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Graswurzel-Wutbürger - Das Dagegen zählt

Das Nein der Berliner zur Randbebauung des Tempelhofer Feldes hat nichts mit Berlin, dem Senat oder „young urbanites“ zu tun, findet Malte Lehming. Mittlerweile steht jede Art von Veränderung unter erhöhtem Legitimationsdruck. Ein Beitrag in Kooperation mit dem Tagesspiegel

Autoreninfo

Malte Lehming ist Autor und Leitender Redakteur des Berliner "Tagesspiegels".

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Warum wollen ultraorthodoxe Juden dasselbe Hutmodell tragen wie ihre Väter und Großväter? Warum ziehen sie bei brüllender Hitze lange Strümpfe und schwarze Mäntel an? Darüber steht doch rein gar nichts in der Bibel!

Die Antwort ist einfach: Es soll sich nichts ändern. So war es, als sie im Schtetl lebten, und so soll es bleiben. Bis in alle Ewigkeit. Untermauert wird das Traditionsbewahrungsgebot durch eine Auslegung der Bibel, der zufolge Gott die Juden aus ägyptischer Sklaverei gerettet hat, weil sie ihre Namen, ihre Sprache und ihre Kleidung bewahrt hatten.

Warum tragen die Amischen, die überwiegend in den US-Bundesstaaten Ohio, Pennsylvania und Indiana leben, keine Knöpfe, fahren keine Autos und benutzen keine Elektrizität? Auch darüber steht ja nichts in der Bibel.

Die Antwort fällt gleich aus: Es soll sich nichts ändern. Die technischen Mittel der modernen Welt zerstören die Tradition. Alles muss bleiben, wie es ist. Das Neue ist schlecht, allein weil es neu ist und vom Ursprung wegführt.

Tradition befriedet die Sehnsucht nach Stabilität
 

Die Beispiele sind radikal, exzentrisch, exotisch. Doch das Festhalten an Traditionen, auch wenn diese nicht direkt auf das Wort Gottes rekurrieren, gehört zum Wesen fast aller Religionen. Es befriedigt die Sehnsucht nach Dauer und Stabilität. Was lange genug da ist und Identität gestiftet hat – einerlei wie nützlich, schön oder wertvoll es an sich ist –, soll erhalten, bewahrt, konserviert werden. Schon bei Kleinkindern, die es partout nicht ertragen, wenn die Ordnung der Dinge durcheinandergerät, lässt sich beobachten, dass Veränderung als solche viel Leiden verursachen kann.

Man hat das Nein der Berliner zur Randbebauung des Tempelhofer Feldes als stadt-, milieu- oder mentalitätsspezifische Besonderheit interpretiert. Besser gesagt: fehlinterpretiert. Denn mit Berlin, Klaus Wowereit, dem Senat, BER oder „young urbanites“ hat das Ergebnis des Volksentscheids nichts zu tun. Mittlerweile steht jede Art von Veränderung unter erhöhtem Legitimationsdruck. Ob ein McDonald’s-Restaurant in der Wrangelstraße oder Wohnungen an der East Side Gallery gebaut, das Tacheles oder der Palast der Republik abgerissen werden sollen, ob Privatwohnungen an Touristen untervermietet werden oder zu viele Schwaben nach Prenzlauer Berg ziehen: Das Andere, Neue, Unbekannte wird so instinktiv wie inbrünstig abgelehnt.

Was durch den Alltag eingemeindet wurde, wird verteidigt
 

Und zwar nicht allein in Berlin. In Hamburg dreht sich der Streit um Rote Flora und Elbphilharmonie, in Frankfurt um den Ausbau des Flughafens, in Stuttgart um das Bahnhofsprojekt S 21, im Inntal gegen die Mautpflicht zwischen Kiefersfelden und Kufstein, fast überall in der Republik gegen neue Stromtrassen und Moscheen. Auch die Proteste in der Türkei hatten sich zunächst an Plänen der Regierung Erdogan entzündet, den Gezi-Park am Rande des Taksim-Platzes zu bebauen, bevor sie sich dann gegen den autoritären Regierungsstil des Ministerpräsidenten und die eskalierende Polizeigewalt richteten.

Was durch regelmäßige Benutzung in Besitz genommen und dadurch in den Alltag eingemeindet wurde, wird verteidigt. Hätte der Berliner Senat das Tempelhofer Feld ein paar Wochen oder Monate nach Schließung des Flughafens bebaut, könnten dort jetzt widerstandslos errichtete Hochhäuser stehen. Der Fehler bestand darin, zu lange gewartet, die innige Vertrautmachung mit der neuen Fläche zugelassen zu haben.

Wogegen ist nicht wichtig, das Dagegen zählt
 

Man mag über das Ergebnis des Volksentscheids spotten, doch das versperrt nur den Blick. Graswurzel-Wutbürger begründen überall und zunehmend neue Formen nichtspiritueller Religiosität. Womöglich lässt sich sogar der Erfolg der „Alternative für Deutschland“ (AfD) wenigstens zum Teil damit erklären. In diesem Fall wird die bereits vollzogene Änderung – Verwandlung der D-Mark in Euro – abgelehnt und der als idyllisch erinnerte Urzustand zurückerhofft. Ähnlich verhält es sich mit den anschwellenden Protesten gegen die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf acht Jahre.

Es soll sich nichts ändern. Alles soll bleiben, wie es ist, oder in seinen vorherigen Zustand zurückversetzt werden. Dieses Grundgefühl charakterisiert unsere Zeit. Der Volksentscheid zum Tempelhofer Feld, der Wahlerfolg der AfD und die Rückkehr zu G 9 sind Symptome dafür. Höchst unterschiedlich in ihren Motiven und ihrem konkreten politischen Gehalt, aber strukturell durchaus analog.

Wogegen, ist nicht wichtig, das Dagegen zählt. Gegen Veränderung. Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt: Der einst linke Slogan ist zum Mainstream geworden.

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