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Gesellschaft - „Die Deutschen müssen wieder träumen lernen“

Mit ihrem Wachstumsethos brennen sich die Deutschen aus und opfern ihre Kreativität, warnt der Psychologe Stephan Grünewald. Im Cicero-Interview analysiert der Autor von „Deutschland auf der Couch“ die Putinversteher, Europakritiker und Merkelbewunderer des Landes

Alexander Marguier

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Herr Grünewald, der Ukrainekonflikt hat in Deutschland eine große weltanschauliche Kluft zwischen der Bundesregierung und der Bevölkerung offenbart. Während die Politiker sich gegen Putin positionierten, hatten viele Bürger eher Verständnis für die Vorgehensweise des russischen Präsidenten. Wie erklären Sie sich das?
Ich glaube, das kann man von der aktuellen Befindlichkeit der Deutschen ableiten. Wir beobachten, dass die Menschen den Eindruck haben, es gehe ihnen noch halbwegs gut – aber unmittelbar vor den Landesgrenzen lauere bereits die Krise. Und was die Zukunft betrifft, herrscht der Eindruck vor, es könne eigentlich nur schlimmer werden. Die Leute sehnen sich dementsprechend nach einem Zustand permanenter Gegenwart. Auch deswegen hat Angela Merkel ja die zurückliegende Bundestagswahl gewonnen, indem sie sich als nationaler Ruheengel und den Wählern mit dem Motto „Sie kennen mich ja“ präsentiert hat. Insofern erschien der Ukrainekonflikt vielen Bürgern als besonders bedrohlich, weil unberechenbar. Daher auch die Abwehrreflexe gegenüber allem, was auf eine Eskalation hinauslaufen könnte.

[[{"fid":"62712","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":259,"width":345,"style":"height: 120px; width: 160px; margin: 5px 8px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]Deutschland wird insbesondere von den Vereinigten Staaten immer wieder dazu aufgefordert, es müsse endlich auch politisch eine stärkere Führungsrolle übernehmen. Den Bürgern hierzulande dürfte ein solcher Zuwachs an Verantwortung also kaum behagen.
Das ist eine psychologisch ziemlich vertrackte Situation. Die Deutschen wünschen sich eher eine insgeheime Führungsrolle aus der sicheren Deckung heraus und sehen die Einbindung Deutschlands in die Europäische Union als eine Art Disziplinierungsgarantie.

Das heißt, die Deutschen trauen sich selbst nicht über den Weg?
Zumindest hat Europa insgeheim die Funktion, die deutsche Seele im Zaum zu halten. Europa soll als eine Art Zuchtmeister die Rückversicherung darstellen, dass wir in Sachen Patriotismus nicht über die Stränge schlagen.

Ist das ein Grund dafür, dass in Deutschland dezidiert europakritische Parteien keinen Erfolg haben? Selbst die AfD hat sich ja bei diesem Thema vor den Europawahlen sehr gemäßigt.
Durch die gelegentliche Europakritik können sich die Bürger Luft verschaffen, da sie sich gegängelt fühlen. Aber gleichzeitig vertrauen sie darauf, dass Merkel die bösen antieuropäischen Kinder im Zaum hält.

Welches Selbstverständnis haben die Deutschen mit Blick auf das Ausland?
Wir stellen fest, dass insgeheim immer noch der Anspruch „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ besteht. Aber dabei geht es natürlich nicht mehr um territoriale Ansprüche, sondern um Dinge wie Umwelt oder Moral. Da hat sich die Genesungs-Matrix doch sehr verändert.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen erweckt in der Öffentlichkeit den Eindruck, bei der Bundeswehr gehe es mehr um Kita-Plätze denn um Militärisches. Das ist mit Blick auf die Wähler dann gewiss kein Fehler.
Ich sehe nicht, dass Frau von der Leyen alleine auf Kita-Plätze reduziert wird. Sie wird als jemand erlebt, der Biss hat und im Vergleich zu Angela Merkel durchaus schärfer und straighter auftritt. Sie wird deshalb bewundert, aber sie irritiert auch, weil sie prototypisch ist für die Dominanz, die die Frauen auch aus Sicht der Männer in vielen Lebenslagen heute gewonnen haben.

Verkörpert sie damit den modernen Politiker-Typus: weiche Schale, harter Kern?
Wobei Frau von der Leyen die Härte schon auch äußerlich anzumerken ist; bereits mit der Frisur oder ihrer Diktion steht sie für klare Kante. Gleichzeitig zeigt sie, zumindest in der Öffentlichkeit, ein großes Einfühlungsvermögen. Insofern verkörpert sie nach außen Härte und Weichheit gleichermaßen.

Ist sie mit diesem Auftreten geeignet als Kanzlerkandidatin?
Eher nicht. Sie wird es aus zwei Gründen schwer haben. Erstens werden viele Frauen mit ihr in eine Mütterkonkurrenz treten und erleben, dass Frau von der Leyen das Perfektionsdilemma der modernen Frau grandios verstärkt hat: sieben Kinder, beruflich enorm erfolgreich und trotz fortgeschrittenen Alters noch sehr attraktiv. Das bekommt eine normale Frau so nicht hin – und Frau von der Leyen ist der Beweis dafür, dass es aber möglich ist. Daraus erwachsen unterschwellige Animositäten ihr gegenüber. Außerdem fehlt Frau von der Leyen etwas, das insbesondere Politiker wie Wolfgang Schäuble und Angela Merkel auszeichnet, nämlich das Selbstaufopferungshafte. Beide erwecken ja den Eindruck, sie seien einzig und allein für das Land da: die kinderlose Merkel, die in den Augen der Wähler ein fast zölibatäres Leben führt, in dem sogar der Ehemann fast gänzlich verschwindet. Und Schäuble im Rollstuhl, der sichtbar seine Gesundheit der Politik geopfert hat. So etwas will und wird man Frau von der Leyen nicht zutrauen. Und selbst wenn sie sich aufopfert, würden viele Menschen glauben, dass sie darüber ihre Kinder vernachlässigt.

[video:Frank Walter-Steinmeier und die Wut-Rede]

Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist ja unlängst bei einer Kundgebung regelrecht extemporiert, als er von sogenannten Friedensaktivisten gestört wurde. Danach flogen ihm die Herzen zu, seine Rede wurde zum Youtube-Hit. Zeigt sich darin die tiefe Sehnsucht nach dem kämpferischen Politiker-Typus?
Das entspricht voll und ganz der Befindlichkeit vieler Bürger in diesem Land: Oberflächlich ruht still der See und herrscht eine Sehnsucht nach wattierter Beständigkeit. Aber in den Untiefen dieses Sees brodelt und grummelt es. Ich bin bei vielen Interviews mit unseren Probanden selbst erschrocken, wie viele Ressentiments vorhanden sind, wie viel Wut sich da unter der Oberfläche aufgestaut hat – gegen Hartz-IV-Empfänger, gegen Ausländer, gegen Minderheiten. Für viele Leute ist das eine Methode, die Krise irgendwie dingfest zu machen. Steinmeiers Wutausbruch entsprach da dem verbreiteten Wunsch, sich seinem Ärger lauthals Luft zu machen. Er sprach damit auch die tiefe Sehnsucht nach dem Bekenntnis zu klaren Positionen an. Das wirkte auf viele Menschen entlastend.

Ist der Erfolg von Sarrazins Büchern oder zuletzt von Akif Pirinçcis „Deutschland von Sinnen“ ein Beleg dafür, wie stark es unter der Oberfläche brodelt?
Es zeigt, dass das, was die Menschen in Deutschland bewegt, in der Politik keinen Ausdruck mehr findet. Trotzdem sind die meisten insgeheim zufrieden darüber, dass Politiker sich dieser Sprache nicht bemächtigen und innerhalb der Grenzen der viel gescholtenen political correctness bleiben. Auch Steinmeiers Wutrede war nur deshalb ein Erfolg, weil die Menschen wissen, dass er kein Hasardeur ist. Dagegen hat Westerwelles Rede mit der spätrömischen Dekadenz ihm das Genick gebrochen, weil er immer etwas postpubertär Unberechenbares an sich hatte, das man vor allem bei einem deutschen Außenminister nicht mehr erleben möchte.

[video:Protest gegen Cicero-Podium mit Thilo Sarrazin]

Das heißt, die Menschen mögen zwar Populismus, stehen politisch dann aber doch lieber auf der sicheren Seite?
Das ist das Ergebnis unserer Befragungen. Es wird übrigens auch durch die zurückliegende Europawahl bestätigt, trotz des Erfolgs für die AfD. In Frankreich und Großbritannien sieht es hingegen ganz anders aus; dort besteht aus historischen Gründen nicht diese Angst davor, dass der Volkszorn letztlich zu einer Umwälzung der Verhältnisse führt.

Bei der Diskussion über das Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten wird in Deutschland fast nur über vermeintliche Gefahren in Form von Chlor-Hühnchen oder den drohenden Ausverkauf unserer Kultur geredet, aber kaum über die Vorteile und Chancen. Woher diese Ängstlichkeit?
Weil viele Deutsche ihr Land als den letzten sicheren Hafen in der Welt empfinden. Der Freihandel wird da als eine Öffnung gesehen, durch die – bildlich gesprochen – alle möglichen Schadstoffe, Krisenviren und Krankheitserreger eindringen können. Die gilt es abzuwehren. Freiheitlichkeit gilt im Moment als Gefährdung unserer Besitzstände.

Sind die Deutschen also doch globalisierungskritischer als gedacht?
Zumindest wünschen sie sich Globalisierung wie eine semipermeable Folie: Das Gute von uns soll raus in die Welt, das Böse von draußen soll nicht hinein.

Die Berliner haben soeben per Volksentscheid beschlossen, dass das riesige Gelände des ehemaligen Tempelhofer Flughafens komplett unangetastet bleiben soll, trotz Wohnungsnot und steigender Mieten. Spiegelt sich darin der deutsche Romantizismus?
Es lässt sich darin eine Doppelbewegung ablesen, die wir auch immer wieder konstatieren. Einerseits eine besinnungslose Überbetriebsamkeit bis hin zur Erschöpfung. Und parallel dazu das Bedürfnis nach Entschleunigung und Kontemplation. Tempelhof ist das kontemplative Korrektiv zu einer sich im Umbruch befindenden Stadt.

Woher kommen die gesellschaftlichen Erschöpfungszustände und wie äußern sie sich?
Im Zuge der Krise der vergangenen Jahre hat bei vielen Menschen die innere Unruhe stark zugenommen, und viele von ihnen versuchen, diese Unruhe durch eine besinnungslose Überbetriebsamkeit zu verdecken. Wer im Hamsterrad mitläuft, hat das Gefühl, etwas zu leisten und eine gewisse Erwartungssicherheit – Arbeit als Ablenkungsstrategie. Das führt dazu, dass der Stolz auf vollbrachtes Werk inzwischen häufig durch einen Stolz auf Erschöpfungszustände abgelöst worden ist – zumal das Werk angesichts des fragmentierten Alltags mit ständigen Mails und Meetings zunehmend aus dem Blick gerät.

Der Burnout als Statussymbol?
Ja, der Burnout ist eine Art moderne Tapferkeitsmedaille. Er symbolisiert, dass jemand gebrannt und sich dem Wachstum geopfert hat. Dadurch geht aber gleichzeitig eine zentrale Quelle des deutschen Wohlstands verloren, nämlich das Schöpferische. Denn eine ständige Betriebsamkeit verhindert ja gerade schöpferische Kreativität. Meine Kernthese lautet deshalb, dass die Deutschen wieder lernen müssen zu träumen. Beim Träumen ist unsere Betriebsamkeit ja stillgelegt, und unser Alltag kann einmal ganz anders gedacht und gegen den Strich gebürstet werden. Für viele Leute ist diese Vorstellung aber erschreckend, weil sie fürchten, dass der Traum ihnen bedeutet: Du musst dein Leben ändern. Träumen ist enervierend und anstrengend.

Aber den Deutschen ist doch immer wieder zum Vorwurf gemacht worden, sie seien ein Volk von Romantikern und Träumern.
Da muss man unterscheiden. Es gibt so etwas wie den absoluten Wunschtraum – zum Beispiel die Vorstellung eines tausendjährigen Reichs, wie die Nazis sie hatten. Und auf der anderen Seite den Traum im Sinne eines schöpferischen Denkens, der zu Erfindungen führt oder zu Kunstwerken oder zu alternativen Lebensentwürfen. Aber weil diese Art des Träumens eben sehr anstrengend ist, besteht die Gefahr, dass die Deutschen lieber die Abkürzung nehmen und einer Heilslehre verfallen, die das Leben grandios vereinfachen soll.

Trotzdem klingt es komisch, wenn Sie den Deutschen raten, wieder mehr zu träumen. Internationale Konkurrenzfähigkeit verbindet man ja üblicherweise eher mit Zielstrebigkeit, Disziplin und Fleiß.
Wenn wir den Weg der Erschöpfung weitergehen, besteht aber die Gefahr, dass wir irgendwann zu einem Volk der Workaholics und Bürokraten werden. Und das würde uns unter viel größeren Konkurrenzdruck setzen – denn viel arbeiten und verwalten, das können die Asiaten auch. Die Deutschen haben jedoch die wunderbare Gabe, ihre Unruhe in Schöpferkraft zu verwandeln, in Erfindungen, Patente und Ingenieurskunst. Diese Gabe wird mehr und mehr dem globalen Effizienzdiktat geopfert.

Stephan Grünewald ist Gründer und Geschäftsführer des „Rheingold“-Instituts in Köln. Er schrieb den Bestseller „Deutschland auf der Couch“. Zuletzt erschien sein Buch „Die erschöpfte Gesellschaft“.

 

 

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