Entscheidung zur Masernimpfpflicht - Bundesverfassungsgericht: Wieder eine verpasste Chance

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerden gegen die Masernimpfpflicht zurückgewiesen. Eine wirkliche Überraschung war das nicht. Denn das Gericht bleibt seiner Linie treu, die es schon vor einigen Monaten in seiner Entscheidung zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht begonnen hat. Das ist keine gute Nachricht. Vom Hüter der Verfassung bleibt wenig übrig.

Keine Impfung, keine Kita: Das höchste Gericht findet es in Ordnung / dpa
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Es gibt keine direkte Masernimpfpflicht für Kinder. Wer sein Kind nicht impfen lassen will, muss das nicht tun. Trotzdem ist der Impfdruck auf die Eltern enorm. Im Masernschutzgesetz von 2020 legt der Gesetzgeber fest: Kinder, die keine Impfung gegen Masern nachweisen können, dürfen nicht in Kitas oder ähnlichen Einrichtungen betreut werden. Theoretisch bleibt den Eltern eine Wahl. Sie können ihre Kinder impfen lassen. Dann hat der Nachwuchs alle Möglichkeiten der so wichtigen frühkindlichen und vorschulischen Förderung. Oder sie lassen die Kinder nicht impfen. Das nimmt ihnen viele Fördermöglichkeiten, und die Eltern haben größere Probleme bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Praktisch ist das keine echte Wahl. Das ist eine indirekte Impfpflicht. Und damit kommt die Verfassung ins Spiel.

Eingriff in Grundrechte

Das Bundesverfassungsgericht arbeitet in seiner Entscheidung völlig zutreffend heraus, dass die indirekte Impfpflicht in zahlreiche Grundrechte eingreift, die das Grundgesetz garantiert. Die Verfassung sieht die Pflege und Erziehung der Kinder als das „natürliche Recht der Eltern“ an. Zum Elterngrundrecht gehört auch die Fürsorge für die Gesundheit des Kindes, also etwa die Frage nach einer möglichen Impfung. Der vom Gesetz aufgebaute Impfdruck greift zusätzlich – das liegt bei einer Impfung auf der Hand – in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit des betroffenen Kindes ein. Es ist eine immunologische Binsenweisheit: Eine Impfung ist kein „kleiner Pieks“, sondern mindestens ein starker Impuls für das Immunsystem – und damit ein erheblicher Eingriff in die Gesundheit mit Wirkungen, Nebenwirkungen und Risiken. Nicht zuletzt geht es auch um das allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Kinder. Ohne Impfung dürfen sie nicht in die Kita. Das hat Auswirkungen auf ihre weitere soziale und psychische Entwicklung.

Grundrechtseingriffe sind verhältnismäßig?

Grenzenlose Freiheitsrechte kennt auch die Verfassung nicht. Die Freiheit des einen kann immer auch die Freiheit des anderen einschränken oder das Wohl der Allgemeinheit gefährden. Die Verfassung lässt deshalb Beschränkungen von Freiheitsrechten durch den Gesetzgeber zu. Allerdings nur, wenn sie strikt verhältnismäßig sind. Ist die indirekte Masernimpfpflicht also verhältnismäßig? Daran hat das Bundesverfassungsgericht keine Zweifel. Das ist erstaunlich.

Die Richter überzeichnen die Gefahr, die vom Masernvirus ausgeht. Von 2014 bis 2018 kann man von 3178 Masernfällen in Deutschland ausgehen. Die Sterblichkeitsrate liegt zwischen 0,01 und 0,1 %. Das ist – anders als das Gericht meint – sicher keine ernste Gefahr, die man mit einer Impfpflicht bekämpfen müsste. Gleichzeitig relativiert Karlsruhe die Risiken der Impfung. Wie oft schwere unerwünschte Wirkungen der Impfung vorkommen, diskutiert die Wissenschaft durchaus kontrovers. Das Gericht stützt sich in erster Linie auf die sehr niedrigen Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Nach den negativen Erfahrungen, die wir in der Corona-Krise mit den wenig verlässlichen Zahlen des RKI gemacht haben, erscheint das gewagt. Eine Erkenntnis, die sich gerade durchzusetzen beginnt, ist: Die Anzahl der unerwünschten Wirkungen und Impfschäden bei Corona-Impfungen scheint viel höher zu sein als ursprünglich angenommen. Das sollte zur Vorsicht mahnen bei anderen Impfungen.

Ein weiteres Risiko wischen die Richter mit wenigen nichtssagenden Sätzen vom Tisch. In Deutschland gibt es keine Monoimpfstoffe mehr, die nur Masernviren enthalten. Auf dem Markt sind Mehrfachimpfstoffe, die neben Masern auch gegen Mumps und Röteln oder noch zusätzlich gegen Windpocken immunisieren. Wer sich gegen Masern impfen lässt, muss sich deshalb gegen Mumps, Röteln und Windpocken mit impfen lassen. Das erhöht das Risiko unerwünschter Wirkungen und von Impfschäden deutlich. Die Risikoabwägung des Gerichts ist insgesamt wenig überzeugend.

Druck statt Kommunikation

Mit diesem Gesetz setzt der Staat auf Druck und Einschüchterung statt Überzeugung. Das passt zu einem autoritären Staat, nicht zur Demokratie des Grundgesetzes. In der Demokratie wäre es angemessen, zunächst zu versuchen, die Bürger kommunikativ zu erreichen und sie von den Vorteilen der Impfung zu überzeugen. Im Idealfall lassen sie sich gewinnen und impfen ihre Kinder freiwillig. Studien zeigen, dass die meisten Eltern ihre Kinder aus Nachlässigkeit nicht gegen Masern impfen lassen. Hardcore-Impfgegner sind selten. Kommunikation würde deshalb sicher Wirkung zeigen. Das hat der Staat nicht versucht, abgesehen von hausbackenen Broschüren oder ältlichen Appellen, die ihre Wurzeln noch in der Impfkommunikation der 60er-Jahre haben. Heute stehen andere Kommunikationsmittel zur Verfügung, die man hätte nutzen können und – in einer Demokratie – müssen.

 

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Wie wirksam der Impfdruck in der Praxis überhaupt ist, muss sich noch erweisen. Druck erzeugt Gegendruck – das ist eine alte Lebensweisheit. Inzwischen gibt es Studien, die die kontraproduktiven Wirkungen einer Impfpflicht belegen. Impfskeptische Eltern werden wegen der Impfpflicht und dem damit verbundenen Druck schwerer erreichbar sein. 

Das Corona-Muster: Staatlicher Druck und zahmes Gericht

Hier lasst sich dasselbe Muster wie in der Corona-Zeit beobachten: Der Staat droht, übt Druck aus und schüchtert ein. Er kommuniziert aber nicht. Das ist einer rechtsstaatlichen Demokratie unwürdig. Besonders problematisch ist, dass dies im so heiklen Bereich der Biopolitik passiert. Die politische Philosophie zeigt seit Foucault immer wieder, wie subtil und wirksam Macht durch medizinische und gesundheitspolitische Maßnahmen ausgeübt wird.

Das Verfassungsgericht hat damit kein Problem. Es adelt dieses hoch problematische Verhalten mit dem Stempel der Verfassungsmäßigkeit – und zeigt damit doch nur, wie begrenzt seine Kenntnisse der öffentlichen Gesundheitskommunikation und der Sozialpsychologie sind. Was aber viel schlimmer ist: Das Gericht in Karlsruhe verkennt die Rolle, die ihm die Verfassung zuweist.

Der Hüter der Verfassung

Das Verfassungsgericht hat sich selbst nicht selten als Hüter der Verfassung bezeichnet. Das entspricht auch der Rolle, die die Verfassung ihm zuweist. Es soll dem Staat unabhängig und mutig in den Arm fallen, wenn er seine verfassungsrechtlichen Grenzen überschreitet und das Grundgesetz verletzt. In der Vergangenheit ist Karlsruhe seinem Ruf als „Hüter der Verfassung“ oft gerecht geworden. In berühmten und spektakulären Entscheidungen hat es der Verfassung Durchschlagskraft verschafft und die Freiheit verteidigt. Jetzt ist es dabei, diesen Ruf zu verspielen.

Schon die Entscheidungen zur Bundesnotbremse waren kaum mehr als ein unkritisches Abnicken der hochproblematischen Regierungspolitik. Und auch bei der Masernimpfpflicht machen es sich die Richter wieder zu leicht. Sie hätten viel intensiver und kritischer hinschauen müssen. Sie hätten ganz andere wissenschaftliche Expertise in Anspruch nehmen können und müssen, und sie hätten mutig sein sollen. Dann wäre vielleicht eine Entscheidung entstanden, die den immer übergriffigeren Staat bremst und rote Linien für die Biopolitik im demokratischen Staat zieht. Der jetzige Beschluss ist nicht mehr als ein unkritischer Stempel, der die Regierungspolitik als verfassungsgemäß bestätigt. Vom mutigen Hüter der Verfassung zum unkritischen Unterstützer der Regierungspolitik? Das ist kein guter Weg.

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