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Grüner Wandel - Die Gesellschaft muss gerechter werden

Nachhaltigkeit als Lifestyle reicht nicht, findet Spitzenkandidat Jürgen Trittin. Wir müssen extrem viel an unserem Lebensstil ändern. Eine Absage an die konservativ-marktliberale Politik

Autoreninfo

Jürgen Trittin ist Bundesminister a.D. und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. 

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Manche sind überrascht, dass die Grünen den Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit in diesem Wahlkampf so stark thematisieren, etwa bei Mindestlöhnen und Leiharbeit oder bei der stärkeren Beteiligung Vermögender und Gutverdienender an der Finanzierung unseres Gemeinwesens. Die vielen Klischees über die Partei der Besserverdienenden oder angebliche Lebensstilpolitik zur Gewissensberuhigung für Privilegierte haben eines vergessen lassen: Es gab von Anfang an einen engen Zusammenhang zwischen der sozialen und der ökologischen Dimension grüner Politik.

Das betrifft zum einen die Auswirkungen ökologischer Schäden. Von den besonders gravierenden menschengemachten Veränderungen – wie dem Klimawandel, der schrumpfenden Biodiversität, der Zerstörung der Böden und der Übernutzung der Ressourcen – sind zwar alle Menschen betroffen, aber eben nicht gleich stark. Ärmere und Schwächere trifft es in der Regel härter als Reichere und Stärkere.

Das gilt international: Der Klimawandel verursacht schon heute in vielen armen Ländern der Südhalbkugel Konflikte um Ressourcen und Schäden durch Extremwetter. Aber das gilt auch national, denn von Feinstaub und Verkehrslärm sind die Wohngebiete der Reichen seltener und weniger betroffen. Und viele Umweltschäden treffen Generationen, die nichts mit den Ursachen zu tun hatten. Es geht bei ökologischen Fragen nicht um einen Lebensstil oder um Geschmacksfragen. Es geht um die materiellen Grundlagen unseres Lebens, um Atemluft, Nahrungsmittel, Bewegungsfreiheit, Gesundheit und um die gerechte Verteilung lebenswichtiger Ressourcen. In dieser Betrachtungsweise, einer Art ökologischem Materialismus, sind gerechte und nachhaltige Politik nicht voneinander zu trennen.

Ein weiterer Zusammenhang ist eher instrumentell. Um eine nachhaltige Wirtschaftsweise zu erreichen, müssen wir extrem viel verändern. Wir müssen als Gesellschaft unsere Energieerzeugung, unseren Verkehr, unsere Chemieindustrie und den Maschinenbau, unsere Ressourcenverwendung und -verschwendung drastisch umgestalten. Dieser Umbau hat in Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt gerade erst begonnen, der Weg ist noch weit.

Der grüne Wandel ist ein wichtiges und historisches Menschheitsprojekt, das begeistern kann. Er bringt viele soziale Vorteile mit sich: Gerade Menschen mit geringen Einkommen profitieren davon, wenn wir unseren Strom oder unsere Wärme unabhängig machen von immer teurer werdenden fossilen Brennstoffen. Und der ökologische Wandel schafft neue Arbeitsplätze und sichert damit auch Wohlstand und sozialen Zusammenhalt. Aber: Der Wandel verlangt den Menschen auch einiges ab. Umbau heißt Aufbau und Abbau. Viele müssen sich umstellen, auf neue Technologien und Verhaltensweisen einstellen. Dieser Wandel kann nur gelingen, wenn er breiten Rückhalt in der Bevölkerung hat. Und den hat er nur, wenn es dabei gerecht zugeht. Kosten, Lasten und Chancen müssen gerecht verteilt und verhandelt werden. Sonst findet der ökologische Umbau keine Akzeptanz.

Schließlich ergibt sich ein Zusammenhang aus sozialer Gerechtigkeit und Ökologie aus der Entwicklungstendenz sehr ungleicher Gesellschaften. Der Kapitalismus kann als Wohlstandsmaschine wirken, tendiert aber zu einer sehr ungleichen Verteilung des Wohlstands. Seine Vermählung mit der Demokratie und ihren Teilhabeansprüchen aller Bürgerinnen und Bürger ist immer spannungsvoll gewesen, wie der Wirtschaftssoziologe Wolfgang Streeck in seinem aktuellen Buch „Gekaufte Zeit“ treffend analysiert hat.

Der Kapitalismus steuert Gesellschaften über Markt, Preissignale und Gewinnmotiv, die Demokratie über Debatte, Institutionen und Gesetzgebung. Markt erzeugt Wohlstand, aber auch Gewinner und Verlierer, Macht und Ungleichheit. Demokratie verspricht dagegen die universale Teilhabe aller und stärkt egalitäre Tendenzen. Über mehrere Jahrzehnte konnte die Spannung nur durch Hilfsmittel aufgelöst werden, die das Problem in die Zukunft verschoben: Inflation, Schulden, Wachstum. Der Staat konnte gegenüber dem Markt universale Teilhabe nicht ausreichend über Steuern und öffentliche Güter durchsetzen, half sich also gelegentlich über Inflation und regelmäßig über Verschuldung. Diese beiden Wege sind nicht nachhaltig, und ihre langfristigen Auswirkungen sind ebenfalls ungerecht.

Umstritten ist heute die Wachstumsperspektive. Sie erzeugt Akzeptanz für hohe Ungleichheit durch das Versprechen auf zukünftige Teilhabe. Dieses Versprechen wird noch geglaubt – ist aber immer hohler geworden. Die ungleiche Verteilung von Wohlstand und Chancen durch ein Marktergebnis, das auf Gerechtigkeit nicht achtet und nicht achten kann, wurde jahrzehntelang akzeptiert, da es in Zukunft
für alle aufwärtsgehen sollte. Diese Perspektive aber wird heute durch ökologische Grenzen und das hohe Entwicklungsniveau vieler westlicher Gesellschaften eingeschränkt. Seit Jahrzehnten sinken die Wachstumsraten in den entwickelten kapitalistischen Staaten – ganz ohne Eingriffe grüner Wachstumskritiker.

Aufgrund der strukturellen Wachstumsabhängigkeit unserer Gesellschaften ist Politik immer wieder in der Versuchung, Wachstum künstlich zu erzeugen, obwohl die Instrumente ökologisch schädlich sind und die Effekte keinen echten Gewinn an Wohlstand und Lebensqualität bieten. Ein schlechtes Beispiel: die Abwrackprämie für Altautos ohne jede ökologische Steuerungskomponente. Eine gleichmäßigere
Verteilung des gesellschaftlich produzierten Wohlstands ist nicht nur in sich gerechter, sie mindert auch den Wachstumsdruck durch extreme Statusdifferenzen und weckt weniger Ansprüche durch die materielle Kluft zum Nachbarn. Balanciertere, weniger ungleiche Gesellschaften können umsichtiger mit ihren Ressourcen umgehen, müssen weniger neurotisch auf Wachstumsraten starren und müssen nicht unökologische Wachstumsmaßnahmen ergreifen, um ihren Bevölkerungen Teilhabeperspektiven zu geben.

Wegen dieses dreifachen inneren Zusammenhangs muss jede ökologische Transformation eine soziale Transformation einschließen. Das ist der Hintergrund auch für die ambitionierten grünen Vorschläge in der Haushalts- und Steuerpolitik. Sie ist aber nur ein Baustein der sozialen und ökologischen Transformation, die wir in diesem Wahlkampf den grünen Wandel nennen. Dazu gehört auch Politik für gerechte
Löhne, für eine gerechte Verteilung der Kosten der Energiewende, gegen Monopoltendenzen in Energie- oder Finanzmärkten, für besser verteilte Chancen über eine gut finanzierte Bildungspolitik.

Auch weil grüne Politik also in sich selbst schon sozial orientiert ist, ist unser Programm koalitionspolitisch eher anschlussfähig an sozialdemokratische Politik als an konservativ-marktliberale Parteien mit ihrem hierarchischen Gesellschafts- und Wirtschaftsverständnis. Spannungen mit der SPD gibt es industriepolitisch und in der Wachstumsfrage natürlich immer wieder, doch auch da ist die Nähe zu einer ökologisch lernfähigen SPD am größten, wie die Debatte in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zu „Wohlstand, Wachstum, Lebensqualität“ gezeigt hat. Unsere klare rot-grüne Koalitionsaussage leitet sich aus der grünen Programmatik ab.

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