Epidemiologe Scholz zu „No-Covid“ - „Eine Null-Inzidenz ist völlig utopisch“

Die Anhänger von „No-Covid“ wollen eine Inzidenz von Null. Der Epidemiologe Markus Scholz erklärt im Interview, warum diese Blitzkrieg-Strategie in wissenschaftlichen Modellen klappt, aber in der Realität scheitert.

Für eine Null-Inzidenz müssten wir alles für zwei Wochen schließen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

So erreichen Sie Jakob Arnold:

Anzeige

Prof. Dr. Markus Scholz arbeitet an der Universität Leipzig am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie.

Herr Scholz, vor kurzem hat eine Gruppe interdisziplinärer Wissenschaftler das „No-Covid“-Papier veröffentlicht. Warum tauchen Sie dort nicht als Mitunterzeichner auf?

Das Ziel einer Null-Inzidenz halte ich in der jetzigen Situation für unmöglich zu erreichen. Natürlich ist es notwendig, die Infektionszahlen zu senken, aber im Winter ist das Ziel Null nicht realistisch. Wir haben im Sommer in einzelnen Bundesländern gesehen, dass es gelingen kann, Covid-19 lokal und kurzzeitig auszurotten, aber nur ausgehend von einem niedrigen Infektionsniveau und nach langem Lockdown. 

Was müsste man denn machen, um der Null-Inzidenz nahe zu kommen?

Man müsste alle Kontakte komplett untersagen. Das klappt vielleicht in einer Diktatur, aber mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist das nicht vereinbar. Selbst in China ist das nicht gelungen. Man muss schließlich eine Grundversorgung sicherstellen.

„No-Covid“ argumentiert mit wissenschaftlichen Modellen.

Es wird immer Kontakte und unentdeckte Infektionen geben. Es ist gefährlich, darauf zu setzen, dass man diese alle kontrollieren beziehungsweise unterbinden kann. Diese „Blitzkrieg-Strategie“ kann vielleicht theoretisch in Modellen funktionieren, aber in der Praxis scheitert sie, weil sich die Menschen immer anders verhalten, als man es sich simuliert. Wir entwickeln selbst Modelle, und man muss einfach eingestehen, dass diese immer unvollständige Vereinfachungen der Realität sind. Es kann niemand wirklich abschätzen, wie lange man bis zum Wert Null bräuchte.

Häufig werden die Beispiele aus Australien, Neuseeland und Taiwan genannt. Sind diese Vergleiche sinnvoll?

In all diesen Ländern war die Inzidenz schon vor den Maßnahmen vergleichsweise niedrig. Die wenigen Fälle, die man hatte, konnte man gut isolieren. Dann geht das schon, lokal einen Virus auszurotten. Aber bei unseren hohen Inzidenzwerten funktioniert diese Strategie nicht. Bei uns müsste man sagen: Kauft euch alle für 14 Tage Lebensmittel, jeder muss alleine zu Hause bleiben und darf keine anderen Leute treffen. Das ist unvorstellbar. Und wer soll das kontrollieren?

Und selbst wenn wir das machen: Dann kommt am nächsten Tag ein Pendler aus Tschechien und bringt einen neuen Fall hinein. Jeden, der ins Land kommt zu testen, bietet keine volle Sicherheit, weil es immer auch wieder falsche negative Tests gibt. Da rutscht dann einer durch und wir können das Ganze wieder von vorn beginnen. Damit das funktioniert, müsste die ganze Welt zur gleichen Zeit an einem Strang ziehen. Die Menschheit wird das nicht hinbekommen. Das ist ja bereits in Europa eine Utopie.

Markus Scholz / dpa

Welchen Weg würden Sie verfolgen, um Covid-19 zu überwinden?

Wir sollten die Impfkampagne beschleunigen. Das ist der Ausweg aus der Pandemie. Eine Woche Lockdown kostet uns nach Schätzungen mehrere Milliarden Euro. Selbst wenn der Impfstoff das Zehnfache kosten würde, wäre es noch lohnenswert, ihn zu kaufen. Wenn wir in dem Tempo wie bisher impfen, brauchen wir zwei Jahre zur Herdenimmunität.

Aber auch da muss man realistisch bleiben: Es gibt immer neue Virusvarianten, auf die der Impfstoff unterschiedlich gut wirken könnte. Es kann daher sein, dass wie bei der Influenza der Impfstoff regelmäßig adaptiert werden muss.

Diese Woche fand wieder die Ministerpräsidentenkonferenz statt. Sind Sie mit den beschlossenen Maßnahmen zufrieden?

Im Wesentlichen ist es eine Verlängerung der Maßnahmen. Die Ausgangssperre ist nicht gekommen. Es ist auch unklar, was die gebracht hätte. Das Beschlossene ist sinnvoll. Ich bin zwar nicht so pessimistisch, weil die Zahlen sinken, aber um den Trend zu halten, müssen die Maßnahmen verlängert werden. Kritisch sehe ich, dass jetzt einige Schulen wieder aufgemacht wurden. Zum Beispiel hier in Sachsen für die Abschlussjahrgänge. Wir wissen aber, dass Schulen wesentliche Pandemie-Treiber sind. Erst nach deren Schließung begannen die Zahlen deutlich zu sinken – vor allem im Altersbereich der Kinder und Jugendlichen.

Auch beim Home-Office gibt es noch Nachholbedarf. In den Mobilitätsdaten sehen wir, dass im Frühjahrslockdown weniger Menschen zur Arbeit gefahren sind.

Wie kann man mehr Home-Office erreichen?

Das ist schwer zu sagen: Es wird wahrscheinlich nicht umsetzbar sein, die Leute zum Home-Office zu verpflichten. Es geht auch nicht überall. Man könnte aber auch in den großen Betrieben noch einmal schauen, dass man die Hygienekonzepte auf der Arbeit verbessert. Im Arbeitsbereich ist einfach noch der größte Spielraum.

Ob die Regelung mit FFP2-Masken in Verkehrsmitteln funktioniert, weiß ich nicht. Es ist nicht einfach, diese Masken richtig aufzusetzen. Und es würde richtig ins Geld gehen, wenn man wirklich jeden Tag eine neue Maske nutzen würde. 

Angela Merkel trifft sich vor den Bund-Länder-Treffen mit Experten. Es kam die Kritik auf, dass sie sich nur Experten einlädt, die ihre harte Corona-Politik befürworten. Teilen Sie diese Kritik?

Die Einschätzungen von Frau Merkel sind nach meinem Dafürhalten immer sehr realistisch. Auch wenn es zu Weihnachten und Silvester nicht zum befürchteten Anstieg gekommen ist, war die Sorge berechtigt. Lediglich die große Angst vor der neuen B117-Variante hat mich etwas überrascht. Zu sagen, wir hätten die Schlacht verloren, wenn die Variante sich ausbreitet, halte ich für übertrieben. Die Zahlen aus Irland und Großbritannien zeigen, dass mit einem Lockdown auch die neue Variante eindämmbar ist.

Und wir wissen, dass sich die neue Variante vor allem unter jungen Leuten stark verbreitet. Auch deswegen ist die Öffnung der Schulen kritisch zu betrachten. Das sieht Angela Merkel auch so, und da stimme ich voll zu.  

Die Fragen stellte Jakob Arnold.

Anzeige