Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Auf der Suche nach Legitimation: Umweltminister Norbert Röttgen – hier in der Eifel

Energiewende - Norbert Röttgens Fehleinschätzungen zum Atomausstieg

Was denkt die deutsche Bevölkerung wirklich über Atomkraft? Umweltminister Norbert Röttgen pickt sich die Umfrageergebnisse heraus, mit denen er seine Politik legitimieren kann

Viele Politiker in Deutschland können mit Ergebnissen von Umfragen nicht adäquat umgehen. Einige glauben, die Ergebnisse der Umfrageforschung nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen und verkünden trotzig, sie hielten von Umfragen rein gar nichts. Damit verkennen sie aber, dass die Befunde auch der politischen Meinungsforschung – sofern sie von seriösen Instituten betrieben wird – auf dem beruhen, was die Menschen den Interviewern der Institute anvertrauen. Auch seriösen Instituten unterlaufen – wie jeder Zunft im Lande – zwar hin und wieder Fehler – so wie bei der Bundestagswahl 2005, als die Union in den Umfragen vor der Wahl zu hoch eingeschätzt wurde.

Doch die Institute erfinden keine Zahlen, sondern referieren immer nur das, was die Menschen bei einer Erhebung sagen. Sie geben sozusagen den Menschen permanent „eine Stimme“. Insofern geben Politiker, die die Ergebnisse von Umfragen nicht ernst nehmen, zu verstehen, dass sie letztlich die Befindlichkeiten von Menschen, deren Sorgen, Ängste, Probleme und Interessen nicht ernst nehmen.

Andere Politiker wiederum – und das ist genauso wenig angemessen wie das Ignorieren von Umfragen – kommen zu den Instituten mit der flehentlichen Bitte, doch herauszufinden, mit welchen Themen sie in den Wahlkampf ziehen sollen oder wer ein geeigneter Spitzenkandidat sei. Diese Sorte Politiker verkennt, dass Umfragen keine Politik ersetzen können. Die Politik und nicht die Umfrageinstitute haben die Aufgabe, Führungskraft zu zeigen und die Meinungen der Menschen auch zu prägen.

So hatte z.B. der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder das Thema Irak 2002 nicht in der Endphase des damaligen Wahlkampfs in den Mittelpunkt gestellt, weil ihm dies Umfragen geraten hatten, sondern weil er selbst verspürte, dass die Menschen reale Angst davor hatten, dass Saddam Hussein seine Massenvernichtungswaffen (an die damals jeder glaubte) in Richtung Europa und Deutschland lenken würde, wenn die US-Amerikaner im Irak einmarschierten. Erst nach Schröders Entscheidung, sich an einem Irak-Krieg nicht zu beteiligen, ergaben die Ergebnisse der Umfragen, dass die große Mehrheit der Bürger (über 80 %) diese Entscheidung für richtig befand.

Wieder andere Politiker – und zu denen gehört Norbert Röttgen – picken sich in den Medien herumschwirrende Umfrageergebnisse heraus und glauben, damit ihre Politik rechtfertigen oder gar legitimieren zu können. So meinte Röttgen im SPIEGEL-Interview Anfang März auf die Frage, ob er ein Jahr nach Fukushima noch immer aus der Atomenergie aussteigen wolle, „die Deutschen wollen das zu über 90 Prozent“.

Nun zeigen zwar alle Umfragen nicht erst seit Fukushima, sondern schon seit dem Reaktorunglück in Tschernobyl vor mehr als 25 Jahren,  dass eine Mehrheit der Bürger der Meinung ist, prinzipiell auch auf die friedliche Nutzung der Kernenergie zu verzichten. Doch daraus – wie es Röttgen zur Begründung der Energiewende im letzten Jahr getan hat – eine „breite Ablehnungsfront“ selbst bei den Anhängern der Union zu konstruieren, ist eher abwegig und entspricht nicht der Realität.

In Wirklichkeit war der Ausstieg aus der Kernenergie auch unmittelbar nach Fukushima für die große Mehrheit der Bürger kein drängendes Problem (und 2012 halten nur noch ein einziges Prozent aller Bürger den Ausstieg aus der Kernenergie und den Einstieg in erneuerbare Energien für ein wichtiges Problem, um das sich die Politik kümmern sollte).

Hätte Röttgen genauer auf die vorliegenden Umfrageergebnisse geschaut, dann hätte er sehen können, dass auch nach Fukushima eine Mehrheit von 61 Prozent aller Bundesbürger die deutschen Kernkraftwerke für sicher hält und dass eine ebenso große Mehrheit der Meinung ist, um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten könne man auch zukünftig nicht auf die Kernkraft verzichten. Er hätte auch sehen können, dass zwei Drittel die Energiewende bis heute nicht für glaubwürdig halten und über die Hälfte (53 %) auch nicht daran glaubt, dass die Energiewende gelingt. Noch mehr Bürger (61 %) glauben auch nicht, dass der Energiebedarf in Deutschland allein durch die erneuerbaren Energien gedeckt werden kann.

Röttgens Einschätzung im Spiegel-Interview, „alle Umfragen zeigen, dass die Deutschen dazu bereit“ seien, höhere Energiepreise zu bezahlen, um etwa die Solarenergie zu finanzieren, entspricht im übrigen auch nicht der Realität. Nun verbreiten in der Tat einige Vertreter der Zunft der Meinungsforscher diese Mär. Doch aus der Tatsache, dass eine Mehrheit der Bürger in Umfragen angibt, mehr Geld für umweltfreundliche Produkte zahlen zu wollen, darf keinesfalls geschlossen werden, dass dies tatsächlich auch so ist. In Wirklichkeit wird diese Antwort nur deshalb gegeben, weil man sie unter dem Druck der in vielen Medien verbreiteten Meinung für sozial erwünscht hält.

Deshalb gehört es zur Pflicht eines verantwortungsbewussten Sozialforschers, die Öffentlichkeit auf diesen Sachverhalt hinzuweisen und nicht so zu tun, als ob die geäußerte Absicht auch tatsächlich mit dem späteren Verhalten übereinstimmt. Seit vielen Jahren und Jahrzehnten nämlich geben Bürger in Umfragen an, für ökologische Belange mehr Geld ausgeben zu wollen. Doch für Produkte mit Umweltsiegeln (wie früher dem „blauen Engel“), für schadstoffärmere Autos, für Öko-Strom etc. tatsächlich mehr Geld zu bezahlen, dazu war und ist nur eine Minderheit bereit oder auch überhaupt in der Lage.

Seit jeher zeigt sich, das alles, was mit Umwelt- oder Klimaschutz zu tun hat, im „Bewusstseinsüberbau“ der Bürger einen hohen Stellenwert hat. Doch im „Verhaltensunterbau“ spielt dieses ökologische Bewusstsein bis heute kaum eine Rolle. Politiker wie Röttgen wären also gut beraten, sich nicht durch oberflächliche demoskopische Bespiegelungen in die Irre führen zu lassen, sondern die den Handlungen der Menschen wirklich zugrundeliegenden Einstellungsmuster zur Kenntnis zu nehmen.

Und als Volkspartei kann man nicht – wie Röttgen auch meint – nur dann „überleben“, wenn man sich vermeintlichen gesellschaftlichen „Grundströmungen“ anpasst. Konsequenterweise müsste sich Röttgen dann auch für einen flächendeckenden Mindestlohn, für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer oder für eine deutlich höhere Besteuerung der Reichen einsetzen – alles Forderungen, die eine Mehrheit der Bürger im Prinzip befürwortet, aber nicht für sonderlich wichtig hält (weshalb die SPD, die all dies fordert, ja nicht davon profitiert).

Die Röttgens der Republik sollten sich besser immer an Konrad Adenauer orientieren, der 1957 zum ersten und einzigen Mal in der Wahlgeschichte der Bundesrepublik die absolute Mehrheit der Stimmen erhielt, obwohl er gegen die Mehrheitsmeinung der Bürger die Wiederbewaffnung durchsetzte, die zwei Drittel aller Bundesbürger damals nicht wollten.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.