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Replik - Extremismus entsteht nicht durch Große Koalitionen

Die Große Koalition führt zu mehr Radikalisierung an den Rändern, schrieb Christoph Schwennicke. Klaus Vater, ehemaliger Vize-Sprecher der schwarz-roten Merkel-Regierung, widerspricht: Extremismus habe viele Ursachen. Zum Beispiel den medialen Alarmismus

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Klaus Vater (SPD, *1946) war stellvertretender Regierungssprecher der Großen Koalition im Jahr 2009. Zuvor war er Sprecher von Bundesarbeitsminister Walter Riester und Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Heute ist er Krimiautor und Beirat der Kommunikationsagentur Advice Partners.

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Es ist eine verwirrende These, die Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke vertritt. „Der Brutkasten des Radikalen an den Rändern ist die Große Koalition“, schrieb er in einem Kommentar.

Dafür gibt es weder gegenwärtig noch in der Rückschau Belege. Während der Weimarer Zeit waren das Erstarken der Nazis auf der rechten und der Kommunisten auf der linken Seite keinen großen Koalitionen geschuldet. Auch die starken, gar mit absoluter Mehrheit ausgestatteten Mehrheiten Adenauers können nicht als Brutkästen gedeutet werden. In den sechziger Jahren hatte der Aufstieg der NPD nichts mit starken bis übermächtigen Parlamentsmehrheiten zu tun. Erst während der ersten sozialliberalen Koalition von 1969 bis 1974 war auf den Straßen zu lesen: „Brandt an die Wand.“ Das SPD-FDP-Bündnis stand jedoch auf verhältnismäßig schwachen „parlamentarischen Beinen“.

In Großbritannien wird das Mehrheitswahlrecht angewendet. Das hat zur Folge, dass die absolute Mehrheit der  Mitglieder  im Unterhaus entscheidet, wer als Premierminister in die Downing Street Nummer 10 einzieht. Viermal nacheinander gewannen die Konservativen, teils mit weit über 100 Sitzen mehr im Unterhaus als die Konkurrenz. Dann folgte dreimal Labour mit teils mehr als 160 Sitzen Mehrheit. Ist Großbritannien deswegen eine schlechte Demokratie?

Gute demokratische Gründe?


Im letzten Satz heißt es bei Schwennicke: „Bis auf weiteres stärkt und stützt die Radikalisierung an den Rändern die Große Koalition, gegen die sie aus guten demokratischen Gründen aufbegehrt.“ Die Radikalisierung „begehrt“ also gegen etwas auf. Es sind gar „gute demokratische Gründe“, die zum Aufbegehren und zu Sammlungen an den Rändern führen.  

Wie soll das zu verstehen sein? Sind etwa Mordaufrufe gegen Frauen und Männer in Wahlämtern zu den „guten demokratischen Gründen“ zu rechnen? Und auch der Stoßseufzer „Putin hilf“! Was ist mit diesem dummen Satz: „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen?“ Von einem der Ränder kam die Forderung, Merkel und Gabriel an einen Galgen zu hängen, versehen mit der Drohung: „Wir kriegen euch alle“.

Ob auch Pegida-Gründer Lutz Bachmann „gute demokratische Gründe“ hat? Und erst recht Bernd, Pardon Björn  Höcke aus dem schönen Thüringen, dem das Land nichts angetan hat, das er aber dennoch heimsucht. Folgt man dieser Argumentation, dann hätte selbst völkischer Nationalismus gute demokratische Gründe.

In einem Brutkasten werden künstliche Bedingungen für ein Lebewesen hergestellt – etwa bei der Temperatur, der Zusammensetzung der Atemluft und der Hygiene. Ohne diese künstliche Hilfe würde das Geschöpf nicht überleben. Christoph Schwennicke überträgt die Funktionen dieses Geräts der Medizintechnik dennoch auf die Politik.

Rechtsextremismus hat viele Ursachen


Dabei herrschen in der Politik mitnichten solch sterile Verhältnisse. Deshalb können auch um sich greifende rechte und rechtsextremistische Gesinnungen nicht das Ergebnis „großer Koalitionen“ sein. Solche Entwicklungen haben viele Ursachen. Sie sind auch das Resultat eines fortwährenden, völlig überdrehten Alarmismus auf allen Ebenen, der unter anderem von Medien ausgelöst wird. Hinzukommen um sich greifende Ängste: Ängste vor Unbekanntem, vor Unvertrautem, vor Fremdem, vor Massen an Menschen.

Bei uns gilt: One man, One Vote. Ein Bürger, eine Stimme. Jedenfalls bei Wahlen gilt das. Jedermann und jede Frau ist aufgefordert, nach bestem Wissen die Stimme abzugeben, frei und in eigener Verantwortung. Wenn das gilt, dann gilt auch „One man, One Brain“. Heißt: Frei und in eigener Verantwortung nachzudenken; umgangssprachlich: Sich statt Abendbrot ab und an Gedanken zu machen. Und zwar kritische Gedanken.

Dann würde man möglicherweise die Hemmungslosigkeit erkennen, mit welcher sich einige Leute gegenwärtig über andere und über die Demokratie äußern. Es ist ungeheuerlich, was Menschen verbal angetan wird – anonym und auch mit Anschrift. Und nicht nur verbal: 2015 gab es 1400 Angriffe auf Flüchtlinge sowie deren Unterkünfte. Verübt von „den Rändern“.

Wo sind da die „guten demokratischen Gründe“?

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