
- Schock für die Konsensgesellschaft
Kolumne: Leicht gesagt. Lautstarke Demonstrationen haben in der Bundesrepublik Tradition. Warum erschrecken uns ausgerechnet die Proteste am Tag der Deutschen Einheit in Dresden? Eine Spurensuche
„Wenn die Leisen die Straße meiden, dominieren die Lauten.“ Das sagt der zweithöchste Mann im deutschen Staat, Bundestagspräsident Lammert dem ZDF – empört über die Grölenden von Dresden. Das klingt gut und sagt sich leicht. Aber war es jemals anders, als dass die wenigen Lauten die Aufmerksamkeit bekamen?
Die Krawallmacher am Tag der Deutschen Einheit haben sich übel benommen. Mit ihren obszönen Gesten und ihrer Gossensprache schafften sie es in jedes Medium. Sie boten kein Argument, keine Idee – nur stumpfes Gedröhne: Haut ab, haut alle ab! Von diesen Menschen, so der Eindruck, ist keine Idee zu erwarten, mit ihnen scheint buchstäblich kein Staat zu machen.
Im Hass unerreichbar für Dialog
„Ich hatte wirklich das Gefühl, dass der Schritt nicht mehr groß ist zu physischer Gewalt“, sagt die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth. Für sie war Dresden ein einziger Spießrutenlauf. Ihr Versuch, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, wurde einfach niedergebrüllt. Auch das ist ein Sinnbild für die Lage. Es gibt eine Anti-Gruppe, die an keinem Diskurs interessiert ist. Die Unerreichbar ist in ihrem Hass. Worauf eigentlich? Auf Muslime? Auf Merkel? Auf Deutschland? Oder am Ende doch nur auf sich selbst, weil sie die Welt nicht mehr versteht, in der sie lebt?
Schreiende Simpel gab es immer. „Deutschland, halt´s Maul“ skandierten Links-Autonome besonders gern an Tagen der Deutschen Einheit. Als am 10. November 1989 Willy Brandt und Helmut Kohl mit Hans-Dietrich Genscher und Walter Momper vor dem Schöneberger Rathaus ergriffen vom Mauerfall gemeinsam das Lied der Deutschen sangen, wurden sie von linken Deutschland-Hassern niedergepfiffen. Brandts bestürzter Blick drückte den Zusammenprall zweier Welten aus. Einen Zusammenprall, wie ihn die heutige Staatsspitze in Dresden konsterniert erleben musste.
„Lügenpresse“ skandierte schon die APO
Die laute Minderheit kaperte den Augenblick, der dann Geschichte machte. Kaum einer erinnert sich an die Worte des Kanzlers der Einheit, als der vor 25 Jahren die Stadt Halle besuchte. Aber die Bilder von den fliegenden Eiern kennt jeder, damals übrigens von Linken geworfen, auch Jungsozialisten.
„Lügenpresse“ wurde auch schon skandiert in der jungen Bundesrepublik – von Apo-Studenten vorm Berliner Springer-Hochhaus, wo dann mancher „Bild“-Bulli in Flammen aufging. Massive Proteste gab es immer wieder in der Bundesrepublik – sogar regelrechte Mordfantasien.
„Brandt an die Wand“ grölten Menschen gegen den Kanzler der Ostpolitik. „Aktion Widerstand“ nannte sich ein Verein selbsternannter Nationalisten, der 1970 für Anti-Kanzler-Stimmung sorgte. Demonstrationen wurden organisiert von der „Aktion W“, die für sich in Anspruch nahm, die wahre Stimmung des Volkes zu vertreten – eben gegen die vermeintlich antideutsche Ostpolitik des Kanzlers.
Erfolgreiche politische Begleitmusik
In Dresden war also Pegida aufmarschiert, der Krawall wirkte mächtig. Dabei standen tatsächlich wohl nur 4000 Demonstranten den vielen friedlich Feiernden gegenüber - fast eine halbe Million Besucher hatten das Einheitswochenende in Dresden verbracht.
Die Mehrheit weiß tatsächlich nicht, wie sie damit umgehen soll. Ignorieren? Im Wissen Deutschlands großer und bundesrepublikanisch-starker Bauch hat schon viel Grummeln verdaut in seiner Geschichte?
Wir waren in den vergangenen Jahren, im Grunde die ganze Ära Merkel über, weitgehend eine Konsensgesellschaft geworden. Die in den wesentlichen Fragen übereinstimmte, wissend, dass es dem Land gut geht. Deshalb erschreckt der laute und im Grunde lächerliche fäkal-sprachliche Protest besonders.
Doch tatsächlich ist die Situation erstmals anders als bei den Störaktionen der vergangenen Jahrzehnte. Weil es politische Begleitmusik dazu gibt, die – weil geschickter inszeniert und klangvoller komponiert – durchaus Erfolg hat: durch die AfD. Das sagt jedenfalls der Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, der die Geschichte des politischen Protests in Deutschland erforscht hat wie niemand sonst. Erstmals gebe es eine wirklich starke Protest-Partei: „Wir erleben gleichzeitig einen Vormarsch dieser Strömung, die unter Garantie in den Bundestag kommen werden im nächsten Jahr. Insofern hat das mit dem politische Vordringen der AfD eine ganz besondere Qualität.“
Was also tun? Bundestagspräsident Lammert hat im Grunde auch nur einen Vorschlag für die Leisen: „Jeder, der an der Zukunft des eigenes Landes interessiert ist, muss wissen, dass er das Land nicht denen überlassen darf, von denen er sich ganz sicher nicht vertreten sehen möchte.“