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Justizopfer Harry Wörz - Dreizehn Jahre gestohlenes Leben

Die Verurteilung des Pforzheimer Bauzeichners Harry Wörz im Jahr 1997 zählt zu den größten deutschen Justizirrtümern. Sein Verteidiger Hubert Gorka erzählt, was sich am deutschen Rechtswesen ändern muss

Autoreninfo

Studierte Politikwissenschaft, Medienrecht und Werbepsychologie in München und Bologna.

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Harry Wörz wurde des versuchten Totschlags an einer Polizeibeamtin beschuldigt: In der Nacht des 29. April 1997 soll er seine getrennt lebende Ehefrau so fest gewürgt haben, dass sie ihr Leben lang ein Pflegefall blieb. Obwohl er immer wieder seine Unschuld beteuerte, waren Polizei und Staatsanwaltschaft von seiner Täterschaft überzeugt. Er wurde zu 11 Jahren Haft verurteilt. Seine Ex-Schwiegereltern forderten zudem Schmerzensgeld für die Pflege ihrer Tochter. In diesem Zivil-Verfahren ergaben sich erhebliche Ungereimtheiten: Die Polizei hatte bei ihren Ermittlungen offensichtlich geschlampt. Am 30. November 2001 wurde der Haftbefehl gegen ihn überraschend aufgehoben. Es kam zur Wiederaufnahme des Verfahrens, 2005 folgte der Freispruch. Dieser wurde in der Revision vom Bundesgerichtshof jedoch wieder aufgehoben. Erst am 15. Dezember 2010 wurde Harry Wörz endgültig freigesprochen.

 

[[{"fid":"60858","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":405,"width":600,"style":"width: 201px; height: 135px; margin: 5px 10px; float: left;","title":"Hubert Gorka (l.) und Harry Wörz. Foto: picture alliance","class":"media-element file-full"}}]]Herr Gorka, Sie sind in den Fall eingestiegen, als die Schwiegereltern von Harry Wörz ihn zu 300.000 D-Mark Schmerzensgeld verklagt haben. Da saß Herr Wörz bereits ein Jahr in Haft. Was hat Sie an dem Fall gereizt?
Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass ich es mit einem unschuldigen Menschen zu tun habe. Zudem handelte es sich um einen versuchten Mord in Polizistenkreisen. Die Beweislage war dürftig. Ich empfand es als eine spannende Herausforderung, die Gerechtigkeit wiederherzustellen und einen offenbaren Justizirrtum zu beseitigen.

Es ist Ihnen gelungen, die haarsträubenden Schwachstellen bei den Ermittlungen der Pforzheimer Polizei aufzuzeigen. Wie konnte es überhaupt zu solchen Schlampereien kommen?
Die einseitige Ermittlungsweise ist aus heutiger Sicht in der Tat nahezu unerklärlich. Beispielsweise hatte zumindest ein ursprünglich Tatverdächtiger weiterhin ungehinderten Zugang zum Tatort, obwohl die Spurensicherung noch nicht abgeschlossen war. Zudem wurden offenbar Informationen zurückgehalten. So kam es schließlich dazu, dass sich weder Staatsanwaltschaft noch das Gericht einen vollständigen Überblick über die Beweislage verschaffen konnte.

Trotz der offensichtlichen Ermittlungsfehler hielt die Staatsanwaltschaft Harry Wörz 2005 nach wie vor für den Schuldigen. Der Freispruch wurde zunächst wieder aufgehoben. Warum konnte der richtige Täter eigentlich nie überführt werden?
Man darf nicht vergessen, dass die Straftat bereits 1997 verübt wurde. Allein bis zum ersten Freispruch 2005 vergingen also acht Jahre. Die Spuren, die man hätte auswerten können, wurden immer schlechter, manche Beweismittel wurden zwischenzeitlich sogar vernichtet. Es war also schlichtweg unmöglich, die vorhandenen Beweise präzise auszuwerten. Darüber hinaus kann man nicht ohne weiteres erwarten, dass sich acht Jahre später plötzlich neue Spuren auftun. Zeugen vergessen über eine solch lange Zeitspanne, was wirklich geschehen ist. Oder sie sind zwischenzeitlich verstorben, wie etwa der Nachbar, der den mutmaßlichen Streit zwischen Täter und Opfer gehört haben will.

Als damals der Freispruch wieder aufgehoben wurde, waren Sie kurz davor, zu resignieren. Was hat Sie bestärkt, schließlich doch weiterzumachen?
Das ganze Verfahren war ein einziges Auf und Ab. Als es nach zähem Ringen tatsächlich zum Freispruch kam, war ich mir relativ sicher, dieses Urteil würde auch Bestand haben. Dementsprechend überrascht war ich, als der Bundesgerichtshof im Zuge der Revision den Fall mit einer recht eindeutigen Begründung wieder an das Landgericht Mannheim zurückwies. Wenn ich mich recht erinnere, sprach der Vorsitzende Richter damals von „originärem Täterwissen“. Mir war sofort klar: Diese Entscheidung des Bundesgerichthofs liefert quasi eine Steilvorlage für das Gericht, Herrn Wörz erneut zu verurteilen. Damals war ich an einem persönlichen Tiefpunkt angelangt. Ich dachte daran, den Fall einem anderen Anwalt zu übergeben. Auf Bitten von Herrn Wörz habe ich mich eines Besseren besonnen und weitergemacht.

Warum lagen auch die Richter am BGH so daneben? Hatten sie nicht sorgfältig genug geprüft?
Die Richter am BGH hatten ausschließlich Rechtsfehler zu überprüfen. Von ihrem Standpunkt aus bestand keine Notwendigkeit, weitere Tatsachen zu berücksichtigen. Dies konnte ich damals nicht mit Erfolg angreifen. Es konnte aber auch rechtlich nicht erfolgreich beanstandet werden.

In dem darauffolgenden Wiederaufnahmeverfahren wurde Harry Wörz 2010 schlussendlich und unwiderruflich freigesprochen. Wie kam es nun zu dieser spektakulären Wendung?
Die Kammer unter dem Vorsitz von Richter Rolf Glenz rollte den Fall noch einmal systematisch auf. Uns ist es gelungen, durch Zeugenaussagen ursprünglich verloren gegangene Aktenvermerke der Polizei zu rekonstruieren und in das Verfahren einzuführen. Auch ergaben sich neue Hinweise aus bislang nicht bekannten Spurenakten. Das konnte die bisherigen Indizien gegen Herrn Wörz zusätzlich entkräften. Schlussendlich folgte das Landgericht Mannheim unserer Einschätzung.

Der Fall von Harry Wörz wurde bundesweit in den Medien diskutiert. Hat der Druck der Öffentlichkeit die Entscheidung des Gerichts beeinflusst?
Ich möchte den Richtern nicht Unrecht tun, aber ich glaube schon. Die Begleitung durch die Medien war sehr hilfreich, um zu einem gerechten Urteil zu kommen.

Heißt das, die Rechtsprechung lässt sich von der öffentlichen Meinung beeindrucken?
Diesem Eindruck kann ich mich nicht verwehren. Das ist im Übrigen ähnlich wie im Fall von Gustl Mollath. Deswegen hat sein Verteidiger auch offenbar bewusst den Weg in die Öffentlichkeit gewählt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es ohne den öffentlichen Druck zum selben Ergebnis gekommen wäre.

Spricht nicht gerade für die Qualität unserer Justiz. Räumen Sie damit nicht ein, dass Richter manipulierbar sind?
Nein, ich glaube, dass alle beteiligten Richter nach bestem Gewissen geurteilt haben, sonst wäre es ja auch nicht zu den beiden Freisprüchen gekommen. Gleichwohl war ich für die Unterstützung der Medien sehr dankbar.

Wie hoch schätzen Sie denn die Dunkelziffer von Justizirrtümern bei weniger öffentlichkeitswirksamen Urteilen ein?
Hier gibt es natürlich nur Schätzungen. Es werden immer wieder Zahlen genannt, die um die 25 Prozent schwanken. Ich weiß wirklich nicht, ob das so stimmt. Das lässt sich ja nicht beweisen. Es sind in jedem Fall zu viele. Zu meinen Studienzeiten ging man noch davon aus, dass es sich bei circa einem Prozent aller strafgerichtlichen Urteile um Fehlurteile handelt. Heute weiß man jedoch, dass das eher Wunschdenken war. Wenn man sich etwa vergegenwärtigt, dass bis zu 40 Prozent der Urteile in zivilrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen der ersten und letzten Instanz abgeändert werden und die Abänderungsquote von US-amerikanischen Gerichten ähnlich hoch ist, halte ich eine hohe Zahl für durchaus plausibel.

Warum kommt es immer wieder zu Fehlurteilen? Haben wir es hier mit einem strukturellen Problem zu tun?
Ganz eindeutig. Bereits aus den Beweismitteln ergeben sich erhebliche Unsicherheiten. Es gibt Studien, wonach rund 40 Prozent aller Zeugenaussagen vor Gericht objektiv unwahr sind. Damit ist nicht gesagt, dass diese Personen deswegen bewusst lügen. Viele sagen nach bestem Wissen und Gewissen aus, aber sie erinnern sich schlicht falsch. Aber die Richter können natürlich nur auf der Grundlage der Beweisaufnahme urteilen.

Das klingt nun beinahe so, als würde das Problem eher an den Zeugen liegen als an der Justiz…
Nein, das möchte ich damit nicht sagen. Justizirrtümer haben viele Gründe. Auch der Sachverständigenbeweis ist oftmals fehlerbehaftet. Dann kann es wie im Falle von Herrn Wörz zu einer einseitigen oder gar schlampigen Ermittlungsarbeit kommen. Es gibt viele Fehlerquellen im Verlauf eines Strafverfahrens und schon ein einziger Irrtum reicht aus, um zu einem Fehlurteil zu gelangen.

Was ist mit den Richtern? Ist da nicht auch eine gewisse Ignoranz am Werke? Ihr Kollege Rolf Bossi etwa spricht von den „Halbgöttern in Schwarz“…
Es gibt viele gute Richter, deren Urteil man uneingeschränkt trauen kann. Es gibt aber auch solche, wo ich dieses Vertrauen beim besten Willen nicht aufbringen kann. Das hängt ganz vom Einzelfall ab. Feststeht aber: Kein Angeklagter sollte sich uneingeschränkt darauf verlassen, dass er ein gerechtes Urteil bekommt. Dafür gibt es, wie gesagt, einfach zu viele Fehlerquellen. In manchen Fällen werden sie erkannt, in manchen jedoch auch nicht.

Aber sollte man nicht wenigstens versuchen, die Fehlerquellen einzudämmen?
Unbedingt und hier gibt es auch vielversprechende Ansätze. Beispielsweise leuchtet es mir nicht ein, warum in deutschen Strafverfahren an Landgerichten bislang kein Wortlautprotokoll zugelassen wird. In Zivilverfahren ist das eine Selbstverständlichkeit; sobald es aber um Mord und Totschlag geht, fischt man im Trüben. Das bedeutet: Wenn es in Strafverfahren zur Revision eines Urteils kommt, kann der BGH lediglich auf Rechtsfehler prüfen, ohne aber dabei zu sehen, was die Zeugen ursprünglich ausgesagt haben. Mit einem Wortlautprotokoll hätte der Bundesgerichtshof also eine viel bessere Grundlage, um ungerechte Urteile frühzeitig ändern zu können.

Was können wir darüber hinaus aus dem Fall Harry Wörz über die deutsche Justiz lernen?
Es wäre sicherlich viel geholfen, wenn eine neutrale Polizeibehörde die Ermittlungen leiten würde, insbesondere bei Fällen, die im Polizistenmilieu spielen. Zudem finde ich es äußerst bedenklich, dass sich das Verfahren über einen Zeitraum von zwölf Jahren erstreckte.

Warum hat das überhaupt so lange gedauert?
Gewöhnlich werden Haftsachen von den Gerichten vorrangig behandelt. Nachdem Herr Wörz zwischenzeitlich aus der Haft entlassen wurde, weil seine Unschuld überdeutlich geworden war, wurde das Verfahren plötzlich auf die lange Bank geschoben. Dem Land würden schlichtweg die Ressourcen fehlen, hieß es damals zur Begründung. Trotz einer mentalen Dauerbelastung hatte Herr Wörz also keinerlei Anspruch auf eine zügige Wiederaufnahme seines Verfahrens. Das halte ich für dringend verbesserungswürdig. Es kann doch in einem Rechtsstaat nicht angehen, dass sich ein Justizirrtum zu einer dreizehnjährigen Odyssee entwickelt.

Lesen Sie hier auch das Interview mit Harry Wörz.

Der Film „Unter Anklage. Der Fall Harry Wörz" läuft am 29. Januar um 20.15 Uhr in der ARD.

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