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Arbeitswelt - Fertig machen zur Selbstausbeutung

Flexible Arbeitszeiten, Wohlfühlatmosphäre im Büro, Freunde statt Kollegen – schöne neue Arbeitswelt. Oder doch nicht? Glaubt man Soziologen, dient das alles nur einem: der freiwilligen Selbstausbeutung der Arbeitnehmer

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Jeden Tag wieder das gleiche, erstaunliche Prozedere. Ein paar Minuten, bevor der Zug in den Bahnhof einfährt, erheben sich die ersten Mitfahrer von ihren Sitzen. Man drängelt, bleibt an Taschen hängen, eine seltsame Geschäftigkeit erfasst die Beteiligten, bis alle im Waggon in einer Reihe stehen. Und warten. Warten darauf, dass der Zug einfährt, hält, und sie dann mit Trippelschrittchen aus der Türe steigen können. Selbst dann bleibt immer noch genug Zeit, um sich zu erheben und in den Strom der Passagiere einzutauchen.

Warum bloß ist das so? Wovor haben diese Menschen Angst? Dass die Türen sich plötzlich schließen und sie im Zug eingesperrt werden? Das alleine verhindert schon der Mechanismus an den Eingängen. Dass sie ein paar Sekunden später auf dem Bahnsteig ankommen? Die Rolltreppe ein Minütchen später erreichen? Einen Augenblick später auf ihrem Bürostuhl sitzen? Es geht darum, immer erster zu sein. Immer vorne mit dabei. Präsenz zeigen, Leistungsbereitschaft signalisieren, sich behaupten vor den anderen.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund schlussfolgerte gerade aus einer Umfrage zur Prävention von Psychostress am Arbeitsplatz: Immer mehr Beschäftigte fühlen sich überfordert und ausgebrannt. 56 Prozent der knapp 5000 Befragten beschreiben sich als Opfer starker bis sehr starker „Arbeitshetze“. Der DGB fordert daher eine „Anti-Stress-Verordnung“ für die Unternehmen.

Das Problem ist nur, dass sie sich den ganzen Stress selber machen. Schon der sich rührende Nebenmann genügt, den Pendler so unter Druck zu setzen, dass dieser sich ebenso genötigt fühlt aufzustehen.

Und genau diesen Mechanismus machen sich Unternehmen heute zunutze. Gerade im kreativen Geschäft, in dem die Arbeit nach Stechuhr häufig von der „Vertrauensarbeitszeit“ abgelöst wurde, greift der Mechanismus der sozialen Kontrolle, erklärt der Soziologe Sasa Bosancic von der Universität Augsburg. Diese „Entgrenzung von Arbeit und Leben“ sei vom Arbeitgeber beabsichtigt. Im Büro wird eine artifizielle Wohlfühlatmosphäre geschaffen, in der sich der Arbeitnehmer geborgen fühlen soll, so dass er –  vermeintlich ganz zwanglos – gute Arbeit leistet, bis weit ins Privatleben hinein.

Wenn der Arbeitsplatz zum Ort wird, an dem sich der Arbeitnehmer wohl fühlt, an dem er nicht nur Kollegen, sondern auch Freunde trifft, dann stimmt der Traum von der Selbstverwirklichung. Wer braucht noch Freizeit, wenn die Arbeit zum Zuhause wird? Oder: „When work becomes home and home becomes work“, wie Arlie Russell Hochschild es in ihrem Buch „The Time Bind“ beschreibt. Der Arbeitgeber kann dann ganz bequem dabei zuschauen, wie sich die Mitarbeiter selbst ausbeuten.

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Jetzt aber rührt sich Widerstand. „Seinen Gedanken nachzugehen“ gehörte 2012 zum ersten Mal zu den zehn beliebtesten Freizeitaktivitäten der Deutschen, wie die Stiftung für Zukunftsfragen ermittelte. Von 39 Prozent im Jahr 2007 geben heute 48 Prozent der Befragten an, dass sie mindestens einmal die Woche „faulenzen“ beziehungsweise nichts tun.

Dazu passen Untersuchungen wie der Familienbericht der Bundesregierung, aus dem hervorgeht, dass sich moderne Familien vor allem eines wünschen: flexiblere Arbeitszeiten, mehr Möglichkeiten, auch Teilzeit zu arbeiten, mehr Zeit für Privates.

Irgendjemand hat sich auch schon einen Namen für diese Art Mensch ausgedacht: Generation Y. Damit sind Unter-35-Jährige gemeint, die sich nur dann für Karrierejobs entscheiden, wenn sie dafür nicht ihre Freiheiten aufgeben müssen. Die Feierabende, Sabbaticals, Teilzeitarbeit und Elternzeit ermöglicht wissen wollen. Und die es auch aushalten, einmal nicht die ersten zu sein, die auf Sicherheiten pfeifen, wenn stattdessen das private Glück stimmt. Dazu gehören auch Männer.

Gibt es also Hoffnung für die Frühaufsteher in der Bahn, für jene, die immer Angst davor haben, zu spät zu kommen, abgehängt zu werden? Auch wenn sich die neue Denke noch lange nicht bei der Mehrheit niedergeschlagen hat – die Anfänge sind offenbar gemacht. Sie entstammen nicht den Plänen von Wirtschaft oder Politik. Sie kommen direkt aus den Bäuchen der Menschen.

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