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Flüchtlingskrise - Frau Merkel, es ist Zeit für eine Rede an die Nation!

Kisslers Konter: Die Lage in den Kommunen verschärft sich. Die Kanzlerin bleibt Antworten und Perspektiven schuldig. Sie sollte sich an die Nation wenden statt in Interviews die Floskel von der Alternativlosigkeit zu wiederholen

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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War die Kanzlerin eigentlich schon in Plauen, Magdeburg, Langenlonsheim oder Passau? Hat sie schon getan, was bitter nottäte, eine Rede gehalten an die Nation? Nein, hat sie nicht. Denn vermutlich war sie wirklich nicht in Plauen, wo innerhalb zweier Wochen sich die Zahl der Teilnehmer an einer Demonstration gegen die Merkel’sche Asylpolitik von 50 auf 5000 verhundertfacht hat; in Magdeburg, wo das Unverständnis wächst über die Pläne der schwarz-roten Landesregierung, 1500 Asylbewerber in einem Viertel mit 1000 Bewohnern unterzubringen; in Langenlonsheim an der Nahe, wo die rot-grüne Regierung 3000 Asylbewerber inmitten von nur 4000 Einwohnern einquartieren will; in Passau, wo täglich bis zu 7000 Asylbewerber ankommen, nach einem laut Landrat Meyer (CSU) durch Österreich widerrechtlich organisierten, aber von Deutschland Tag für Tag geduldeten „Transit mit Bussen an die bayerische Grenze“. Resultat bis auf Weiteres: „Wir befinden uns in einer sehr, sehr dramatischen Situation“ – sagt der Passauer Oberbürgermeister von der SPD.

Eine Rede an die Nation wäre das einzige Format, das sowohl dem Ernst der Lage als auch einer Regierungschefin angemessen wäre, die die Wand längst im Rücken spürt und im Frühjahr schon Geschichte sein könnte. In einer solchen Rede, deren natürlicher Ort der Deutsche Bundestag wäre, müsste Merkel das bloße Beschwören und Besprechen des Ist-Zustands hinter sich lassen, aber auch jenen nebulösen Fernblick, der Hoffnungen handhabt, als wären es Zuckerperlen im Kindermund, süß und klebrig, schnell verschlungen. Statt zu einer solchen Rede an die Nation konnte sich die Kanzlerin nur zu einem Interview mit dem Deutschlandfunk entschließen. Statt an das Volk wandte sie sich an die Infoelite.

Dort vollzog sie den philosophisch gewaltigen Schritt vom Sein zum Sollen und, stärker noch, vom Sollen zum Müssen. Bemerkenswert kurz hielt sie sich beim Sein auf. Die „Aufgabe“ stelle sich, „sehr, sehr viele Flüchtlinge aufzunehmen“, und „die Aufgabe“ werde „uns noch sehr viel abverlangen, in allen Bereichen“, schon heute gebe es „eine sehr besondere Situation in vielen Kommunen“. Das klingt nach lästiger Kleinarbeit, wie sie „viele Kommunen“ aus anderen „besonderen Situationen“ kennen, wenn etwa ein Volksfest dräut, ein Fußballspiel oder ein Staatsbesuch. Mancher Landrat wird sich ob der präzedenzlosen, die staatliche Souveränität fundamental herausfordernden Besonderheit der Flüchtlings- und Asylkrise veräppelt fühlen. Die Rede von den besonderen Situationen und Aufgaben gaukelt eine behördliche Normalität vor, die in Passau, Langenlonsheim, Magdeburg und anderswo nicht mehr gegeben ist. Es ist an der Zeit, die Zuckerperlen wegzulegen und sich vielleicht sogar zu Blut, Schweiß und Tränen vorzuarbeiten.

Kanzlerin der Alternativlosigkeit
 

Aber das Sein, die Realität gehört eben nicht unbedingt zum Kerngeschäft der Kanzlerin in diesen Tagen. Der Schlüsselsatz ihres Radiointerviews weist die Richtung: „Und das Sollen ist sehr stark.“ Gemeint ist die Konzentration der nationalen Selbstanstrengung auf die Art und Weise, wie „wir unter den Bedingungen der Globalisierung … einfach sehr, sehr viele Flüchtlinge aufnehmen“ sollen. Hier greift laut der Kanzlerin die moralische Pflicht, die sie vom Sollen zum Müssen weiter zuspitzt. Wer muss, der hat keine Wahl; wer sollen muss, erst recht nicht: da ist sie wieder, die Kanzlerin der Alternativlosigkeit. Die Aufgabe der Aufnahme „muss … bewältigt werden“, die „Menschen, von denen auch sehr viele bleiben werden“, erzwingen geradezu, „dass wir unter den Bedingungen der Globalisierung uns in gewisser Weise öffnen müssen und auch verschiedene kulturelle Prägungen kennenlernen müssen“. Müssen wir? Vom „Problem“ der Flüchtlinge gelte, „dass wir es annehmen müssen, gestalten müssen und gleichzeitig dafür Sorge tragen müssen, dass Schwächen – und das ist zum Beispiel die Sicherung unserer Außengrenze – behoben werden.“

Davon ist an den Grenzen des deutschen Staatsgebietes, wo weiterhin herein darf, wer hineinwill, ungebremst, nichts zu spüren. Wohl aber schafft das unverdrossene, quasi-monarchische Sollenmüssen der Kanzlerin jenen hypermoralischen Leerraum des Politischen, in dem nichts Gutes gedeiht. Darum ist es unmittelbar einleuchtend, warum die Kanzlerin keine Rede an die Nation halten will. Sie könnte es nicht. Und sie weiß, was sie nicht kann. Mehr als ein Lied mit dem ewiggleichen Refrain „Wir schaffen das, weil wir es schaffen müssen“, käme ihr nicht über die Lippen.

Die nächste Lektion in angewandter Pflichtenlehre steht schon bevor. Am Mittwoch wird Merkel ihren Tugendbefehl abermals ausformulieren, in der Talkshow „Anne Will“ im Ersten. Derweil hat die Online-Petition „Rücktritt der dt. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und sofortige Neuwahl der Bundesregierung“ rund 140000 Unterstützer gefunden. Und laut einer neuen repräsentativen Umfrage befürworten 72 Prozent der Deutschen einen sofortigen Aufnahmestopp der Flüchtlinge, 63 Prozent halten die Aufnahmemöglichkeiten für erschöpft, 81 Prozent fordern die Rückkehr der Grenzkontrollen. Es wird einsam um Angela Merkel, sehr einsam.

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