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(picture alliance) Aktenvernichtung und kein Ende: Der Verfassungsschutz hat die Schredderaktion zweimal angeordnet

NSU-Opferanwalt - „Es gibt keine effektive Kontrolle durchs Parlament“

Der türkischstämmige Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler hat Strafanzeige gegen den Verfassungsschutz erhoben. Er beklagt, dass die parlamentarischen Kontrollrechte bei der Aufklärung der Mordserie nicht richtig greifen

Herr Daimagüler, wann ist Ihnen in diesen Tagen der Kragen geplatzt?
Mir ist schon vor Monaten der Kragen geplatzt. Die Verwaltung unterstützt nur unzureichend die Arbeit der drei parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, die eigentlich sehr engagiert zur Sache gehen. Ich hätte mir auch mehr erhofft, was die Auskunftsfreudigkeit der Innenminister der Länder anbetrifft.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz räumte am Donnerstag ein, dass Akten mit Bezug zur rechtsextremen Szene nicht nur einmal, sondern in zwei Schritten vernichtet wurden. Ein Großteil der Akten sei am 11. November geschreddert worden, ein kleinerer Rest wenige Tage später.
Dass das erst jetzt bekannt wurde, hat mich geschockt, aber nicht mehr aus den Socken gehauen.

Wie geht es den Opfern dabei?
Man kann das nur mit dem Wort „Unfassbarkeit“ umschreiben. Diese Menschen, die so viel Schreckliches erlebt haben, wollen ihrem Rechtsstaat vertrauen und müssen nun sehen, dass der Staat immer noch nicht alles tut, um diese Morde aufzuklären. Ich habe vor einigen Tagen Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt – weil ich glaube, dass es einen größeren Täterkreis als nur den einen Referatsleiter gab.

Dafür gibt es laut der Recherchen der Monitor-Kollegen zumindest Anzeichen.
Bisher diskutieren wir nur über das, was wir wissen. Ich halte die Schlussfolgerung des Bundestagsuntersuchungsausschusses, Angehörige der NSU seien nicht als V-Leute auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes gewesen, übrigens für verfrüht.

Diese Erkenntnis schlossen die Parlamentarier aus den Akten, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden.
Erst einmal: Die Akten, die sie gesehen haben, sind rekonstruiert worden, die Originale waren ja zerstört. Aber wenn sieben Ordner rekonstruiert wurden, wer sagt uns denn, dass es nicht einen achten oder neunten Ordner gab? Es gibt keine ordnungsgemäße Aktenführung, die uns gesagt hätte, wie viele Aktenordner es überhaupt gab. Die Aussagen des Ausschusses bezogen sich außerdem nur auf das Bundesamt für Verfassungsschutz. Was ist aber mit Sachsen und Thüringen? Was ist mit dem MAD? Eines hat der Verfassungsschutz schon jetzt geschafft: Sie haben genau diese Unsicherheit hineingebracht, die jetzt den Raum für Verschwörungstheorien öffnet.

Erwägen Sie angesichts der jüngsten Erkenntnisse jetzt noch weitere Klagen?
Wir werden uns weitere Schritte überlegen, abhängig davon, was noch herauskommt.

Was sagt das eigentlich über das Bundesamt für Verfassungsschutz aus, dass der zweite Vernichtungsvorgang erst nach hartnäckigen journalistischen Nachfragen bekannt wurde und nicht schon im Untersuchungsausschuss thematisiert wurde?
Das demonstriert einmal mehr, dass wir ein Kontrollproblem auf zwei Ebenen haben. Erstens weiß die Behördenleitung selbst nicht immer, was Teile des Apparates tun. Zweitens haben wir offensichtlich keine umfassende und effektive parlamentarische Kontrolle der Verfassungsschutzämter. Die Untersuchungsausschüsse können nur da kontrollieren, wo ihnen Informationen vorgelegt werden. Das ist ein systemimmanentes Problem: De jure haben wir vollkommene Kontrolle, de facto aber nicht.

Seite 2: „Für die Hauptverhandlung schwant mir Böses“

Das heißt, die Parlamente sind nur zahnlose Tiger?
Naja, die Kompetenzen der Untersuchungsausschüsse sind schon sehr weit gefasst. Sie können die Behörden letztlich auch dazu zwingen, die Akten herauszugeben. Was ich mich aber auch frage: Wissen wir eigentlich, wer da für uns arbeitet, welche politische Gesinnung manche der Behördenmitarbeiter haben? Wie laufen eigentlich Personalentscheidungen ab? Der Untersuchungsausschuss in Thüringen hat etwa festgestellt, dass sich niemand daran erinnern konnte, wer den früheren Verfassungsschutzpräsidenten Helmut Roewer ausgesucht oder ihm die Ernennungsurkunde zugesteckt hat.

Im Zuge der NSU-Aufarbeitung sind bereits drei Köpfe gerollt: Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm, der Chef der Thüringer Behörde Thomas Sippel und in dieser Woche Sachsens Verfassungsschutzpräsident Reinhard Boos. Ist das für die Opfer Genugtuung?
Für die Opfer kann ich nicht sprechen, nur für mich selbst. Ich denke, das demonstriert das Ausmaß des Skandals. Aber die politische Verantwortlichkeit spiegelt das noch nicht wider. Die hat die politische Führung inne – was das Bundesamt für Verfassungsschutz angeht, der Bundesinnenminister, was Sachsen und Thüringen angeht, die jeweiligen Landesinnenminister.

Wie soll das aussehen, wenn sie Verantwortung übernehmen?
Ich glaube schon, dass die Herren wissen, wie man politische Verantwortung übernimmt.

Was halten Sie vom Vorschlag von Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, den Militärischen Abschirmdienst (MAD) abschaffen zu wollen?
Es wäre tatsächlich kein großer Verlust, wenn man ihn in die bisherigen Strukturen eingliedern würde. Wenn man sich allein die schiere Zahl an Geheimdiensten anschaut – das MAD, der BND, das Bundesamt für Verfassungsschutz und die 16 Landesämter, dann das Zollkriminalamt – und die Bundes- und die Landeskriminalämter decken mit ihren Staatsschutzabteilungen ähnliche Aufgaben wie die Verfassungsschutzämter ab. In der Summe sind das fast 40 Einheiten! Es ist durchaus sinnvoll, diese Komplexität zu reduzieren und die Sicherheitsarchitektur insgesamt zu überarbeiten.

Die FDP hat aufgrund der jüngsten Erkenntnisse für nächsten Mittwoch eine Sondersitzung des Untersuchungsausschusses beantragt.
Das ist aus meiner Sicht sehr sinnvoll.

Beim anstehenden Terrorprozess zu den NSU-Morden sind Sie Nebenkläger für zwei Opferfamilien. Was erwarten Sie sich von dem Gerichtsprozess?
Ehrlich gesagt schwant mir für die Hauptverhandlung Böses. Bis auf Beate Zschäpe sind mittlerweile alle Verdächtigen wieder entlassen worden. Und was man ihr vorwerfen wird, steht in den Sternen. Ich hoffe nicht, dass am Ende nur der Vorwurf der Brandstiftung zur Anklage kommt. Natürlich hoffe ich auf ein faires Verfahren, und darauf, dass die Täter strafrechtlich verfolgt und Gerechtigkeit gestiftet wird. Insofern ist meine Erwartungshaltung sehr hoch. Wichtig ist aber auch die politische Debatte: Wie gehen wir miteinander um? Ich erinnere nur an die Sarrazin-Thesen – 1,4 Millionen Menschen kaufen dieses Buch und jubeln. In den vergangenen 20 Jahren hat sich Deutschland eigentlich sehr offen gezeigt, da hat sich viel verändert, aber diese Debatte hat uns zurückgeworfen.

Was wünschen Sie sich stattdessen?
Ich erwarte, dass die Politik wieder die Handlungshoheit übernimmt – und die Diskussion mit positiven Attributen versieht. Einwanderung muss als Gewinn wahrgenommen werden. Es geht um Bildung, Sprache, um den Zugang zum Arbeitsmarkt. Und beim Thema Rechtsextremismus dürfen wir jetzt während der Sommerpause nicht den Dampf aus dem Kessel lassen und peu-à-peu zur Tagesordnung übergehen. Da gibt es eine gemeinsame Verantwortung der Politik, der Behörden und der Medien. Das sage ich nicht nur als Opferanwalt, sondern als Bürger dieses Landes.

Herr Daimagüler, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Petra Sorge: Fotos: picture alliance (Aktenvernichter), privat (Daimagüler)

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