Lechts und rinks

Links und rechts war gestern. Was kommt morgen? Cicero fragte führende deutsche und internationale Intellektuelle, wo sie die politischen Lager der Zukunft erblicken. Wird das politische Bühnenstück des 21.Jahrhunderts „Fundamentalismus gegen Rationalismus“ heißen, „Islam gegen den Westen“, „Natur gegen Technik“, „Nationalismus gegen Globalismus“? Oder lässt die neue Unübersichtlichkeit keine klaren Kontraste mehr zu?

Mit Lafontaine gegen Ausländer, mit Haider gegen Atomkraft, mit Cohn-Bendit rein nach Serbien, mit Gauweiler raus aus Afghanistan, mit Merkel für Gentechnik oder mit Seehofer dagegen? Puuh – die Zeiten werden kompliziert. Der österreichische Dichter Ernst Jandl hat das Dilemma mit einem berühmten Vierzeiler beschrieben: „Manche meinen/lechts und rinks/kann man nicht velwechsern/werch ein illtum“ Doch Jandls Sicht blieb unpopulär. Politische Positionen wurden in links und rechts sortiert, auch wenn Denker wie George Orwell, Karl Popper oder Hannah Arendt auf die geistige Verwandtschaft der Pole hinwiesen. Im Alltag konnte jedermann rechte und linke Haltungen schnell erkennen und leicht unterscheiden. Links war, wer aufseiten der Arbeiter stand, wer die Produktionsmittel ­verstaatlichen wollte oder zumindest die Kapitalisten so hoch besteuern, dass ihnen der Spaß am Reichsein verging. Linke glaubten an den Fortschritt und an eine bessere Zukunft. Rechts war, wer Gott und Vaterland ehrte, alte Werte, Sitten und Hierarchien bewahren wollte, dem Fortschritt nicht traute und sich lieber auf die gute alte Zeit berief. Doch diese Unterscheidungen funktionieren nicht mehr. Jandls witziger Vierzeiler ist für viele Menschen zu einer ganz konkreten Alltagserfahrung geworden. Man diskutiert mit einem Partygast über den 11. September, versteht sich glänzend und empfindet tiefe Geistesverwandtschaft. Irgendwie steuert der Redefluss dann auf das Thema Bioethik. Rumms! Plötzlich sehen sich politische Gegner in die Augen. An der Ladentheke pflichtet man einem Unbekannten bei, der für Ökolandbau plädiert. Gut so! Wenig später fängt er an, auf Ausländer zu schimpfen. Peinlich, dass man dieser Hasskappe eben noch freundlich zugenickt hat. Worte und Werte die gestern noch Halt versprachen, klingen seltsam doppeldeutig oder verlieren ihre Aussagekraft. Die Verständigung wird schwieriger, Missverständnisse häufiger, die Unsicherheit größer. Viele spüren, dass sich etwas in der geistigen Landschaft verändert hat, aber sie können diese Veränderung nicht festmachen. Irgendwie verschieben sich die politischen Pole, aber man kann es nicht erklären. Begriffe von gestern versagen ihren Dienst. In der Stammzellen-Debatte stimmen Feministinnen dem Papst zu. Markus Söder und Reinhard Bütikofer wettern gegen Grüne Gentechnik. Geißler tritt bei Attac ein. Die Parolen linker Anti-Globalisten und der NPD tönen nahezu wortgleich. Christa Müller (Die Linke) plädiert für familiäre Wärme, ­Ursula von der Leyen (CDU) für Kinderkrippen. Menschenrechtler und Militärs begrüßen den Afghanistan-Krieg. Nationalisten und orientierungslose Ex-Kommunisten lehnen ihn gemeinsam ab und orten die Wurzeln aller Übel in den USA und Israel. Das Gift des Antisemitismus brodelt wieder, doch es kommt im Palästinensertuch statt in gewichsten Stiefeln daher. Die Kategorien „rechts“ und „links“ etablierten sich in der Zeit der frühen Industrialisierung. Sie standen für Klasseninteressen und soziale Zugehörigkeit. In der aufkommenden Wissensgesellschaft beschreiben sie die Lebensgefühle und Werte der Menschen nicht mehr. Was würde Marx sagen, wenn er wüsste, dass es heute als links gilt, gegen technischen Fortschritt zu sein und Toleranz für erzreaktionäre Mullahs zu fordern? Die Verwirrung ist keine deutsche Spezialität. Während der frühere britische Labour-Premier Tony Blair sich bestens mit dem christlichen Konservativen George Bush verstand, verwandelte Oppositionsführer David Cameron die Tories in eine Ökopartei. Nicht anders in Amerika. Die Publizistin Virginia Postrel beschrieb seltsame Koalitionen in den USA. Jeremy Rifkin zum Beispiel, ein Idol der Linken, mobilisierte konservative Prediger gegen Gentechnik. Die neuen informellen Parteien, schreibt Postrel, „streiten um die Natur des Fortschritts, und ob er überhaupt wünschenswert ist“. Eine Einschätzung, die auch der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk teilt: „Im Moment erleben wir wieder relativ leidenschaftliche Parteibildungen, und zwar nicht längs der parlamentarischen Gruppierungen. Wir beobachten Formierungen von moralischen Parteien, eine informelle Parteienlandschaft mit einer technophoben und einer technophilen Partei.“ Nicht nur im Parlament ist konservativ und progressiv nicht mehr identisch mit rechts und links. In immer mehr Fragen streiten sich Progressive und Konservative im Bundestag völlig unabhängig von ihrer Parteienzugehörigkeit. Nur der überkommene Fraktionszwang sorgt dafür, dass die meisten Abstimmungen immer noch brav entlang dem klassischen Rechts-links-Muster vollzogen werden. Den Tageszeitungen und politischen Zeitschriften geht es nicht anders. Der Riss geht quer durch ihre Redak­tionen, und ein Wechsel von der taz zur Welt wundert heute niemanden mehr. Konnte man in der Ära Kohl die redaktionellen Reflexe je nach Blattlinie vorhersagen, so ist Zeitunglesen heute wieder spannend geworden. Doch wenn die Kategorien des 19. und 20.Jahrhunderts beim Begreifen der Welt nicht mehr helfen, welche neuen Koordinaten haben wir? Wo werden im 21.Jahrhundert die großen Gräben verlaufen? Natürlich bleibt die Zukunftsschau ein heikles Geschäft. Was hätte man 1907 für das 20. Jahrhundert vorhersagen können? Wenig – und jedenfalls kaum das, was seit 1914, 1917, 1933 so folgenreich geworden ist. Und wer hätte im Jahre 1500 darauf gewettet, dass der Gegensatz zwischen katholisch und protestantisch das 16. Jahrhundert bestimmen würde? Doch gerade in Zeiten hoher Komplexität bedienen Prognosen ein natürliches Bedürfnis nach geistiger Orientierung. Sie sind nicht nur Spiegel unserer tiefsten Ängste, sondern auch unserer größten Hoffnungen. Und wer weiß, vielleicht trifft die eine oder andere ja tatsächlich zu. Michael Miersch ist Publizist und Dokumentarfilmer. Er schrieb mit Dirk Maxeiner „Die Zukunft und ihre Feinde. Wie Fortschrittspessimisten unsere Gesellschaft lähmen“ (Eichborn Verlag)

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