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Flüchtlingskrise - Plan A gescheitert, wann kommt Merkels Plan B?

Vor dem EU-Gipfel steht Merkel in Europa ziemlich alleine da. Im Kanzleramt wird schon an einer Alternativlösung gearbeitet. Merkel kämpft um ihre politische Zukunft. Ein Kommentar

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Angela Merkel hat einen straffen Zeitplan: Diesen Mittwoch hat sie ihre Regierungserklärung im Bundestag abgegeben, am Donnerstag und Freitag ist sie auf dem EU-Gipfel in Brüssel. Anschließend sind es nur noch drei Wochen und zwei Tage bis zu den Landtagswahlen am 13. März. Die Lösung der Flüchtlingskrise tritt in ihre entscheidende Phase. Es ist nicht auszuschließen, dass Europa danach anders aussehen wird. Für die Europäische Union könnten es dramatische Tage werden, für Bundeskanzlerin Angela Merkel Schicksalstage. Denn auch innenpolitisch steht sie mächtig unter Druck. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als ihre Kanzlerschaft. Um ihre politische Zukunft.

Die gute Nachricht vorweg: Angela Merkel hat noch Freunde in Europa und auch im Inland. Der Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker stärkte der Kanzlerin in einem Interview mit der Bild-Zeitung demonstrativ den Rücken. Die Geschichte, so der Luxemburger, werde Merkel recht geben. Zudem erklärte sich der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, bereit, der von der Bundesregierung geplanten Ausweitung der sicheren Drittstaaten im Bundesrat zuzustimmen. Den politischen Preis, den er im Gegenzug dafür verlangt, ist allenfalls ein symbolischer: eine Altfallregelung für etwa 20.000 Flüchtlinge. Merkels Freunde: Es sind nicht mehr viele.

Keinerlei europäische Solidarität


In der EU stehen Merkel und Juncker zudem ziemlich alleine da. Frankreich ist am vergangenen Wochenende unmissverständlich auf Distanz zu Deutschland gegangen und hat die Aufnahme weiterer Flüchtlingskontingente abgelehnt. Schweden hat seine Grenzen schon geschlossen. Österreich führt in diesen Tagen wieder Grenzkontrollen ein und plant den Bau von Zäunen an den Grenzen zu Italien, Slowenen und Ungarn. Nur noch 37.500 Asylbewerber sollen in diesem Jahr insgesamt ins Land kommen dürfen. Auch die osteuropäischen EU-Staaten haben sich als Visegrád-Gruppe noch einmal gemeinsam demonstrativ gegen Merkel gestellt.

Seit ein paar Tagen ist nicht mehr zu übersehen – europäische Solidarität scheint es nicht mehr zu geben. Es sieht deshalb nicht danach aus, als würde sich die Kanzlerin auf dem EU-Gipfel durchsetzen. Zumindest für einen Teil der Europäischen Union könnte dies das Ende der Freizügigkeit und das Ende von Schengen bedeuten. Welche langfristigen Folgen dies für Europa insgesamt haben wird, ist nicht abzusehen.

Doch Merkel gibt nicht auf. In ihrer Regierungserklärung betonte sie noch einmal, dass es keine nationale Lösung geben kann. Scheitert sie beim EU-Gipfel, werde sie auf einen Sondergipfel in der kommenden Woche drängen, so ist in Berlin zu hören. Noch einmal warb sie am Mittwoch im Bundestag für ein gemeinsames Vorgehen von EU und Türkei beim Schutz der Außengrenzen – und für die Bekämpfung der Fluchtursachen.  So will sie die Flüchtlingszahlen spürbar reduzieren. Und sie warnte vor einer Abriegelung der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland beziehungsweise Bulgarien. Das hätte Folgen für die ganze Europäische Union und insbesondere für Griechenland. Doch die Zeit, um die Merkel in den letzten Monaten ihre innerparteilichen Kritiker immer wieder gebeten hat, scheint abzulaufen.

Plan B im Kanzleramt


In der CDU gehen viele davon aus, dass Merkels Wende in der Flüchtlingspolitik noch vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt kommt. Vor allem viele Wahlkämpfer wollen entsprechende Signale aus dem Kanzleramt empfangen haben. So soll ihnen der Rücken gestärkt werden. Auch hofft die CDU die Erosion der eigenen Wählerbasis und den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der AfD noch zu stoppen.

Im Kanzleramt wird bereits an einem Plan B gearbeitet, an jenem Alternativplan der Regierung, den es offiziell gar nicht gibt. Damit Merkel ihr Gesicht wahren kann, wird die Aktion nicht „Grenzschließung“ heißen, sondern „koordiniertes Pushback“ der Flüchtlinge; gemeinsam mit den Balkan-Staaten. Faktisch würde dies allerdings bedeuten: Auch Deutschland bereitet die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze vor. Faktisch würde dies auch bedeuten, die Identitätskrise in der Europäischen Union würde sich weiter verschärfen.

Die Frage lautet also nicht mehr, ob, sondern wann Merkel das Steuer herumreißt. Die Sozialdemokraten werden sich gegen einen solchen Kurswechsel der Großen Koalition nicht sperren. Die SPD leidet selbst darunter, dass sich viele Wähler von der Partei abwenden. Bei den drei Landtagswahlen könnte die SPD noch tiefer stürzen als die CDU.

Die entscheidende Frage wird anschließend sein: Kann Merkel der Öffentlichkeit eine solche Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik vermitteln? Kann sie die innenpolitischen, europäischen sowie ökonomischen Folgen abfedern? Oder wird Merkel durch den Abschied von ihrem Credo „Wir schaffen das“ dauerhaft beschädigt werden? Sind die Deutschen bereit, der Kanzlerin weiter beziehungsweise wieder zu vertrauen? Oder geht der Ansehensverlust der Kanzlerin weiter?

Verzeihen die Wähler, weil sie in der Flüchtlingsfrage selbst hin-und hergerissen sind, dann wird Angela Merkel diese bislang tiefste Krise ihrer zehnjährigen Regentschaft überstehen. Verzeihen die Wähler nicht, dann könnte die letzte Phase ihrer Kanzlerschaft begonnen haben.

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