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(picture alliance) Der ewige Grenzgänger

CDU, Attac, S21 - Heiner Geißler, der ewige Grenzgänger

Ende des Monats soll entschieden werden – schnörkellos aber hat Heiner Geißler bereits angekündigt, der Tiefbahnhof in Stuttgart werde sowieso gebaut. Sage keiner später, er sei enttäuscht oder perplex. Wer das behauptet, hat nicht zugehört. Mir geht es hier aber nicht um Stuttgart, sondern um Heiner Geißler. Als Beispiel.

Immerhin 81 Jahre ist dieser Streitschlichter alt, auf den so viele Projektionen sich richten. Am Kabinettstisch Helmut Kohls war er zunächst Minister, später streitbarer Generalsekretär seiner Partei, der CDU. Mit Bemerkungen wie der beispielsweise, die SPD und ihren Rüstungskritiker, das sei „die fünfte Kolonne Moskaus“, oder der Pazifismus habe „Auschwitz erst möglich gemacht“, provozierte er ungeniert. Wütend nannte ihn Willy Brandt den „schlimmsten Hetzer seit Goebbels“. Zugleich aber, und das darf man nicht vergessen, erwies Geißler sich als unverbogener Mahner und Kritiker der Regierung Kohl, wenn er meinte, sie verstoße gegen die Maßstäbe, auf die sich die Union doch verpflichtet habe. Er war Partei, er war streitbar, aber er blieb autonom. Und zwar so autonom, dass Helmut Kohl ihn 1989 entthronte vom Amt des Generalsekretärs. Hat Geißler das umgeworfen? Nein, wütend war er, er bebte, aber seine Stimme wurde im Laufe der Jahre fast noch hörbarer. Welcher Partei er angehörte, das zählte weniger. Es zählte, was er zu sagen hatte zur Sache. Für einen Kollegen, Werner A. Perger, und mich war das der Grund, mit dem von Kohl geächteten Geißler ein Gesprächsbuch zu machen (1993). Er wollte sich kritischen Fragern stellen; fest davon überzeugt, dass demokratische Politik ein Prozess mit Rede und Gegenrede ist, mit Argumenten und Einwänden.

Ich habe Heiner Geißler nun gar nicht angerufen, um mich zu erkundigen, was er davon hält, dass der Bundessicherheitsrat „beschliesst“, an Saudi-Arabien 200 Panzer zu liefern, und das in einem Moment, in dem erstmals demokratische Aufbruchsstimmung von Tunesien bis Ägypten und Syrien aufkeimt. Oder wie er die Position Angela Merkels beurteilt, die Regierung dürfe sich zu diesem „vertraulichen“ Beschluss nicht öffentlich äußern. Ich bin mir ohnehin sicher, zu wissen, wie Geißler dazu denkt.  Demokratiebewegungen abblocken, politische Entscheidungen nicht durch öffentliches Argumentieren legitimieren – unvorstellbar.

Helmut Kohl hielt Geißler für einen Zeitgeist-Politiker, der vermeintlichen Mehrheiten und modischen Stimmungen nachlief, statt zuerst an Machterhalt zu denken. Weit gefehlt! Als mein Kollege, Werner Perger, und ich ihn 1993 über Monate in der Pfalz besuchten, um das Buch mit ihm zu ersprechen, lag er am Boden auf dem Rücken. Er hatte sich schwer verletzt beim Absturz mit dem Gleitschirm, ärztliche Kunst und eine Titanstütze im Rücken hatten ihn gerettet, er dachte und sprach sich zurück ins aktive Leben. Seine Botschaft: Die innere Einheit im geeinten Land sei noch zu erobern; die soziale Frage werde global; eine multikulturelle Gesellschaft würden wir ohnehin, damit das gelingt, müsse man den Prozess steuern. Grundiert war das alles von einem zutiefst a-nationalistischen, europäischem Ton, und der Mann am Boden versuchte zudem, die Welt nicht aus dem Blick zu verlieren. Zu provinziell erschien ihm die Bonner Politik, damals.   

Seine Stuttgarter Erfahrungen will er demnächst in einem Buch bündeln. Eigentlich hatte er etwas anderes zu Papier bringen wollen, über Religion und die katholische Kirche. Nun aber faszinierte ihn das Experiment Stuttgart noch mehr. „Warum störst du uns?“, heißt der Arbeitstitel dieses anderen Buches, das nun leider warten muss. Von Jesus soll es handeln. Das Zitat geht zurück auf Dostojewskis „Großinquisitor“, der dem Juden diese Frage stellt, bevor er ihn verhaften lässt. Jesus, der „Glaubwürdigkeit“ verkörpert wie niemand sonst, und der eine „Volksbewegung“ im Gang setzte von zwei Milliarden Menschen heute . . .

„Was würde Jesus heute sagen?“, so hieß übrigens ein Bestseller von Heiner Geißler, der sich 250 000 mal verkaufte. Niemand, sagt er, würde die Amtskirche so stören wie dieser widerborstige Mensch, den der Großinquisitor verhaften ließ. Der „Byzantinismus des Vatikan“, die Pelzumhänge des Papstes heute, die Unempfindlichkeit der Kurie gegenüber Weltproblemen wie Hunger, mit Geißlers Vorstellung von Jesus passt das alles nicht zusammen. Viel leidenschaftlicher, näher, überzeugender müsste die Kirche sein, zwischen Worten und Taten dürften nicht Welten klaffen. Es ärgert ihn, wenn seine Kirche oder die Caritas, ein großer Arbeitgeber, sich „dem Neoliberalismus öffnet“. Was ist daran bloß glaubwürdig? Oder wenn die Bischofskonferenz in einem Papier deklariert, man müsse „das Soziale neu denken“. So sagt es die FDP, so predigt es der Professor Hans Werner Sinn. Aber seine Kirche? „Wir können doch nicht wegen Milton Friedman und Professor Sinn die Bergpredigt neu denken“, sagt mir Heiner Geißler. Ihr müsst das Neue sozial denken!, predigt er dagegen an.

Wem denn seine Loyalität im Konfliktfall gehöre, wollten seinerzeit Werner A. Perger und ich von ihm wissen für ein Gesprächsbuch. Loyalität? Die gehöre dem eigenen Land, hatte Geißler damals erwidert, und dem müsse er mit den Grundwerten dienen, die er für richtig halte. Deshalb sei er in die CDU gegangen. Und dann: „Ich bin doch nicht einfach in die CDU hineingedackelt und bleibe als Dackel in ihr drin.“

Der Mann, der nie „Dackel“ war: Dieser Geißler von heute, 2011, denkt darin fast noch zuversichtlicher als der Parteigeneral einst. Die Leute werden sich schon für etwas Vernünftiges entscheiden, wenn man ihnen Fakten und Argumente vorstellt. Weder die Partei noch die Kirche würde er je opfern oder verlassen. Im Gegenteil, wenn es schwieriger wird, ist es erst recht seine Sache, sie zu reformieren. Ich war „immer Grenzgänger“, sagt er irgendwann, zwischen drinnen und draußen. An diesem Status, der ihm seine Freiheit verschafft, wird er auf keinen Fall rütteln. Nein, Geißler kann nicht Berge versetzen. Ja, Stuttgart kann noch im Fiasko enden. Aber wie einst in der Ära Kohl, als der noch im Bonner Sparkassenkanzleramt Mozart hörte und regierte und Geißler ihn einen Tu-Nix-Kanzler titulierte, liefert er heute zu Angela Merkel erneut ein Kontrastprogramm im Grundsätzlichen, das die Defizite im Hause der Kanzlerin loyal, aber schonungslos erhellt.

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