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(picture alliance) Ronald Pofalla hat nicht nur Wolfgang Bosbach beleidigt.

Verbalattacke - Pofalla hat das Grundgesetz beleidigt

Gerhard Schröders sicherheitspolitischer Berater im Kanzleramt hatte seinen Hut nehmen müssen, nachdem er einen Oberfeldwebel der Bundeswehr im Kanzlerflugzeug als „Arschloch“ bezeichnet hatte. Auch Ronald Pofalla hat seine Wortwahl gegenüber Herrn Bosbach verfehlt. Bei ihm aber ist das offenbar etwas anderes. Ein Kommentar

Ein Jahrzehnt ist es her, dass der außen- und sicherheitspolitische Berater im Kanzleramt Gerhard Schröders, der erfahrene Diplomat Michael Steiner, einen Oberfeldwebel der Bundeswehr im Kanzlerflugzeug als „Arschloch“ bezeichnete. BILD berichtete. Schröder: „Auf der ersten Seite, oben?“ So war es, und Steiner musste zurück ins Glied des Auswärtigen Amtes. Heute ist er Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Pakistan und Afghanistan.

Als Ronald Pofalla, Chef des Bundeskanzleramts und Bundesminister für besondere Aufgaben im Merkel-Kabinett, kürzlich dem Abgeordneten Wolfgang Bosbach, CDU,  versicherte, „ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“, mögen ihm angesichts des fraktionszwangsresistenten Parlamentariers, dem die Euro-Rettungsschirm-Politik seiner Partei zu weit ging, die Nerven durchgegangen sein. Wäre Bosbach ein Oberfeldwebel in Uniform, hätte Pofalla wahrscheinlich seinen Hut nehmen können – oder auch nicht: Ausschlaggebend wäre nicht sein, sondern Angela Merkels Ehrgefühl gewesen. Oberfeldwebel in Kanzlerflugzeugen sind ex officio keine „Arschlöcher“ und haben auch keine „Fresse.“ Sie repräsentieren die Bundeswehr.

Bei Abgeordneten scheint das anders zu sein. Denn erstens haben sich die beiden Politiker hinterher privat „geeinigt“, und zweitens ist hier der mögliche Fall einer strafbaren Beleidigung noch rechtlich unklar: Ist „Fresse“ eine juristisch eindeutig definierte Invektive? Wo liegt der Unterschied zwischen „Halt die Klappe!“ und „Halt die Fresse“? Der Volksmund ist da großzügig.

Wesentlich gravierender aber ist Pofallas Beleidigung des Grundgesetzes, das bekanntlich nicht persönlich klagen kann. Denn als Bosbach sich auf die Gewissensfreiheit des Abgeordneten berief, meinte Pofalla, er könne diesen „Scheiß“ nicht mehr hören. Meinte er damit Bosbachs ständige Wiederholung  dieses bekannten Sachverhalts, oder meinte er Artikel 38 des Grundgesetzes: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags … sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“?

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die parlamentarische Praxis des Fraktionszwangs den Artikel 38 unterhöhlt.

Wahrscheinlich meinte er beides. Denn die parlamentarische Praxis des Fraktionszwangs hat seit eh und je jenen idealistischen Artikel unterhöhlt und entkernt. Sie hat außerdem dazu geführt, dass nicht wenige Abgeordnete sich der Mühe entziehen, einzelne Gesetz-Vorlagen im Bundestag auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen. Stattdessen folgen sie den Vorgaben ihrer Ausschussmitglieder (was zweckhaft genug ist), aber auch den partei-internen Machtverhältnissen, die nicht wenig mit ihrer eigenen Karriere zu tun haben.

Wer kein direktes Mandat gewonnen hat, sondern mit einer günstigen Listenplatzierung in den Bundestag gewählt wurde, wird sein Gewissen nicht überstrapazieren, wenn sein wohlbezahlter Beruf auf dem Spiel steht. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Parlamentsdebatten werden eintönig, Parteigewissen steht gegen Parteigewissen. Außenseitern wie Bosbach oder Gauweiler fällt in diesem Rollentheater allenfalls das Fach des unfreiwilligen Komikers zu. Da dieses Stück nun schon seit Jahrzehnten en suite gespielt wird, stellt sich die Frage kaum noch, ob die parlamentarische Mehrheit der regierenden Parteien sich nicht auch einmal irren kann. Und natürlich tut sie das häufig. Die permanenten Novellierungen („Nachbesserungen“) der Gesetze können als Beweis dienen. Dass es aber im Falle von Euro-Bürgschaften in Höhe eines halben Bundeshaushalts um mehr geht als um eine Ergänzung der Ergänzung eines Fluss- und Sumpfsanierungsgesetzes, hätte Herr Pofalla seinem Kollegen durchaus abnehmen können.

Pofallas Verdienst liegt darin, einmal richtig klar gestellt zu haben, welche Rolle eigenständig denkende Parlamentarier im politischen Kosmos seiner Parteigranden spielen. Bleibt also nur noch die Stil-Frage. Sie ist außer Mode gekommen. Wer – notgedrungen – in öffentlichen Räumen, ob in Zügen, Restaurants, auf Straßen oder in Hörsälen Ohrenzeuge zeitgenössischer Konversationsformen wird, muss zugeben, dass „Scheiße“ inzwischen die Füllwort-Funktion übernommen hat, die in den USA dem Wörtchen „fuck“ zugewachsen ist. Insofern ist die Frage, ob Pofalla oder Bosbach ein Ehrgefühl haben, das sich in ihrer Umgangssprache widerspiegelt oder nicht – wahrscheinlich „scheißegal.“ 

Überhaupt nicht egal ist eine ganz andere Frage: Welche Verantwortung trägt Ronald Pofalla, immerhin der zweitmächtigste Politiker im Kanzleramt  eigentlich für den erstaunlichen Ansehensverlust Angela Merkels bei den Wählern im eigenen Land, von Europa ganz abgesehen?

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