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Politikverdrossenheit - Wie die Medien Nichtwähler heranziehen

Fast ein Drittel der Wahlberechtigten werden am Sonntag wohl zur Grupper der Nichtwähler gehören – das beklagen Presse und Rundfunk dieser Tage lautstark. Dass die Medien für diesen Zustand teilweise selbst verantwortlich sind, wird dabei vergessen

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Zunächst einmal: Presse darf Parteien kritisieren, sie muss sogar. Sie soll Wahlkampfparolen hinterfragen, Parteisprech brandmarken, sich in Programme festbeißen. Sie soll Politiker in ihre eigenen Widersprüche verwickeln, sie vielleicht sogar der Lüge überführen. Im besten Fall hilft sie dem Bürger so, seine Wahlentscheidung zu treffen.

Was sie nicht tun soll: den Politikbetrieb pauschal als arrogant, dumm oder herzlos abqualifizieren und so zur Politikverdrossenheit vieler Bürger – drohender Nichtwähler – beitragen.

Letzteres aber ist offenbar zum lustigsten Sport des zurückliegenden Bundestagswahlkampfes geworden. Da wurden politischen Lagern, Institutionen oder gleich dem ganzen System Taktiererei und Bereicherung in eigener Sache unterstellt. Da wurde behauptet, es ginge gar nicht mehr um die Wähler, sondern nur noch um den eigenen Vorteil. Immer wieder hieß es – je nachdem, wie es die mediale Kommentarlage gerade erforderte – dieses oder jenes Thema sei im Wahlkampf plump „instrumentalisiert“ worden.

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Fast für jedes gewichtige Problem, bei dem Volksvertreter um Lösungen rangen, fand sich ein Medium, das diesen Vorwurf erhob. Der Euro Hawk: Das Ende des Drohnen-Untersuchungsausschusses sei von Opposition und Regierung instrumentalisiert worden, beklagte die Welt. Da wurden Abgeordnete jahrelang hinters Licht geführt, auf den Steuerzahler hätte eine weitere halbe Milliarde Euro zukommen können – und trotzdem sollen sich die Vertreter beider Lager am liebsten freundschaftlich die Hände reichen?

Das Thema Mieten: „Milieuschutzsatzungen“, schrieb Focus Online, ließen sich „politisch hervorragend instrumentalisieren, um den Kampf der ‚kleinen Mieter‘ gegen ‚gierige Immobilieninvestoren‘ zu unterstützen“. Ja, besser ist es, dass dieser Kampf ausgetragen wird, schließlich können sich immer weniger Menschen die rasant steigenden Wohnkosten in deutschen Großstädten noch leisten. Und die schockierende Studie über Doping in Westdeutschland, so die Schweizer NZZ, sei für die Sportpolitiker aller Parteien zum „Trittbrett“ geworden; der Betrug von Leistungssportlern lasse sich „trefflich instrumentalisieren“. Aber bitteschön: Sollte man nicht froh sein, dass das Thema überhaupt im Bundestag angekommen ist?

Schlimme Unterstellung

Was die Blätter hier hervorholen, ist kein leichter Vorwurf. Vollständige Instrumentalisierung, also, jemanden als Mittel zum Zweck zu benutzen, war für Immanuel Kant eine Verletzung der Menschenwürde. Wer also jemanden der Instrumentalisierung bezichtigt, wirft ihm nach Auslegung des Philosophen nichts anderes vor, als das Leitmotiv unserer Gesellschaft – Artikel eins des Grundgesetzes – aufzukündigen.

Besonders schlimm ist diese Unterstellung, wenn es nicht nur um abstrakte Themen, sondern um Menschenleben geht. Etwa bei der Frage, wie viele syrische Flüchtlinge Deutschland aufnehmen soll. Bislang sind gerade mal 5000 Betroffene aus der Bürgerkriegsregion angekommen. Dass das nicht reicht, ist klar. Zurecht haben zahlreiche Zeitungen diese Mini-Zahl angeprangert – aber leider nicht, ohne auf den Instrumentalisierungsvorwurf zu verzichten: Die Stuttgarter Zeitung etwa geißelte den „Überbietungswettbewerb“ in der Flüchtlingsfrage – als wenn es schlecht wäre, dass der nicht nach unten, sondern nach oben zeigt – und polterte weiter: „Die demonstrative Gutmenschlichkeit, die dabei zum Ausdruck kommt, folgt dem taktischen Kalkül, vor dem Wähler als ganz besonders hilfsbereit zu erscheinen“, schrieb die Zeitung weiter. „Solche Spielchen verbieten sich angesichts der Schicksale, um die es geht.“

Ach ja? Sollte lieber gar nicht über den Umfang deutscher Hilfeleistung diskutiert werden? Sollte die Politik lieber schweigen, nur weil der Syrienkrieg unverschämterweise in den Wahlkampf fällt? Alles, um sich bloß nicht dem Instrumentalisierungsvorwurf aussetzen zu müssen? Genau so lautete übrigens die Empfehlung der führenden Meinungsforscher: Die SPD solle gar nicht erst versuchen, sich bei diesem Thema abzugrenzen, sie könne dabei nur verlieren, warnte Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner. Zum Glück für die Wähler und die Demokratie haben sich die Parteien nicht daran gehalten.

Es ist ein Thema, das wie alle anderen am Sonntag zur Abstimmung steht: Wollen die Menschen, dass Deutschland den vielen teils schwer verletzten, traumatisierten Kindern und Familien Schutz bietet oder nicht? Soll die Bundesregierung auf eine Willkommens- oder eine Abschottungspolitik setzen? Die Wähler, nicht der Parteienstaat, sind der Souverän, und genau deshalb müssen diese wichtigen, grundsätzlichen Fragen im Wahlkampf  diskutiert, ja erstritten werden. Kontroversen dürfen aus dem Wahlkampf nicht herausgehalten, sondern müssen dort ausgefochten werden, egal, was die Presse dazu schreibt. Schließlich sind Wahlen das „Hochamt der Demokratie“, wie eine gleichnamige Konferenz in Berlin jüngst betitelt wurde.

Hinter dieser Art, der Politik Pauschalvorwürfe zu machen, steckt ein bislang kaum gekanntes Harmoniebedürfnis. Da soll jede Spitze abgetragen, jede Kante geschliffen werden. Streit als Wesensmerkmal der Demokratie wird per se als Machenschaft, als Feldzug in eigener Sache gebrandmarkt.

„Bild in der Rolle des Mahners, Klägers und Volkstribuns“

Wenige Tageszeitungen schaffen das mit ähnlicher Aufmerksamkeit wie die Bild. Die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung hat in der vergangenen Woche eine Zwischenbilanz einer Studie veröffentlicht, die sich der Wahlkampfberichterstattung des Springer-Blattes widmete. Eine Erkenntnis darin: Der Streit, den Bild und Bild am Sonntag mit Blick auf die Politik und Parteien abbilden, sei eher ein negativ konnotierter, ein auf persönliche Querelen und individuelles Versagen fokussierter. Positiver, weil demokratischer Streit um Themen wie Altersarmut oder Arbeitslosigkeit werde stattdessen überwiegend „politik- und politikerlos“ behandelt. „So wird auf Dauer der Eindruck vermittelt, die demokratisch gewählte Politik kümmert sich um ‚Nebensächliches‘, Bild und BamS hingegen sind die Antreiber, welche die drängenden Themen ansprechen und erklären.“

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Die Autoren Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz wollen nicht nur herausgefunden haben, dass Bild Angela Merkel „die Aufwartung“ mache und „systematisch negativ“ über die Grünen berichte. Sie werfen dem Blatt sogar vor, sich gegen und über die Politik gleichermaßen zu stellen. Bild nehme „selbst die Rolle des Mahners, Klägers und Volkstribuns ein, der dann ‚der Politik‘ ohne jegliche Differenzierung zwischen Land und Bund, Regierung und Opposition vorhält: ‚Die Politik‘ hat versagt und muss endlich etwas tun.“

Nun könnte man entgegnen: Von einem Boulevardblatt, das Politik allenfalls als spöttisch-unterhaltende Beilage serviert, hat man kaum mehr erwartet. Doch die Bild gilt vielen Redaktionen als Leitmedium; sie gibt nicht nur die Zeile, sondern auch den Ton vor. Sei es bei der Wulff-Berichterstattung oder bei dem Pseudo-Skandal um den Veggie-Day (welcher streng genommen auf einer Falschmeldung beruht, denn die Grünen wollten den Deutschen nie das Fleisch verbieten): Die Medienrepublik ist hinterhergerannt.

Indem die Presse die Politik einerseits als unfähig bis dämlich karikiert, ihr andererseits in wirklich ernsthaften Debatten, um die es im Wahlkampf ja eigentlich gehen sollte, Instrumentalisierung vorwirft, trägt sie selbst dazu bei, dass immer mehr Menschen sich vom politischen Prozess verabschieden. Und Nichtwähler fühlen sich in ihrem Weltbild bestätigt. Wenn dieselben Medien dann die Zunahme der Wahlabstinenz beklagen, ist das schlichtweg heuchlerisch.

Auf diese Weise beschädigt die Presse die Demokratie, statt sie als vierte Gewalt auf Händen zu tragen.

 

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