Mega-Lockdown - Am Nullpunkt der Visionen

Mit der Ausrufung des Mega-Lockdowns durch die Ministerpräsidentenkonferenz sind wir endgültig in der Präventivgesellschaft angekommen. Statt Freiheit herrscht Angst, und statt Visionen gibt es Modelle und Vorhersagen. Es ist höchste Zeit, den Menschen wieder in den Fokus der Corona-Politik zu rücken.

Die Kanzlerin während der Ministerpräsidentenkonferenz / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Willkommen in der Präventivgesellschaft! Willkommen an dem Ort, an dem jedes Risiko noch besser versichert und wo selbst die kleinste Offenheit zur großen Gefahr werden kann! Statt Realität gibt es hier Prognosen, statt der interdisziplinären Expertise von Psychologen, Sozialwissenschaftlern, Juristen, Kulturanthropologen und Ökonomen reden vornehmlich Virologen und Modellierer. Denn in der Präventivgesellschaft wird vorausgerechnet, taxiert, bemessen. Die erfahrbare Wirklichkeit selbst ist zu komplex, und vor allem ist sie zu gefährlich geworden, als das man sie mit in seine Erwägungen einbeziehen sollte. Spätestens seit dort draußen das SARS-CoV-2-Virus sein zuweilen totbringendes Unheil treibt und das erhöhte Risiko durch Mutationen noch nicht endgültig abgeschätzt werden kann, wollen wir keinen Schritt mehr ohne Risikobewertung, keine Vision ohne Kalkulation. 

Es mag übertrieben klingen, aber ein wenig erinnert das Handeln der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten, die nach dem gerade zu Ende gegangenen Treffen der Ministerpräsidentenkonferenz eine weitere Verschärfung der bisherigen Lockdown-Maßnahmen und eine Verlängerung bis zum 14. Februar bekanntgegeben haben – Stichwort „Mega-Lockdown“ – an das Treiben jener mittelalterlichen Fürsten, die vor jeder Großtat zunächst die ihnen zugeneigten Sternendeuter einbestellten, um auf diese Weise Unglück und Gelingen in die Fatum-Sphäre zu verbannen. Denn wo Sterne und Modelle reden, ist man aller Haftung ledig. Früher wurden Krisen eben prophezeit, heute werden sie prognostiziert. Es ist die „säkularisierte Apokalyptik“, wie der Philosoph Wolfram Eilenberger dieses Treiben der Exekutive und der sie beratenden Modellierer jüngst treffend auf den Punkt gebracht hat. 

Die Kanzlerin ruft die Propheten

Dass die Kanzlerin also bereits am gestrigen Dienstag, dem Vorabend der nun nach elf Stunden Beratung verkündeten neuen Beschlüsse, ihre Propheten noch einmal zusammenrufen ließ, um gemeinsam einen letzten Blick in die digitale Glaskugel zu werfen, hat wohl eher mit rituellen Gepflogenheiten als mit der Schaffung von breiterer Evidenz zu tun. Denn ob die nun verkündeten und zuvor in langen und harten Gesprächen errungenen Maßnahmen – darunter die Verlängerung der Schließung von Schulen und Geschäften, eine Ausweitung der medizinischen Maskenpflicht sowie eine Ausweitung der Homeoffice-Regeln – am Ende tatsächlich dazu führen werden, das Infektionsgeschehen auf eine Inzidenz von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner zu drücken, darf mit Recht bezweifelt werden. Gerade dort, wo Expertise Not täte – bei der Einordnung der Gefährlichkeit von Mutationen –, beschränken sich die regierungsnahen Experten aufs Spekulieren.

Doch die dem sogenannten „Mega-Lockdown“ zugrundeliegenden Modellrechnungen haben ohnehin einen entscheidenden Fehler: „Der Knackpunkt ist der Mensch“, meinte jüngst einmal in verblüffender Ehrlichkeit der Leiter der Arbeitsgruppe „Computational Epidemiology“ am Robert-Koch-Institut, Dirk Brockmann. Denn dieser Mensch, das unberechenbare Wesen aus Fleisch, Blut und Seele, scheint am Ende zu komplex zu sein, um sich in das Zahlen-Skelett der Experten einzupassen. Und vielleicht – die nächsten Tage werden es zeigen – ist er auch zu komplex, um es weiterhin duldsam zu ertragen.

Mit dem Blick zum Leben

Modell und Wirklichkeit jedenfalls, soviel scheint sicher, klaffen mit jedem weiteren Corona-Tag und mit jeder neuen Restriktionsrunde immer weiter auseinander. Angefangen bei den Horror-Vorhersagen des britischen Epidemiologen Neil Ferguson, der bereits im Frühjahr 2020 von 2,2 Millionen Corona-Toten in den USA und 500.000 Toten in Großbritannien sprach, bis hin zu den „Wellenbrecher-Lockdown“-Modellen des System-Immunologen Michael Meyer-Hermann haben sich Leben und Sterben bis dato allenfalls rudimentär an die Vorhersagen und Prognosen gehalten.

Da wäre es vielleicht nicht schlecht gewesen, die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten hätten bei ihrer vorgezogenen Konferenz ihre Blicke wieder etwas mehr von den Modellen weg und somit ein stückweit mehr aufs Leben gerichtet. Denn nach Lockdown, „Lockdown-Light“, „Wellenbrecher-Lockdown“, „Hartem Lockdwon“ und nun „Mega-Lockdown“ findet man jenseits von Kanzleramt und Staatskanzleien mittlerweile eine Wirklichkeit vor, in der der Souverän auf dem Zahnfleisch geht und die Wirtschaft in den Kniekehlen hängt. Steigende Insolvenzen, wachsende psychische Beschädigungen, zunehmende Gewalt gegen Frauen und Kinder, ein Ausbluten der demokratischen Kultur, das Absterben eines einstmals lebendigen Kunst-, Literatur- und Musikbetriebs, die permanente Einschränkung von Grundrechten, das stündliche Anwachsen der Staatsverschuldung, das Auseinanderklaffen der sozialen Schere … Die Liste der Kollateralschäden ließe sich problemlos verlängern. Es sind in Teilen irreparable Schäden, die man auf der Grundlage von Expertisen und Vorhersagen in Kauf genommen hat und die im besten Fall einseitig, im schlechtesten Fall vielleicht sogar falsch sind.   

Die Bevölkerung wird nicht mehr erreicht

Und dennoch macht man munter weiter, spielt auf zum Hammer ohne Tanz. Es scheint, als hätte sich die Kanzlerin in ihrem eigenen Mantra von der Alternativlosigkeit des Handelns verheddert. Dabei hat jüngst selbst der Corona-Expertenrat der nordrhein-westfälischen Landesregierung in einem alarmierenden Strategie-Papier davor gewarnt, dass die Politik auf diese Weise Gefahr laufe, die Bevölkerung als Ganzes nicht mehr zu erreichen. „Immer deutlicher zeigen sich Extreme – Corona-Leugner am einen Ende, Lockdown-Fanatiker am anderen“, so die Warnung der zehn Experten aus Düsseldorf, die im Gegensatz zum Berater-Gremium der Bundesregierung wenigstens auch Philosophen, Psychologen, Staatsrechtler und Ökonomen in ihre Reihen mit aufgenommen haben.

Doch selbst der gut gemeinte Rat dringt nicht mehr durch. Nach der Devise „Die zu geringe Dosis macht das Gift“ hat die Ministerpräsidentenkonferenz den 83 Millionen Deutschen nun einfach noch einmal mehr vom Gleichen verordnet; schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass irgendwann ins Schwarze trifft, wer nur allzu oft ins Dunkel zielt. Bis dahin werden weitere Gastronomen, Einzelhändler und Freizeiteinrichtungen für immer ihre Türen schließen, und Menschen werden in Krisen stürzen, für die sie zwar das Leid, aber ganz sicher nicht die Verantwortung tragen. 

Vorhersagen statt Visionen

Der Rest der Republik aber steht an der Seitenlinie und fühlt sich zur Tatenlosigkeit verurteilt. Man schaut nur zu, längst leer an Hoffnung und arm an Vertrauen. Man schaut auf die Auf- und Abbewegung von Kurven, die selbst im zehnten Monat nach Ausrufung einer pandemischen Lage noch immer beziehungslos im Daten-Dashboard hängen. So also sieht es aus, das Leben in der Präventivgesellschaft; das Leben ohne Visionen, aber reich an Vorhersagen und falschen Versprechen. 

Als Ausweg bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder die Realität tut nun ihre verdammte Pflicht und passt sich kurzentschlossen den Modellen an, oder die politisch Verantwortlichen erweitern nach zehn lähmenden Monaten endlich ihre Expertise. Die Tatsache, dass bei der anschließenden Pressekonferenz kein einziges Mal über die ökonomischen, psychischen oder gesamtgesellschaftlichen Schäden der jetzigen Politik gesprochen wurde, lässt für die kommenden Wochen jedoch nichts Gutes erahnen. Den Modellen wird das egal sein, den Menschen aber könnte das allmählich zu viel werden. 

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