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Demografischer Wandel - Nein, wir wachsen nicht!

Dass Deutschland auf 100 Millionen Einwohner heranwächst, ist in etwa so wahrscheinlich wie ein Champions-League-Titel für Hoffenheim in der kommenden Saison. Ein Leserbrief von Dr. Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung

Autoreninfo

Dr. Reiner Klingholz ist Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung

So erreichen Sie Reiner Klingholz:

In der neuesten Ausgabe von Cicero wähnen Sie Deutschland auf dem Weg zum 100-Millionen-Volk. Nach sämtlichen heute verfügbaren Befunden ist diese Variante in etwa so wahrscheinlich wie ein Champions-League-Titel für Hoffenheim in der kommenden Saison.

Zumal der Beitrag seine Argumentation ausgerechnet auf dem Bevölkerungswachstum in der sachsen-anhaltinischen Stadt Halle aufbaut. In der Tat hat sich dort die Bevölkerungszahl zwischen 2009 und 2011 geringfügig erhöht. Aber das ist kein Beleg für Wachstum, sondern eher für das Gegenteil: Überall in den neuen Bundesländern gehen die Einwohnerzahlen massiv zurück, und dieser Effekt treibt die Menschen in die Städte. Denn in den ländlichen Gebieten dünnt sich allerorts die öffentliche Infrastruktur aus – von Schulen, über Arztpraxen bis zu Einkaufsmöglichkeiten. Die Städte wachsen also lediglich, weil ihr eigenes Umland immer unattraktiver wird. Halle ist neben Magdeburg die einzige kleine Wachstumsinsel in einem Ozean des Schrumpfens. In den zwei Jahren, in denen Halle 1.382 Einwohner hinzugewonnen hat, musste Sachsen-Anhalt einen Verlust von 42.939 Bewohnern vermelden. Wachstum sieht anders aus.

Die Bemerkung der Cicero-Autoren, die Kinderzahl je Frau in Deutschland läge in Wirklichkeit gar nicht bei den immer zitierten 1,4, sondern zeige eine Erholung auf 1,55, führt ebenfalls nicht zu einer wachsenden Bevölkerung. Denn erstens wären dafür im Mittel mehr als 2,1 Kinder je Frau nötig, ein Wert, der für Deutschland außerhalb jeder Vorstellung liegt. Und zweitens handelt es sich bei den zitierten 1,55 Kindern um die Ziffer der so genannten „endgültigen Fertilitätsrate“. Diese beschreibt, wie viele Kinder die Frauen tatsächlich im Laufe ihres Lebens bekommen werden. Die endgültige Fertilitätsrate kann höher ausfallen, als die jährlich vermeldete „totale Fertilitätsrate“, nämlich dann, wenn Frauen die Geburt ihrer Kinder in ein immer höheres Alter aufschieben.

[gallery:keine Kinder zu bekommen]

Doch in Wirklichkeit weiß niemand, ob sich die Frauen, die sich vorerst zurückhalten, im höheren Alter tatsächlich noch für Kinder entscheiden werden. Die endgültige Fertilitätsrate der heutigen Frauen basiert also auf Vermutungen. Vor allem aber fehlen die aufgeschobenen Kinder de facto in der Bevölkerungsstatistik. Nur Kinder, die in einem bestimmten Jahr tatsächlich geboren wurden, können später auch zur Schule gehen und sich irgendwann einmal für die Gesellschaft nützlich machen. Spätere Geburten haben deshalb auf die demografische Entwicklung den gleichen Effekt wie weniger Geburten. Für die Frage, wie viele Kinder heute in Deutschland leben, taugt deshalb eher die totale Fertilitätsrate. Sie liegt seit nahezu vier Jahrzehnten bei etwa 1,4 und zeigt keine Anzeichen der Veränderung.

Die Cicero-Autoren schreiben dabei munter die ungewöhnlich hohen Saldo-Zuwanderungszahlen der letzten beiden Jahre in die Zukunft fort. Diese beruhen bekanntermaßen auf der Krise in den südeuropäischen Ländern und auf den neuen Regelungen der Reisefreizügigkeit für osteuropäische EU-Staaten wie Bulgarien und Rumänien. Doch selbst diese hohen Zahlen heben den Mittelwert der Zuwanderung über die letzten zehn Jahre nicht einmal auf einen Wert von 200.000. So viele Zuwanderer aber wären nach der Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Bundesamtes nötig, plus eine stark steigende Lebenserwartung, plus eine ab dem Jahr 2025 steigende Fertilitätsrate auf 1,6 Kinder je Frau, um den erwarteten Bevölkerungsverlust bis 2060 auf sechs Millionen zu begrenzen. Das heißt, selbst unter diesen optimistischsten Annahmen, die das Bundesamt zu bieten hat, wäre mit allem zu rechnen, aber nicht mit einem Anstieg der Einwohnerzahlen.

Die Autoren haben Recht, wenn sie schreiben, man solle die Zukunft nicht nur aus der Perspektive des demografischen Niedergangs betrachten. Aber mit Wachstumsperspektiven vor Augen, für die es derzeit nicht die geringsten Anzeichen gibt, laufen Politik und Gesellschaft Gefahr, die sehr viel wahrscheinlicheren Folgen der Alterung und des Schrumpfens aus den Augen zu verlieren. Und das wäre fatal. 

Ohnehin dürfte das Statistische Bundesamt am 31. Mai einen Strich durch die Rechnung der beiden Cicero-Autoren machen. Dann nämlich werden die neuesten Bevölkerungszahlen auf Basis der Volkszählung 2011 veröffentlicht: Nach allem, was bisher bekannt ist, müssen die Einwohnerzahlen Deutschlands dadurch nach unten korrigiert werden. Vermutlich sinkt dann die Bevölkerungszahl auf einen Schlag um etwa eine Million. Damit wären die anvisierten 100 Millionen in noch weitere Entfernung gerückt als ohnehin schon.

 

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