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(picture alliance) Das Bundesverfassungsgericht sieht Bundestagsrechte verletzt

Karlsruhe-Urteil zum ESM - Placebos für das Parlament

Karlsruhe stärkt die Mitwirkungsrechte des Bundestags. Nach der Organklage der Grünen muss die Bundesregierung in Angelegenheiten der EU das Parlament mit mehr Informationen versorgen. Die Entscheidung befeuert dennoch die Tendenz, dass der Bundestag an Bedeutung verliert

Es klingt gut. Die Karlsruher Richter stärken in ihrer Entscheidung vom heutigen Tage einmal mehr die Mitwirkungs- und Informationsrechte des Bundestags in Angelegenheiten der Europäischen Union.

Der Bundestag müsse so unterrichtet werden, dass er frühzeitig und effektiv auf die Willensbildung der Bundesregierung Einfluss nehmen könne, sagte Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, in seiner Urteilsbegründung „Die Abgeordneten dürfen nicht erst dann eingebunden werden, wenn sie die Handlungen der Regierung nur noch abnicken könnten.“.

Das Gericht ist der Begründung der Bundesregierung nicht gefolgt. Demnach seien die Verhandlungen zum ESM und dem Euro-Plus-Pakt lediglich völkerrechtliche Verträge, für die ausschließlich die Exekutive verantwortlich sei. Angelegenheiten der Europäischen Union, wie sie Artikel 23 des Grundgesetzes beschreibt, werden nach dieser Entscheidung sehr weit gefasst. Die Regierung muss den Bundestag künftig also auf allen Gebieten der Europapolitik stärker einbinden.

Seit dem Lissabon-Urteil wollen nun auch andere Fraktionen des Bundestags jenseits der üblichen Verdächtigen wie Peter Gauweiler (CSU) oder die Linksfraktion fleißig selbst ihre Rechte geltend machen. In der Entscheidung zum Lissabonvertrag 2009 musste das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag und dem Bundesrat noch mehr Mitspracherechte förmlich aufdrängen. Denn aus den Reihen von Union (mit Ausnahme des Dauerquerschlägers Gauweiler), FDP, SPD und Grünen fühlte sich niemand bemüßigt, für die Rechte des Parlaments nach Karlsruhe zu ziehen. Es fragt sich, ob in den Fraktionen von Schwarz-Gelb und Rot-Grün überhaupt ein Problembewusstsein dafür bestand.

Eigentlich könnte man nun voller Hoffnung sein, weitere Entscheidungen der Verfassungshüter bei Defiziten zwischen Exekutive und Legislative abwarten und die Renaissance des Parlamentarismus in Deutschland feiern. Der Bundesgeschäftsführer der Grünen, Volker Beck, twitterte auch schon freudetrunken: „Sieg! Ein guter Tag für die Demokratie in Deutschland und Europa.“

Wenn dieser Sieg nicht zum Pyrrhussieg mutiert. Denn die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zeigen eines eklatant: den voranschreitenden Bedeutungsverlust des Bundestags. Die Karlsruher Richter stellten notwendige Rechte des Bundestags fest, damit ein Hauch von Handlungsfähigkeit bei der Legislative verbleibt.

Der Bundestag ohne Zukunft?

Der Finanzstaatssekretär, Werner Gatzer, sagte nach der Urteilsbegründung: „Die Regierung muss handlungsfähig bleiben im internationalen Bereich. Die Geheimhaltung wird schwerer.“ Sicherlich ist diese Aussage ein wenig übertrieben. Es spricht nichts dagegen, bei Beratungen auf europäischer Ebene die Fraktionen des Bundestags turnusgemäß zu informieren und dabei die gängigen Geheimhaltungsregeln anzuwenden.

Wie es rein praktisch aussieht, wenn die Bundeskanzlerin nach zähen Verhandlungen auf den kommenden Krisengipfeln um 4:30 Uhr morgens alle Bundestagsfraktionen in einer Telefonkonferenz zusammentrommeln will, wird noch eine spannende Angelegenheit.

Ob jedoch eine neue Informationsoffensive der Regierung den Bedeutungsverlust der nationalen Parlamente nicht nur in Deutschland stoppen kann, bleibt höchst fraglich. Seit einigen Jahrzehnten verschieben sich radikal die Kräfteverhältnisse von Bundestag zur Bundesregierung. Die Gesetzgebungsorgane der Mitgliedsstaaten sind in der Tat nur noch Komparsen und müssen am Rand zuschauen, wie die Regierungen in Europa, allen voran Deutschland und Frankreich, in aller Konsequenz die politische Union vorantreiben. Ein wenig Abhilfe kam heute aus Karlsruhe.

Letztlich zwingt die seit Jahren andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise dazu, das Tempo unweigerlich anzuziehen. Die Ministerialbürokratien in Brüssel, Berlin und den übrigen Mitgliedsstaaten produzieren in kurzer Abfolge 700-Seiten-Konvolute, die ein durchschnittlicher Abgeordneter schlicht nicht erfassen kann.

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Voßkuhle richtete einen eindringlichen Appell an die Beteiligten: „Demokratie hat ihren Preis. Bei ihr zu sparen, könnte aber sehr teuer werden.“ Derzeit sieht es so aus, als ob die nationalen Demokratien in Europa an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Die Regierungen in der EU sind jetzt vor allem gehalten, in demokratische Strukturen der europäischen Institutionen zu investieren, sonst droht tatsächlich eine Art Postdemokratie. 

Einstweilen aber bleibt den Karlsruher Richtern nicht viel anderes übrig, als dem deutschen Parlament Placebos zu verabreichen. Zu mehr taugt die heutige Entscheidung leider nicht.

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