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Illustration: Jan Rieckhoff

Politiker-Fehler - Das Netz als ewiger Pranger

Die neue Welt vergisst nicht. Stoibers Gestammel nicht, Mappus’ Mails nicht und auch nicht Cohn-Bendits Sätze über Flirts mit Kindern. Im Netz entsteht ein Archiv des Versagens, das einen Politiker jederzeit vernichten kann

Autoreninfo

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft in Tübingen und forscht über die Empörungsdemokratie im digitalen Zeitalter

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Eines Tages muss der Politiker Daniel Cohn-Bendit bemerkt haben, dass er einen unheimlichen Doppelgänger besitzt. Es ist ein Informationszombie, der im Netz als Kinderschänder auftritt, als Päderast. Dieser Zombie ist nur aus ein paar Datensplittern der Vergangenheit entstanden, und doch verfolgt und jagt er den Grünen. Immer wieder taucht er irgendwo auf, zuletzt vor ein paar Wochen in Stuttgart.

1975 hat Daniel Cohn-Bendit in dem autobiografischen Buch „Der große Basar“ sieben Sätze gesagt, die von Sex mit Kindern handeln. Kleine Kinder in einem Frankfurter Kindergarten hätten ihm den Hosenlatz geöffnet; man habe sich gestreichelt, so berichtete er. 1982 hat er – erkennbar berauscht von der eigenen Lockerheit – in einer Talkshow im französischen Fernsehen noch einmal für ein paar Minuten nachgelegt. Lange war all dies vergessen. Seit der Jahrtausendwende sind die sieben Sätze aus seinem Buch („Mein ständiger Flirt mit allen Kindern nahm bald erotische Züge an …“) im Netz. Auch die paar Talkshowminuten findet man mit einigen wenigen Klicks. Irgendwer hat sie übersetzt. Manchmal gibt man den Namen „Daniel Cohn …“ ein – und hat noch nicht zu Ende geschrieben, da schlägt einem Google ergänzende Suchbegriffe wie „Kinderschänder“ vor.

Im Wahlkampf des Jahres 2001 in Frankreich tauchten die sieben Sätze auf. Ungarische Politiker, FPÖ-Parlamentarier in Österreich, christliche Fundamentalisten aus Deutschland und der Schweiz haben sie zu neuem Leben erweckt, sie kopiert, verbreitet, zitiert. Wo auch immer der Europapolitiker erscheint, muss er damit rechnen, dass jemand die Skandalmeldung ausfindig macht, das Video verlinkt. Bis heute gibt es kein Opfer, das sich zu erkennen gegeben hätte. Cohn-Bendit selbst bezeichnet die Sätze stets als dümmliche, dem Zeitgeist geschuldete Provokation und hat sich inzwischen vielfach öffentlich für sie entschuldigt. Das alles hat ihm nichts genützt. Die Sätze von einst haben im digitalen Zeitalter ihr eigenes Leben entfaltet und ihm die Online-Identität eines Verbrechers beschert; man solle ihn „aufhängen“, seinen „Körper mit Blei vollpumpen“, ihn „an die Wand stellen“ – das fordern anonyme Kommentatoren. Und jeder, der pöbelt und wütet, kopiert und verlinkt, lässt den Informationszombie mächtiger werden.

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Am 20. April 2013 sollte Daniel Cohn-Bendit mit dem Theodor-Heuss-Preis geehrt werden. Aber der Festredner Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sagte mit der Begründung ab, dass der Geehrte sich „in nicht unproblematischer Weise zur Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern“ geäußert habe. Die CDU ließ verlauten, ein „Pädophiler“ sei „nicht preiswürdig“. Es gab eine erhitzte Debatte im Landtag. Wütende Proteste begleiteten die Preisverleihung. Der Informationszombie aus der Vergangenheit hatte die Gegenwart mit seiner Präsenz besetzt, wieder mal.

Man kann nicht feststellen, was in dem Kindergarten in Frankfurt geschehen ist. Aber unabhängig davon ist die Mechanik der Kommunikation aufschlussreich. Das Muster ähnelt anderen Fällen, in denen es mal um Patzer und Aussetzer, mal um schwerwiegende Grenzverletzungen geht. Antisemitische Entgleisungen eines Piratenpolitikers. Wolfgang Schäubles wütende Auseinandersetzung mit seinem Sprecher Michael Offer. Edmund Stoibers Gestammel in einer Talkshow. Vieles wird sichtbar. Und bleibt.

Es zeigt sich, dass sich im Netz ein vom Einzelnen kaum noch beherrschbares Anarchiv der politischen Biografien herausgebildet hat. Entstanden ist eine riesenhafte, nach dem Prinzip eines permanenten Plebiszits funktionierende Kopier- und Erinnerungsmaschine, die einen einzigen bizarren Fehler emporspülen kann – und dieser wird im Extremfall zur Chiffre eines Lebens, zur öffentlichen Bilanz einer komplexen Biografie, die auf den einen Moment zusammenschrumpft. Relevant erscheint, was fasziniert, empört und erheitert. Bestand hat, was von vielen kopiert, verlinkt, gepostet und kommentiert wird. Erinnerung wird damit zu einem anarchistisch funktionierenden Spiel: Mal sehen, was interessiert. Günther Oettingers Englisch-Karaoke bei einer Rede vor internationalem Publikum. Gerhard Schröders Krawall-Auftritt nach der Bundestagswahl von 2005. Mitt Romneys heimlich von einem Barkeeper bei einem Spenden-Dinner aufgenommene Abrechnung mit den Obama-Wählern.

Niemand vermag abzuschätzen, was schon morgen fasziniert und irritiert. Die plötzliche Totalausleuchtung der eigenen politischen Existenz und die Ad-hoc-Attacke erscheinen den Politikern zwar prinzipiell denkbar, aber sie wirken doch mehr als eine diffus bedrohliche Eventualität – nichts, worauf man sich einstellen oder strategisch vorbereiten könnte. Das liegt auch daran, dass die digitalen Medien auf seltsame Weise allgegenwärtig und damit fast unsichtbar erscheinen. Sie sind so dominant, dass man sie kaum bemerkt. Sie haben den Alltag derart durchdrungen, dass man sie mit fröhlicher Sorglosigkeit benutzt – bis der Skandal explodiert und sich aus dem Zusammenspiel alter und neuer Medien ein plötzlich aufschäumender Aufmerksamkeitsexzess ergibt.

Oft macht schon die sprunghafte, flapsige, unüberlegte Wortwahl deutlich, dass der twitternde, simsende oder mailende Politiker an die Flüchtigkeit und den privaten Charakter seiner Äußerungen glaubt, die ihn aber eben doch in anderen, gänzlich neuen Kontexten einholen. Man twittert drauflos – warum denn auch nicht?

Im Frühsommer 2012 bekommt man von der in der Disziplin der medialen Selbstverstümmelung geübten Piratin Birgit Rydlewski folgende Kurzbotschaft zu lesen: „So: Allen einen lieben Dank, die wegen des gerissenen Kondoms mitgezittert haben: Alle Tests negativ! (Also HIV, Hep. B., Hep. C).“ Ihr fröhlicher Tweet schafft es – ein Beispiel für den sich selbst verstärkenden Medienmix – bis in die Bild-Zeitung und bringt ihr das Etikett „Twitter-Luder“ ein. Man postet auf Facebook, nicht immer im Stil der Hochsprache – das machen doch alle, könnte man meinen. Daniel Rousta, Amtschef des Wirtschaftsministers in Baden-Württemberg, schrieb über „FDPisser“ auf seiner Facebook-Seite, polterte noch ein paar Mal in ähnlicher Tonlage vor sich hin. Und wurde gefeuert. Man formuliert gerne flapsige Mails – Hauptsache, man weiß, mit wem man sich schreibt, so sollte man glauben.

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Als Stefan Mappus, einst Ministerpräsident von Baden-Württemberg, aus dem Amt gewählt wurde, ließ er vorsorglich die Festplatte seines Computers vernichten – womöglich ein versuchter Akt des vorausschauenden Skandalmanagements. Dumm nur, dass eine externe Firma wegen irgendwelcher Probleme mit dem elektronischen Kalender des Ministerpräsidenten eine Sicherheitskopie hatte anfertigen lassen, über die sich inzwischen die Ermittler beugen. Dumm auch, dass kompromittierende Mails des Investmentbankers Dirk ­Notheis – ein langjähriger Freund von Stefan Mappus und führender Kopf des ENBW-Deals – aufgetaucht sind. Diese Mails machen deutlich, wie man das umstrittene Milliardengeschäft mit dem französischen Energiekonzern EDF am Parlament vorbei einfädelte. Sie zeigen den heute der Untreue verdächtigen Ministerpräsidenten als eine etwas hilflos wirkende Marionette, abhängig von den Sprechzetteln und Argumentationshilfen eines gewieften Strategen. Kleine Kostprobe aus einer Notheis-Mail an Mappus, die von einem möglichen Termin von Angela Merkel bei dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy handelt: „Du fragst Mutti“, so dekretiert der Investmentbanker, „ob sie dir das arrangieren kann.“

Was sich hier, bei aller Kuriosität der Einzelbeispiele, zeigt, ist ein Wesenszug des Menschen, der sich schlicht nicht vorstellen kann, welche öffentlichen Effekte sich eines Tages aus dem eigenen Mediengebrauch ergeben, ergeben könnten. Man muss da kein Mitleid haben – das gewiss nicht. Aber die tapsigen Fehlleistungen, die blamablen Aussetzer und die echten Skandale – sie alle kommen auch deshalb ans Tageslicht, weil das menschliche Vorstellungsvermögen nicht zu der kaum verstandenen Medienumwelt des digitalen Zeitalters passt. Menschen, so zeigt sich, denken, fühlen und leben in begrenzten Räumen und scheinbar klar definierten Kontexten. Sie verstehen Kommunikation als kontrollierbares Geschehen – und sind doch lange schon mit einer Informationsumwelt konfrontiert, die eben gerade keine zeitlichen, örtlichen und kulturellen Grenzen mehr kennt. Barrierefrei und blitzschnell lässt sich heute Privates oder Halbprivates veröffentlichen – und der gerade noch als gegeben angenommene Kontext aufsprengen. Manchmal scheint selbst die ganz offensichtliche Präsenz einer Kamera nicht weiter zu irritieren. Was mag sich der tschechische Staatspräsident Václav Klaus gedacht haben, als er vor der Kamera einen Kugelschreiber stahl und auf diese Weise selbst einen peinlichen Youtube-Hit landete, der es bis auf die Titelseiten deutscher Tageszeitungen schaffte?

Es ist die Allgegenwart der Aufzeichnungsgeräte, die im politischen Alltag ihre Existenz vergessen lässt. Und es ist der Kulturbruch der Digitalisierung, der das digitalisierte Material in die neue Zeitstufe der permanenten Gegenwart hineinkatapultiert. Dieses Material ist – einmal im Netz – auf Dauer vorhanden, lässt sich problemlos durchsuchen, ohne Unkosten kopieren, endlos kombinieren und in immer neuen Schüben revitalisieren. Ganz anders hingegen erscheint jene Welt, in der die bedruckte Seite – zum Beispiel als einzelner Artikel, Zeitung oder Buch – im Zentrum steht. Es ist eine Welt der sich selbst begrenzenden Reichweite und der prinzipiell immerhin möglichen Informationskontrolle. Zeitungen und Bücher verschwinden im Archiv und in Bibliotheken – und sind nicht mehr sofort verfügbar. Sie lassen sich schwärzen, einstampfen, verbrennen. Einmal digitalisiertes Material hat sich hingegen von der Fesselung an Zeit und Raum, an Geschichte und Kontext gelöst, es besitzt eine neue Leichtigkeit und Beweglichkeit, erreicht im Extremfall ein Weltpublikum und wird – für alle zugänglich – dezentral und in den unendlichen Verzweigungen des Netzes archiviert.

Dieses Archiv ist zur Allmende geworden, das jeder benutzen kann. Die Realitäts­partikel, die sich im Datenuniversum leicht auffinden lassen, bilden den Stoff, aus dem sich heute das öffentliche Bild eines Politikers zusammensetzt; sie sind das Material, aus dem sich auch seine soziale Identität, aber eben auch die böse Botschaft des Versagens und Vergehens formen lassen.

Dabei ist es falsch zu behaupten, dass das Netz nicht vergisst. Selbst bei Groß- und Weltereignissen sind, wie eine Studie von US-Informatikern zeigt, nach zweieinhalb Jahren fast 30 Prozent aller Quellen wieder verschwunden. Jeder macht Tag für Tag die Erfahrung, dass Links nicht mehr funktionieren, Programme veralten und Texte, Fotos und Filme mit einem Mal unwiederbringlich verloren sind. Das Netz vergisst sehr viel – und erinnert sich umso intensiver an das, was kollektiv interessiert. Wichtig bleibt, was Aufmerksamkeit erregt, was Klicks bringt und Links und Tweets und Posts. Technischer Fortschritt und plötzliche Informationsverluste durch unzuverlässig gewordene Speichermedien, die Geschäfts- und Werbeinteressen von Netzgiganten wie Google, Facebook, Amazon und schließlich die kaum vorhersagbaren Zeitstimmungen, das sich wandelnde Tabuempfinden, die Publikumsinteressen – sie alle programmieren die große Gedächtnismaschine auf eine Weise, die dem Einzelnen die Kontrolle über das Image seiner digitalen Zweitpersönlichkeit entzieht.

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Was aber geschieht, wenn sich die Identität in eine beständig aufpoppende Online-Fratze verwandelt? Mancher Netzexperte will in dieser Situation die große Lösung – und fordert eine andere Kultur des Vergebens und Vergessens, die anerkennt, dass selbst ein Totschlag verjährt und irgendwann aus dem polizeilichen Führungszeugnis getilgt wird. Andere propagieren eine Art Selbstzerstörung von Daten, die ihr eigenes Verfallsdatum in sich tragen – eine technisch grundsätzlich umsetzbare, aber noch nicht befriedigend realisierte Idee. Und mancher setzt darauf, dass sich im digitalen Panoptikum der Gegenwart Gewöhnungseffekte einstellen. Das Motto der Post-Privacy-Enthusiasten: In einer Welt der Transparenz ist der einzelne Fehler irgendwann unspektakulär, weil die Abweichung längst zur Normalität geworden ist; alles ist sichtbar und damit auch irgendwie egal. Aber auf die Einkehr einer neuen Toleranz kann man zumindest im politischen Milieu nicht hoffen, weil nach dem Ende der großen ideologisch-weltanschaulichen Konfrontation individuelle Glaubwürdigkeit und persönliche Integrität zu Leitwerten der Politik geworden sind. Der Skandalschrei funktioniert hier – auch aus nichtigem Anlass – nach wie vor und ist für manches Medium schlicht ein gutes Geschäft im härter werdenden Kampf um Aufmerksamkeit.

Was also kann man tun? Wäre es womöglich sinnvoll, sich gleich zu Beginn einer politischen Karriere einmal pauschal für alles zu entschuldigen? Kann das überhaupt funktionieren? Es war ein amerikanischer Reporter, der Anthony Weiner, den Shootingstar der Demokraten, einmal nach seinem offensiven Umgang mit Facebook und Twitter fragte – und eine vorauseilende Entschuldigung provozierte. Der Politiker sagte, er könne schon heute mit „metaphysischer Gewissheit“ sagen, dass er Fehler machen werde. Gerne wolle er deshalb prophylaktisch alle um Verzeihung bitten, die er womöglich eines Tages verletzen werde. Wenig später zerstörte Anthony Weiner seine Karriere, weil er ein Handyfoto seiner vor Erregung ausgebeulten Unterhose an eine Studentin von Washington, D.C. nach Seattle schickte – aber für das sogenannte „Sexting“ den falschen Verteiler wählte und die als „package.jpg“ betitelte Datei für Tausende von Menschen in seiner Twitter-Timeline sichtbar war. Weiner trat zurück, unterlegt vom kreischenden Spottgesang der Boulevardpresse.

Nun möchte er, so heißt es, nach Jahren der Abstinenz gerne in die politische Arena zurückkehren und für das Amt des New Yorker Bürgermeisters kandidieren. Das Problem ist nur: Seine Ankündigungen haben die Cybersex-Affäre wieder aktuell werden lassen. Kein Artikel, der nicht seine Unterhosenfotos erwähnen würde, kein Text ohne süffige Anspielungen. Auch Weiner kommt nicht frei. Es geht gar nicht mehr um ihn. Es geht um den Zombie aus dem Netz. Und Bürgermeister wird der nie.

 

 

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