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Matthias Friel (maddiontour)/Creative Commons

Glaskugel-Empirie - Umfragen sind ein Affront gegen den mündigen Bürger

In Wahlkampfzeiten ist ihr Gebrauch Inflationär: Umfragen suggerieren dem Wähler, man wisse bereits, was er wählen wird. Das ist Unsinn und in letzter Konsequenz eine Bankrotterklärung an den mündigen Bürger

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Wenn eines schwer zu ertragen ist in diesen Wahlkampftagen, neben Merkelketten-Witztiraden und Prosieben-Moderatoren, die zur Wahl auffordern, dann sind es Umfragen. Fast im Tagestakt wird suggeriert, man könne punktgenau ermitteln, wo die Bevölkerung ihr Kreuzchen macht.

Dabei sind und bleiben Umfragen nicht mehr als nette Spielereien aus der Welt des Glaskugel-Empirismus. Da wird der Konjunktiv zur Tatsachenbehauptung,  die Wahrscheinlichkeit zum real existierenden Ergebnis. Doch Umfragen haben längst einen Stellenwert, der in völligem Widerspruch zu dem steht, was sie eigentlich leisten können.

Nur ein Beispiel: Die meisten Umfragen verschweigen, dass ein gutes Drittel der Wähler sich im Grunde noch gar nicht entschieden hat.

Das Absurde: Da müssen Politiker mittlerweile Umfrageergebnisse kommentieren, als wären es tatsächliche Wahlausgänge. Und sie tun es brav. Besonders dann, wenn ihnen die aktuellen Umfragewerte zupass kommen, wenn der Demoskopiewind in ihre Richtung weht.

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Unter Journalisten und Politkommentatoren führt das dann zu einem Schlaubischlau-Effekt: Die Wahl sei bereits entschieden, liest man dann. Auch elf Tage vor der Bundestagswahl wollen natürlich alle schon das Ergebnis kennen, noch bevor überhaupt auch nur ein Stimmzettel eine Wahlkabine gesehen hat. Es ist das Lieblingsspiel umtriebiger Politikanalysten: Sie füttern ihre Thesen mit Umfrageergebnissen, schnappen nach jeder sich bietenden Möchtegernempirie, um mittels Zahlen ihrer Argumentation die notwendige Seriosität zu verleihen. Die Wahrscheinlichkeit trifft auf Hypothese und wird zur publizierten Wahrheit.

Anpfiff, Tor, Ergebnis: Diskurs-Bewertung wie beim Fußball

Den bisherigen Höhepunkt umtriebiger Umfragerei konnte während des TV-Duells im Ersten bestaunt werden: Bereits zur Halbzeit wurden die ersten Zuschauer per Telefon zu Steinbrück und Merkel befragt. Pünktlich nach Abpfiff konnte ein „Halbzeitergebnis“ präsentiert werden. Der Zuschauer musste nicht auf die Politikanalysen im Nachgang warten, sondern durfte ziemlich schnell und repräsentativ erfahren, welche Meinung er eigentlich höchst selbst vertritt: Du hast Steinbrück vorne gesehen.

Als könne man einen Diskurs werten wie ein Fußballspiel: Anpfiff, Tor, Ergebnis. Bitteschön! Eine solche Vereinfachung passt wunderbar in die Dramaturgie eines solch personalisierten Eins-gegen-Eins-Duells (was im Übrigen unser politisches System gar nicht hergibt) und ist  ganz nebenbei ein ziemlicher Affront gegen den aufgeklärten Staatsbürger.

Das ZDF sah im Übrigen Merkel vorne.

 

In der Fülle und Dichte, wie uns gerade dieser Tage Meinungsumfragen um die Ohren fliegen, führen sie im schlechtesten Fall zu einem Demobilisierungseffekt, machen träge und lahm. Dem CDU-Wähler signalisieren sie: Bleib zuhaus‘, deine Merkel hat eh‘ schon gewonnen. Und der SPD-Wähler sagt sich, der olle Steinbrück hat keine Chance mehr.

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Und nicht nur das. Die Heiligsprechung der Demoskopie infolge einer schier unglaublichen medialen Wert(über)schätzung ist in letzter Konsequenz eine Bankrotterklärung an den mündigen Bürger. Und kann im schlechtesten Fall unmittelbare Auswirkung auf den tatsächlichen Wahlausgang haben: Je näher die Umfragen an den Wahltag rücken, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die demoskopische Momentaufnahme als Prognose auf den Wahlausgang missdeutet wird.

Niedrige Umfragewerte für die FDP vor der niedersächsischen Landtagswahl beispielsweise führten dazu, dass viele taktische CDU-Wähler per Zweitstimme FDP wählten, um sie sicher über die Fünf-Prozent-Hürde zu tragen. Die dortigen Umfragen hatten einen unmittelbaren Einfluss auf den Wahlausgang. Passend dazu: Das ZDF plant nun erstmals drei Tage vor der Wahl einen Last-Minute-Politbarometer.

Umfragen machen die Wahlergebnisse zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen

Der Blick auf die Sonntagsfragen im Vorfeld einer Bundestagswahl verrät noch etwas anderes: 2005 waren die Umfragezahlen Welten von den tatsächlichen Ergebnissen entfernt. 2009 waren sie wiederum erstaunlich nah dran. Geht die Voraussage also schief, zeigt sich das spekulative Moment solcher Umfragen. Trifft sie zu, dann ist das aber noch lange kein Grund zum Jubeln. Denn woher wissen wir, dass die Vorabumfrage nicht direkten Einfluss auf das tatsächliche Ergebnis genommen hat, dass der Wähler seine Wahlentscheidung letztlich nicht von diesen Vorabzahlen abhängig machte? So wird der Wahlausgang zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Warum nicht einfach die Umfragen kurz vor Wahlen verbieten? Die Slowakei macht es vor. Dort sollen künftig drei Wochen vor Wahlen keine Wählerumfragen mehr veröffentlicht werden dürfen.

Und bis dahin heißt es: Geben wir dem Wähler doch ein bisschen Raum zur Entscheidungsfindung.  Und der repräsentativen Wählerschicht, die da andauernd zum Telefon greifen muss, rufen wir zu: Lasst es klingeln,  – oder denkt euch irgendwelche Antworten aus. Ganz im Sinne des Wählers.

 

 

 

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