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Die Bundesgeschäftsstelle der Sozialdemokratischen Partei Österreichs in Wien / picture alliance

Volksparteien in Österreich - „Wille zur Macht“ anstatt Gesinnung

Ausgerechnet das vermeintlich beschauliche Österreich zeigt Deutschland dieser Tage, wie eigentlich Politik funktioniert. Während hierzulande die ehemaligen Volksparteien zerbröseln, feiern SPÖ und ehemalige ÖVP beachtliche Wahlerfolge. Und das hat seinen guten Grund

Porträt Mathias Brodkorb

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Hans Peter Doskozil, Landeshauptmann des Burgenlandes, ehemals Polizist und Verteidigungsminister, kann dieser Tage vor Kraft kaum laufen. Vor wenigen Tagen hat er für seine SPÖ ein traumhaftes Wahlergebnis von fast 50 Prozent eingefahren. Das bedeutet die absolute Mehrheit im Landtag. Schenkt man den hippen soziologischen Analysen über die „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) allzu große Aufmerksamkeit, dürfte es so etwas eigentlich gar nicht mehr geben. Zu kompliziert und zu individualisiert sei die Welt inzwischen, als dass sich hinter Volksparteien noch echte Wählermassen versammeln könnten. „Dosko“ hat nun allen bewiesen, dass es auch anders geht. Die Grundlagen dafür allerdings legten zwei andere österreichische Politiker: Hans Niessl und Sebastian Kurz.

Es kam – für die liberale Elite – einem Tabubruch gleich, als der damalige Landeshauptmann Hans Niessl (SPÖ) im Jahr 2015 für das Burgenland eine Liaison zwischen SPÖ und rechtspopulistischer FPÖ einging. Über die Motive äußerte sich Niessl gegenüber dem Cicero freimütig. Die FPÖ vertrete schließlich aufgrund ihrer Wählerstruktur nicht „wie die ÖVP in erster Linie Kapitalinteressen“, mit ihr könne man eher sozialdemokratische Politik für die kleinen Leute durchsetzen. Die Einbindung in die Regierungsverantwortung sollte außerdem dazu beitragen, den Populismus der FPÖ zu entzaubern und die Blauen gesund zu schrumpfen. Mission accomplished – möchte man da sagen. Während die Sozialdemokraten fulminant zulegten, stürzte die FPÖ in die Einstelligkeit ab.

Ein und dieselbe Strategie, zwei Gewinner

Aber auch das wäre kaum möglich gewesen ohne den österreichischen Kanzler Kurz. Der hatte bekanntermaßen im Jahr 2017 die schwarz-rote Koalition platzen lassen, Neuwahlen provoziert und anschließend auf Bundesebene ein Bündnis mit der FPÖ gesucht. Das scheiterte zwar mit großem Getöse an der Ibiza-Affäre – aber der Gewinner hieß Sebastian Kurz. Innerhalb von nur zwei Wahlen katapultierte er seine schwächelnde ÖVP von rund 24 auf fast 38 Prozent Wählerzustimmung. In Sachen politischer Fortune allerdings steht „Dosko“ dem Kanzler in nichts nach. Auch er sprang auf den Zug auf, nutzte die erodierende Vertrauensbasis der FPÖ, beendete die Koalition mit der FPÖ und erzwang ebenfalls vorgezogene Neuwahlen. Ein und dieselbe Strategie, zwei Gewinner.

Die Basis dieses Erfolges ist dabei nicht einmal sonderlich schwer zu ermitteln: neben einer auf Massenwählerschaften abzielenden programmatischen Grundausrichtung sind es vor allem taktisches wie strategisches Geschick und der „Wille zur Macht“. Der deutschen Politik ist diese Trias bereits seit geraumer Zeit abhanden gekommen – und damit die Politik im eigentlichen Sinne. In Deutschlands Parteien werden nicht mehr Beitragsmarken in Mitgliedsbücher geklebt, sondern eifrig Karmapunkte für die Zeit nach der Wiedergeburt gesammelt.

Thüringen steuert auf Unregierbarkeit zu

Die historischen Wurzeln dieser ganz eigenen Art der Politik sieht Josef Joffe bereits in Adenauers Westpolitik schlummern. Dem blieb tatsächlich gar nichts anderes übrig, als aus dem deutschen „Machtstaat“ den „Moralstaat“ zu machen, um auf dem internationalen Parkett wieder reputationsfähig zu werden. Willy Brandt setzte mit seiner Ostpolitik diese Strategie fort und verfolgte seinerseits deutsche „Interessenpolitik im Gewande der Idealpolitik“. Mit Angela Merkel kam diese spezifisch deutsche Form der Politik schließlich zu ihrer Vollendung. Ursprünglich ersonnen als außenpolitische Taktik, hat sich der überbordende Moralismus des „guten Deutschen“ in die Innenpolitik gewendet und ist mit ihm charakterlich längst verwachsen. Der identitätspolitische Hokuspokus dieser Tage findet darin seinen Humus.

Die Folgen hiervon sind aller Orten mit Händen zu greifen. Es handelt sich um nicht weniger als den „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ (Hermann Lübbe). Was einem dabei abhanden kommt, ist echte politische Handlungsfähigkeit. Am hilflosen Umgang mit der AfD kann man dieses Schauspiel idealtypisch studieren. Stets verbietet es der der politischen Klasse inhärente Moralismus, das sachlich Gebotene zu tun. Einen ersten Vorgeschmack liefert das Land Thüringen: Man steuert auf die Unregierbarkeit zu.

„Wille zur Macht“

Sagen wir frank und frei heraus, wie es ist: Adolf Hitler gehört noch immer zu den einflussreichsten deutschen Politikern – und er wäre deshalb wohl sehr stolz auf sich. Nein, ich meine gar nicht AfD oder NPD, sondern all die anderen – vielleicht mit Ausnahme der FDP. Gewiss, es handelt sich um eine ablehnende Besessenheit. Aber auch Besessenheit ist eine Besessenheit und macht am Ende blind.

Österreichs Volksparteien haben sich hiervon gelöst – und feiern damit Erfolge. Gewiss, dieser Prozess dauerte Jahrzehnte und setzte Anpassungsprozesse auf allen Seiten voraus. Ohne Preisgabe eines übersteigerten politischen Moralismus, der den politischen Gegner stets zum Wiederauferstandenen macht und damit nicht nur zum Gegner, sondern gleich zum Feind erklärt, kann man sich aus diesem selbst gebauten Gefängnis jedoch nicht befreien. Und genau dies wäre erforderlich, um aus Politik wieder das zu machen, was sie eigentlich ist: die Trias aus Inhalt, Taktik und Strategie sowie dem „Willen zur Macht“.

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Johannes Renz | Mo., 3. Februar 2020 - 15:30

Allerdings ist es nun nicht so, dass es noch keinen deutschen Kurz oder Dosko gab. Ich erinnere an die Bürgerschaftswahlen von 2001 und 2004 in Hamburg und an Ole von Beust. Der traute sich 2001 mit seiner CDU und einem Wahlergebnis von 26 % eine Koalition mit der ebenfalls rechtspopulistischen Schill-Partei einzugehen. Knapp 3 Jahre später waren Schill. & Co. entzaubert und von Beust holte für seine Partei in vorgezogenen Neuwahlen 42 %.

Manfred Sonntag | Mo., 3. Februar 2020 - 15:40

Herr Brodkorb, ich bin begeistert von Ihrem Artikel. Leider sind wir in D Lichtjahre von solchen Verhältnissen entfernt. Nur ein Beispiel ist der Islam: Es geht um Rot, Rot und Grün.
Es interessiert sie nicht, dass ihre Glaubensbrüder in den muslimischen Ländern verfolgt, gesteinigt, einfach umgebracht werden. Es interessiert sie auch nicht die Unterdrückung der Frauen im Dunstkreis des konservativen Islam. Es interessiert sie auch nicht die Bildungsfeindlichkeit des reaktionären Islam. Deshalb werden von RRG auch die Anforderungen an Schulen und Universitäten nach UNTEN geschraubt. Es interessiert sie auch nicht die Ideologie des Herrenmenschen im Islam! Und die CDU, die lacht und macht alles mit. Da ist die AfD ja richtig progressiv! Als Wähler möchte ich Lösungsvorschläge und keine verquasten Vorträge über Identitätspolitik von erzreaktionären Pseudolinken.

Bernhard K. Kopp | Mo., 3. Februar 2020 - 16:32

Antwort auf von Manfred Sonntag

Herrn Kurz und seinen Freunden ist mit der Neuorganisation der ÖVP, von schwarz zu türkis, eine beachtliche Reform der konservativen Partei gelungen. Betreffend die SPÖ kann man aber nur wegen des kürzlichen Wahlsiegs von bodenständigen, pragmatischen Herrn Doskozil im Burgenland nicht von einer Reform der bundesweiten SPÖ sprechen. Von Wien bis Bregenz ist die SPÖ eher am Verzweifeln als am Gewinnen.

Hans Jürgen Wienroth | Mo., 3. Februar 2020 - 16:22

In Deutschland (und in der EU!) versuchen die „Volksparteien“ dem Bürger ihre Politik zu erklären. Das hilft nichts, wenn der Wähler diese Politik nicht will. Das machen die Österreicher anders.

Bernhard K. Kopp | Mo., 3. Februar 2020 - 18:20

Antwort auf von Hans Jürgen Wienroth

Sie sagen manchmal, dass sie " erklären " möchten. Tatsächlich beugen sie das Recht, ignorieren die Verfassung, und halten sich auch als kontinuierliche Wahlverlierer mit parlamentarischen Tricks ( GroKo ) gegen die Interessen des Landes und der Menschen an der Macht, um uns die Politik aufzuzwingen. Die politische Klasse ist nicht benevolent.

Ernst-Günther Konrad | Mo., 3. Februar 2020 - 16:36

<Gemeinsames europäisches Asylsystem mit einheitlichen Asylverfahren, fairer Kostenverteilung und standardisierten Leistungen. Maximale Dauer eines Asylverfahrens auf 3 Monate begrenzen. Wer keinen Asylgrund hat, darf nicht bleiben.>
< Die Werte der Aufklärung, auf welche unsere Gemeinschaft baut, sind: Meinungsfreiheit, die Rechte des Individuums, Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, Gleichberechtigung zwischen hetero-und homosexuellen Menschen und ein säkularer Staat, in dem Gesetze über religiösen Vorstellungen stehen.">
Mir ist kein Papier oder eine öffentliche Festlegung der SPD zum Thema Migration bekannt. Im Gegenteil, jeder Versuch einer Diskussion und jede nicht linke Äußerung zu dem Thema wird nieder gemacht, der Betreffende in die rechte Ecke gestellt.
Und genau deshalb, hat die SPÖ in Kombination mit der FPÖ im Burgenland gepunktet. Und genau deshalb visiert die SPD in stramm die 5 % Marke an, weil sie u.a. dieses Thema ignoriert und besoffen nach links gefallen ist.

Was die SPD zumindest in meinen Augen derzeit unwählbar macht, ist, dass sich hier eine unsägliche Anzahl von Karrieristen ansammelt, denen es wirklich nur um die eigenen Befindlichkeiten und den eigenen Geldbeutel geht. Ich denke z.B. an Martin Schulz und seine Selbstbedienungsmentalität. Auch an den Oberbügermeister von Frankfurt Feldmann, der die Awo für sich und seine Ehefrau benutzt hat. Gab es Konsequenzen seitens der SPD? Ich denke an F. Giffey, die große Hoffnung der SPD, die ihre "Promotion" nur durch Abschreiben zusammengeschustert hat und deren Ehemann durch Betrug aus seinem Beamtenverhältnis geworfen wurde. Oder an Herrn Kahrs, dessen unsaubere Bemühungen, Wehrbeauftragter zu werden, unlängst Gegenstand eines Artikels in der "Welt" waren. Wessen Interessen vertritt diese Partei noch? Wer soll sie wählen?

Tomas Poth | Mo., 3. Februar 2020 - 23:09

Das Versammeln hinter den Volksparteien scheitert doch daran, dass die Volksparteien gegen die Interessen der Wähler regieren und nicht am eigenen mangelnden Machtwillen.
Wer die deutschen Steuerzahler für alles Unbill auf der Welt zahlen lassen will (Missbrauch der Regierungsmacht), stößt halt an Grenzen.
Wer die Grenzen des Zumutbaren überschreitet verliert!

Norbert Heyer | Di., 4. Februar 2020 - 06:37

Der Besuch von Herrn Kurz bei unserer Kanzlerin hat sofort aufgezeigt, welche gravierenden Unterschiede zwischen beiden politischen Ansichten bestehen. Freundlich, aber bestimmt, lehnt der österreichische Bundeskanzler die unsägliche Seenotrettung und auch die Börsensteuer ab. Die Kanzlerin will weitere Migration und einen „fairen“ Verteilungsschlüssel, Herr Kurz will konsequenten Grenzschutz. Diese Kernaussagen verbreitete er mit dem typischen Wiener Schmäh, während Frau Merkel neben ihn sich zusammennehmen musste, um nicht wie ein kleines Kind mit dem Fuß aufzustampfen. Herr Kurz vertritt in erster Linie die Interessen seines Landes und Frau Merkel vertritt alle Interessen, nur nicht die ihres Volkes. Mit seinem „Nein“ zu den kruden Plänen der Kanzlerin hat er ganz nebenbei auch die geplante Grundrente pulverisiert, sollte doch die Börsensteuer die Finanzierungsbasis sein. Frau Merkel will nur die Sparer besteuern, Herr Kurz aber die Spekulanten, das ist der gravierende Unterschied.

Das dachte ich auch lieber Herr Heyer! Und hat zumindest mir bewiesen, das BK Kurz unbeirrt seiner jeweiligen Koalitionspartner seinen für richtig befundenen Kurs beibehält. Er ist nicht so kurzsichtig zu glauben, das nur weil die FPÖ und deren Wähler regierungspolitisch momentan außen vor sind, das Problem Zuwanderung in
Österreich keine relevante Rolle mehr spielen würde. Und im Gegensatz zu unseren Spezialdemokraten scheint dies der SPÖ in weiten Teilen auch aufgegangen zu sein. Beide österreichischen Volksparteien verfügen somit nicht nur über unterscheidbare aber massentaugliche Grundsatzprogramme, sondern scheinbar auch die jeweils dazu passenden glaubwürdigen Vertreter. Felix Austria! MfG

gabriele bondzio | Di., 4. Februar 2020 - 09:46

Wenn man bedenkt, das das Werk von Professor Lübbe schon 35 Jahre auf den Buckel hat, ist seine Aktualität eher gestiegen. Besonders in DE. Die Argumentation geht flöten, stattdessen wird unter dem Deckmantel von Moral, hemmungslos gehetzt (siehe aktuell Böhmermann). Zumindest aber für den Kommunikationsgegner die rechte Schublade geöffnet. Man vernachlässigt jedoch die Tatsache, das derartige Praktiken nur bis zu einem bestimmten Grad Erfolg versprechen. Und dann einem Einrichten bzw. Ignorieren Platz machen. Kommunismus und Nationalsozialismus, haben sich aus diesen Tatsachen bedient.
Ob man allerdings in Österreich diesen Schuhen entwachsen ist, wage ich zu bezweifeln. Und greife zu dem Sprichwort: "Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer".
Oder abgewandelt, Wähler sind heute „scheue Rehe“ und wechseln ihre Reviere schneller als Politiker denken können.

Hans Schäfer | Di., 4. Februar 2020 - 10:05

In meinen unbedeutenden Augen einer der besten Artikel, den ich bei CICERO gelesen habe. Unbeantwortet bleibt aber die Frage, ob durch das Einbinden der FPÖ in die Reg-Verantwortung deren Populismus entzaubert worden wäre. Gescheitert ist die KOA nicht an ihrer bis dahin praktizierten Politik, sondern an der Dummheit Straches.
Unsere KOA agiert nicht, Sie reagiert nur. Verstrickt sich in Nebensächlichkeiten und in parteiinternen Streitigkeiten. Hiervon will man ablenken, in dem man dem politischen Gegner die Schuld zuzuschieben versucht. Dieser Versuch ist grandios gescheitert, wie der hilflose Umgang mit der AfD, der einem Kindergarten gehabe gleichkommt, beweist. Man wollte die AfD mit Argumenten stellen. Herausgekommen ist eine Debatte über die Sitzordn. im Plenum, ein Verstoß gegen § 2 GO-BT und das AfD-Politikern keine Plattform mehr in den Staatsmedien geboten wird.
Sie sollten sich den Gutesten G.L. als Berater nehmen, der weiß eine Lösung: Nicht verzagen Schäfer fragen!

Dennis Staudmann | Di., 4. Februar 2020 - 16:24

Parteien die Wähler nicht als zu belehrende Masse, die aufgrund der weit verbreiteten Unwissenheit erzogen werden muss, die "Alternativlosigkeit" komplexer politischer Sachverhalte zu erkennen. Die grossen Parteien in Deutschland kommen überhaupt nicht auf die Idee, unvollkommen zu sein. Man ist überzeugt davon, dass für die massiven Stimmenverluste nicht die Parteien sondern die Wähler verantwortlich sind. Man glaubt ernsthaft, dass die "lieben Wähler" von einst, bei denen man sich an vielen Wahlabenden jahrzehntelang für die Stimmen bedankte, eigentlich schon immer rechtsradikal waren. Mit diesen "Rechten" muss man dann auch nicht sprechen oder auf deren Argumente hören, auf die man nicht sachlich reagieren kann. Was bleibt ist die Hoffnung auf die Wählerschaft von morgen, die man jahrelang in den Schulen indoktriniert hat.