenda 2010“ bei den Betroffenen öffentlich entschuldigen, ist das in der Tat eine Art Kotau vor der linken Konkurrenz. „Die SPD sollte sich schon aus Eigeninteresse der Idee ,Aufstehen‘ zuwenden oder sich zumindest ihr gegenüber offen zeigen“, schreibt Lange. „Eine Vielzahl der Unterstützer beziehungsweise Mitglieder der Bewegung sind nämlich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit und ohne Parteibuch.“
Eine gemeinsame linke Kraft?
Nun dürften nur die wenigsten SPD-Funktionäre ein strategisches Interesse daran haben, sich ausgerechnet hinter der Fraktionschefin der Linkspartei einzureihen. Aber Simone Lange, die aus Thüringen stammt, hat möglicherweise schon aufgrund ihrer Herkunft mit dem üblichen Denken in Parteischablonen weniger am Hut als mancher West-Genosse. Sie versteht unter „Aufstehen“ erkennbar eine Chance, SPD und Linke zu einer gemeinsamen Kraft zu verschmelzen, um dann gemeinsam mit den Grünen parlamentarische Mehrheiten zu erringen. Lange ist damit das linke Pendant zu jenen Kräften in der CDU, die mit einem konservativeren Profil die Abtrünnigen von der AfD zurückgewinnen möchten. Das allerdings wird in beiden Fällen kaum noch möglich sein. Denn ebenso, wie die AfD sich gen rechts radikalisiert, wird die Linkspartei künftig kaum noch mit einer gemäßigten Sozialdemokratie kompatibel sein: Waren in der PDS einst Ostdeutsche mit einem durchaus bürgerlich zu nennenden Wertegerüst bestimmend, so wird die Linkspartei mit dem derzeitigen Generationenwechsel schon bald eher an die Antifa denn an die SPD erinnern. Koalitionen mit einer radikalen Linken dürften am Ende aber auch den letzten Traditionsgenossen aus der einstigen Willy-Partei treiben.
Insofern dürfte Simone Langes Kalkül kaum aufgehen, das da lautet: „Wenn aber die SPD wieder einen klar sozialdemokratischen Kurs fährt, dann wird der CDU nichts anderes übrig bleiben, als wieder konservative Werte zu vertreten.“ Dieser Satz ist, mit Verlaub, groteskes Wunschdenken. Warum sollte die Union „konservativer“ werden, wenn ihr die SPD mehr Raum in der Mitte überlässt? Es wäre vielmehr eine Chance für die Union, sich endgültig als letzte Volkspartei neben den Grünen und deren bürgerlicher Wohlstands-Wohlfühl-Klientel zu etablieren. Dass letztere sich in einer Regierung gemeinsam mit CDU und FDP besser aufgehoben sehen als in Bündnissen weit links der Mitte, das sollte gerade in Schleswig-Holstein ziemlich deutlich geworden sein. Aber womöglich ticken in Flensburg die Uhren anders.
Nichts Neues zu den Mega-Themen
Simone Lange beklagt viele Missstände in diesem Land, und hat mit vielem auch Recht: Bildungsmisere, Ungerechtigkeiten im Rentensystem, Armutsrisiko. Aber letztlich lautet ihre Antwort auf alles: mehr Umverteilung, wobei am Ende das bedingungslose Grundeinkommen beschworen wird. Zu den zukunftsbestimmenden Megathemen wie Innovation, Digitalisierung, Migration oder globaler Wettbewerb erfährt man nichts beziehungsweise nichts Neues. Dabei könnten gerade auf diesen Gebieten originär sozialdemokratische Denkansätze interessant sein. Auch zu Europa fallen Simone Lange nur die üblichen Stanzen ein, einschließlich der alten Stammtisch-Kritik am EU-Gurkenkrümmungsgrad. Dass die EU bessere demokratische Strukturen bräuchte, um bei den Bürgern in den einzelnen Mitgliedstaaten mehr Akzeptanz zu finden, ist gewiss nicht falsch. Allerdings geht Lange irrtümlich davon aus, damit würde sich in Europa gewissermaßen automatisch auch ihre linke Agenda durchsetzen. Davon kann keine Rede sein – insbesondere, was die Migrationspolitik angeht. Die Gründe dafür scheinen die Autorin nicht zu weiter zu interessieren.
Besonders schade ist, dass Simone Lange die Leser kaum an ihren Erfahrungen als Oberbürgermeisterin teilhaben lässt. Dabei wäre gerade die kommunalpolitische Sicht auf die gegenwärtigen Probleme in Deutschland interessant – zumal der SPD auf der Ebene von Städten und Gemeinden noch am ehesten politische Kompetenz zugetraut wird. Auch das insbesondere für sozialdemokratische Wähler eminent wichtige Thema der Inneren Sicherheit wird fast komplett ausgespart, was angesichts des beruflichen Hintergrunds der SPD-Rebellin besonders seltsam wirkt. Simone Lange ist nämlich ausgebildete Polizistin.
So wirkt ihr Plädoyer für mehr sozialdemokratischen Wagemut am Ende sehr abstrakt und wie eine phantasielose Anbiederung an die Linkspartei. Ob sich so eine Zukunft für die SPD gewinnen lässt, darf dann doch bezweifelt werden.
Simone Langes Buch Sozialdemokratie wagen! ist soeben im Plassen-Verlag erschienen, 176 Seiten, 17,99 Euro