
- „Der Pull-Effekt des Merkel-Selfies ist kaum messbar“
Motiviert eine Willkommenspolitik Flüchtlinge, nach Deutschland zu kommen? Dieser Frage widmet sich eine Studie der Uni Kiel. Im Interview mit „Cicero“ erklärt ihr Co-Autor Tobias Heidland, warum es gewichtigere Pull-Faktoren als Selfies mit Merkel gibt und welche Lehren die Regierung aus „2015“ gezogen hat.
Dr. Tobias Heidland ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Direktor des Forschungszentrums „Internationale Entwicklung“ im Institut für Weltwirtschaft. Zusammen mit Professor Dr. Jasper Tjaden von der Universität Potsdam hat er eine Studie über Migrationsbewegungen von 2000 bis 2020 veröffentlicht.
Herr Heidland, nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ging der Bundesinnenminister davon aus, dass bis zu fünf Millionen Menschen das Land verlassen könnten. Angstmacherei oder realistische Prognose?
Das ist eine sehr ungenaue Prognose. Der Geheimdienst verfügt vermutlich über Zahlen, aber die sind nicht öffentlich verfügbar. Die Zahlen, die wir haben, sind die Asylzahlen bis Juli. Daraus kann man nicht ablesen, wie viele Leute sich jetzt auf den Weg machen.
Weil Menschen, die in Todesangst fliehen, kein Visum beantragen?
Genau, das ist der springende Punkt. Es gibt da keine Datenquellen, die man nutzen könnte. Man kann sich höchstens anschauen, wer im Internet nach welchen Begriffen googelt, nach Begriffen wie „Asyl“ und „Visum“. Aber das sind sehr ungenaue Zahlen.
Unionspolitiker warnen davor, es dürfte kein zweites 2015 geben. Kann man die Situation in Afghanistan überhaupt mit der Situation vor sechs Jahren vergleichen?
Nein, wie wir in unserer Studie gezeigt haben, war im Sommer 2015 bereits eine große Zahl von Menschen auf dem Weg. Es waren Menschen, die zum Teil schon jahrelang in irgendwelchen Flüchtlingslagern im Libanon, in Jordanien oder in der Türkei gelebt hatten. Dort hat sich die Versorgungslage immer weiter verschlechtert, weil die Geberländer aus dem Westen zu wenig Geld bereitgestellt hatten für grundlegende Dinge wie Essen.
Heute sind die Grenzen zu Afghanistan weitgehend dicht.
Die Politik hat deshalb signalisiert, dass man es nicht so weit kommen lassen möchte, dass sich die meisten Menschen überhaupt in Richtung EU bewegen.
Ist das schon eine Lehre aus den Erfahrungen mit 2015, Menschen aus Krisenregionen auf Abstand zu halten?
Ja, das ist eine der wichtigen Lehren. Jedem Regierungspolitiker ist klar, dass es ein Fehler war, 2014 und 2015 nicht auf die Hilferufe der Vereinten Nationen reagiert zu haben, dass das Geld ausging. Zugleich müssen wir uns aber Gedanken darüber machen, welche Länder in der Region in der Lage sind, Hunderttausende Menschen aufzunehmen, die vor den Taliban flüchten. In der Türkei bringen sich ja jetzt schon Politiker in Stellung, die sagen: Wir sind bereits überlastet.
Iran und Pakistan teilen das Problem. Wie sinnvoll ist es, Geld in Länder zu pumpen, die gar keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen wollen?