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Meinungsforschung - Sind kurzfristige Sonntagsfragen schädlich?

WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn kritisiert die Aussagekraft kurzfristiger Sonntagsfragen. Hat er Recht?

Autoreninfo

Holger Geißler ist Head of Research bei YouGov, Psychologe und doziert an der FH Köln zur Marktforschung. 2015 erschien sein Buch „Wie wir Deutschen ticken".

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Der Chefredakteur des WDR und Wahlmoderator der ARD, Jörg Schönenborn, hat in der Taz vom 5. September ein denkwürdiges Interview zur Bedeutung der Sonntagsfrage gegeben. Sie können das Interview im Original nachlesen. In aller Kürze zusammengefasst sagt er unter anderem folgendes:

1. Politische Umfragen, die kurz vor der Wahl veröffentlicht werden, können sehr zufällige Ergebnisse liefern, da sich ein Drittel der Wähler erst in den letzten acht Tagen entscheidet. Obwohl das so ist, glaubt er, dass Umfragen sechs Wochen vor der Wahl aussagekräftiger sind als drei Tage davor, weil dann das Fehlerrisiko höher ist. Gerade die aktuellsten Zahlen sind aus seiner Sicht manchmal ein Datennebel, der die Bürger irritieren kann.

2. Obwohl empirische Belege dafür fehlen, können seiner Meinung nach Umfrage-Ergebnisse die Stimmung beeinflussen, was sich wiederum wie ein Perpetuum mobile auswirken kann. Gerade in der volatilen Endphase vor der Wahl kann eine Umfrage die Wirklichkeit beeinflussen.

Diese Aussagen bedürfen einer kritischen Auseinandersetzung. Schauen wir sie uns einmal im Detail an:

Zu 1) Kurzfristige politische Umfragen vor der Wahl können sehr zufällige Ergebnisse liefern.

Es ist richtig, dass bei jeder Umfrage bei der mit Stichproben - und nicht mit einer Vollerhebung - gearbeitet wird, der sogenannte Stichprobenfehler, also eine Zufallsschwankung, vorkommt. Das liegt daran, dass man eben nicht alle 61,8 Millionen wahlberechtigte Bürger befragen kann, sondern man versucht anhand von 1000 oder 2000 zufällig und repräsentativ ausgewählten Bürgern Aussagen über die Gesamtheit der Wähler zu machen.

Der Stichprobenfehler ist definiert als die Differenz zwischen der Ausprägung eines Parameters in der Grundgesamtheit und dessen Ausprägung in der Stichprobe. Deshalb findet sich bei Pressemitteilungen zu Umfragen immer der Hinweis, dass sich Werte in einem sogenannten Vertrauensbereich, auch Konfidenzintervall befinden.

Das heißt, dass mehrere identische Umfragen aufgrund der Befragung immer anderer Stichproben, zu leicht abweichenden Ergebnissen kommen würden. Wenn die FDP also in einer Umfrage bei fünf Prozent liegt, dann wird der Wert mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Intervall um diese fünf Prozent liegen (je nach Stichprobengröße und Anteilswert).

Sechs Stunden vor der Wahl haben sich wahrscheinlich 90 Prozent der Wähler entschieden

Das ist immer so. Zu jedem Zeitpunkt. Völlig egal, ob man die Umfrage sechs Monate, sechs Wochen, sechs Tage oder sechs Stunden vor der Wahl durchführt. Warum eine Umfrage, die sechs Tage vor der Wahl veröffentlicht wird, zufälligere Ergebnisse liefern soll als wenn sie sechs Wochen vor der Wahl durchgeführt wird, ist wissenschaftlich nicht haltbar.

Rein nach der statistischen Lehre ist das Gegenteil der Fall: Die Sonntagsfrage ist unmittelbar vor der Wahl allein schon deshalb präziser, weil die Anzahl derer, die sich entschieden haben – und in die Berechnung der Sonntagsfrage eingehen- , immer größer wird, je näher der Gang zur Wahlurne rückt. Je größer die Stichprobe, desto kleiner das Konfidenzintervall.

Haben sich sechs Wochen vor der Wahl 60 Prozent der Befragten fest entschieden, wem sie ihre Stimme geben, so sind das sechs Stunden vor der Wahl wahrscheinlich 90 Prozent der Wähler. Und das ist die auswertbare Menge für die Sonntagsfrage. Das heißt: Je mehr entschiedene Wähler es gibt, desto präziser wird die Prognose.

Auch deshalb sind ja die Umfragen am Wahltag selbst, die direkt nach dem Wahlgang durchgeführt werden, so viel präziser als die Sonntagsfragen, die sechs Wochen vor der Wahl erhoben werden. Ganz abgesehen davon, dass die Stichprobengrößen der Wahltagsbefragung bei 20.000 Befragten liegen.

Zu 2) Umfrage-Ergebnisse können die Stimmung beeinflussen und damit eventuell den Wahlausgang

Dieser Punkt wird – auch wenn bislang empirische Belege dafür fehlen – immer wieder diskutiert. Umfragen könnten den Wahlausgang beeinflussen. Es werden zum Beispiel Mobilisierungseffekte vermutet, wenn man fürchtet, dass die präferierte Partei nicht über die 5-Prozent-Hürde kommt.

Aber auch andere Dinge stehen in der Diskussion, den Wahlausgang zu beeinflussen, wie zum Beispiel das Wetter. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit können auch vorangegangene Wahlen den Wahlausgang nachfolgender Wahlen beeinflussen.

Und genau das ist bei der 2013er Wahl die Ausgangssituation: Eine Woche vor der Bundestagswahl findet die Landtagswahl in Bayern statt. YouGov hat Anfang August eine Umfrage zu diesem Thema im Auftrag der dpa durchgeführt: 32 Prozent der Deutschen glauben, dass die Bayernwahl eine Signalwirkung für die Bundestagswahl hat.

Das ist eine ganze Menge. Auch wenn Umfragen in den Medien gerne aufgenommen werden, so wird die Medienresonanz (und damit die Reichweite) einer kurzfristigen Sonntagsfrage am 19. September bei weitem nicht so groß sein, wie der Wahlausgang in Bayern selbst. Das heißt,  die Wirklichkeit in der Woche vor der Wahl dürfte stärker vom Wahlausgang in Bayern geprägt werden als von einer Sonntagsfrage, die am Donnerstag vor dem Wahltag veröffentlicht wird.

Deshalb ist die Entscheidung des ZDF, am 19. September die letzten Umfragewerte zu präsentieren, absolut richtig und nachvollziehbar. Und die Entscheidung der ARD in gewisser Weise so, als würde man zehn Minuten vor Ende der Spielzeit eines Fussballspiels die Übertragung mit dem Hinweis beenden, dass man ja nun den wahrscheinlichen Spielausgang wüsste, da der Spielstand nach 80 Minuten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dem Spielstand nach 90 Minuten entsprechen dürfte.

Stimmt schon, die Vorhersagekraft des Spielstands nach 80 Minuten ist sicherlich prima. Aber schon der selige Sepp Herberger wusste: „Der Ball ist rund und das Spiel dauert 90 Minuten.“

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