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(picture alliance) Ein buntes, offenes Europa: So stellen sich die Piraten ihren Kontinent vor

Piratenpartei sucht Außenpolitik - Ein Update für Europa

Die Piraten und Europa: Bislang war wenig bekannt über dieses Verhältnis. Doch zur Bundestagswahl 2013 will die Partei auch mit EU-Themen antreten. Auf der EuWiKon, der Europa- und Wirtschaftskonferenz an diesem Wochenende in Essen, basteln sich die Piraten ein Programm. Die Ex-Vorsitzende der Jungen Piraten, Julia Reda, beschreibt ihre Visionen für ein erneuertes Europa

Den einen oder die andere mag es überraschen: Wir Piraten feilen mitten in der Krise an einer Vision für ein demokratisch vereintes Europa. In ganz Deutschland finden sich Piraten zu Treffen zusammen, um die gemeinsam im Internet erarbeiteten Anträge für das Wahlprogramm 2013 zu diskutieren. In den vergangenen Monaten sind wir vielleicht eher für unsere Kritik am wenig demokratischen Zustandekommen des Europäischen Stabilitätsmechanismus aufgefallen. Manche mutmaßten gar, die Piratenpartei könnte sich als Gegnerin Europas positionieren.

Die Piratenbewegung wurzelt jedoch in einer Weltsicht, die weit über den nationalstaatlichen Rahmen hinausweist. Der Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft ist eine globale Herausforderung unserer Zeit, der wir nicht auf nationaler Ebene begegnen können. Tatsächlich sind gerade die demokratischen Defizite im Umgang mit der Finanzkrise das beste Argument für weitere europäische Integration. ESM und Fiskalpakt zeigen, dass die europäischen Institutionen mit der wirtschaftlichen Einigung bisher nicht Schritt halten konnten. Es fehlen noch immer demokratische und transparente Institutionen, die den exekutiven Machtzuwachs in Folge der Krise einhegen können.

Die politische Antwort auf die Finanzkrise hat viele Menschen enttäuscht. Doch diese Enttäuschung darf jetzt nicht dazu führen, dass nationalistische Ressentiments geschürt werden. Stattdessen wollen wir Piraten die Krise als Chance nutzen, um gemeinsam mit den Bürgern die Institutionen so weiterzuentwickeln, dass sie der Bedeutung der Europäischen Union für die Leben der Menschen gerecht werden.

Eine Europäische Verfassung für die digitale Gesellschaft

Es ist ausgerechnet ein Krisenland, das uns den Weg weist: Island hat nach dem desaströsen Absturz seiner Volkswirtschaft begonnen, eine neue Verfassung zu erarbeiten. Nicht nur inhaltlich, auch durch die Online-Partizipation der Bürger bei der Ausarbeitung der Verfassung hat Island neue Maßstäbe gesetzt.

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Wir wollen, dass auch die EU-Bevölkerung einen europäischen Verfassungskonvent mit vorbereiten kann, etwa mit Hilfe des Internets. Ein solcher Konvent kann die Rechte, die sich aus der Vernetzung der modernen Welt ergeben, europaweit garantieren: freier Zugang zum Internet, zu Informationen und Kultur sowie vertrauliche Kommunikation über elektronische Medien. Und er kann die direktdemokratische Partizipation der Bürger mit den Errungenschaften des Informationszeitalters auf eine neue Ebene heben.

Eine europäische Verfassung muss zunächst die Mitbestimmungsrechte des Europäischen Parlaments stärken. Damit es zu einer echten Legislative heranwachsen kann, muss ihm das Recht zugestanden werden, Gesetzgebungsinitiativen selbst in Gang zu setzen. Bisher liegt das Initiativrecht allein bei der Kommission. Der Rat, in dem die nationalen Regierungen noch immer viele Vorhaben blockieren können, muss zu einer zweiten Kammer umgebaut werden. Der Befürchtung, dass die Bürger dem Europaparlament zu wenig Aufmerksamkeit schenken, kann durch eine Aufwertung der Europawahlkämpfe begegnet werden. Dies soll erreicht werden, indem die europäischen Parteien selbst Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft nominieren können. Dadurch würden die politischen Alternativen innerhalb der EU deutlicher und Opposition gegen die europäische Tagespolitik wäre leichter von Fundamentalopposition gegen die EU selbst zu trennen. Denn Demokratie braucht nicht nur informierte und interessierte Menschen, um zu funktionieren. Menschen brauchen auch echte Beteiligungsmöglichkeiten, um sich zu informieren und zu interessieren.

Auf der zweiten Seite lesen Sie, warum Bürgerinitiativen an bürokratischen Hürden zerschellen

Solche Reformen erfordern Mut. Sie erfordern den Willen zu echter Demokratie, anstatt dem bloßen Abnicken dessen, was die Regierungsoberhäupter in Hinterzimmern untereinander ausgemacht haben. Doch erste Schritte in diese Richtung, wie die im April eingeführte Europäische Bürgerinitiative, kranken an hohen bürokratischen und technischen Hürden. Selbst wenn Aktivisten es schaffen, eine Million Unterschriften in sieben Mitgliedstaaten zu sammeln, ist eine erfolgreiche Bürgerinitiative nicht mehr als eine unverbindliche Empfehlung an die Kommission. Ein Papiertiger. Das zeigt deutlich, wie tief verankert die Angst vor politischer Teilhabe in den europäischen Institutionen ist.

Das Informationszeitalter gestalten

Grundrechte und Gestaltungsfreiraum können indes nur auf europäischer Ebene verteidigt und weiterentwickelt werden. Es ist kein Zufall, dass viele der Maßnahmen, die Freiheit und Privatsphäre einschränken, auf europäischer Ebene verhandelt werden: die Vorratsdatenspeicherung, das gescheiterte Urheberrechtsabkommen ACTA, die Überwachung des öffentlichen Raums durch Projekte wie INDECT und die Clean-IT-Netzkontrollen. Deshalb müssen die europäischen Piratenparteien,  Nichtregierungsorganisationen und die Bürger diese Vorhaben gemeinsam bekämpfen.

Europa ist aber auch ein Ansatzpunkt für sinnvolle Anpassungen an das Informationszeitalter. Mit der europäischen Datenschutzreform besteht die Chance, gemeinsam – auch gegenüber großen amerikanischen Unternehmen – unser Recht auf Privatsphäre da durchzusetzen, wo nationale Regelungen scheitern. Ebenso können wir die Innovationskraft des Internets erhalten, indem wir die Netzneutralität europaweit gesetzlich garantieren.

Der rege Austausch zwischen den Europäern erfolgt freilich nicht nur über das Internet. Die Reisefreiheit innerhalb der EU war ein Meilenstein. Sie fördert nicht nur das Verständnis zwischen den Kulturen, sondern ermöglicht überhaupt erst gemeinsames politisches Handeln.

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Wir Piraten profitieren davon ganz konkret. Fast monatlich gibt es Treffen, zuletzt in Barcelona im September, als sich Vertreter von Piratenparteien aus mehr als 20 Nationen gemeinsam mit der Gründung einer Europäischen Piratenpartei befassten. Weitere Treffen sind im November in Rom und im Dezember in Manchester geplant. Ohne die Bewegungsfreiheit im Schengenraum, die plötzlich wieder zur Disposition steht, wären solche paneuropäischen Projekte deutlich erschwert. Ein Grund mehr, die Errungenschaften der europäischen Integration zu verteidigen und die Bewegungsfreiheit aller Menschen in Europa – online wie offline – auszubauen.

Europa steht an einem Scheideweg. Es ist Privileg und Verantwortung seiner Bürger, ihren Weg selbst zu wählen. Die Politik aber muss diesen Prozess ermöglichen – und moderieren.

Fotos: picture alliance, Tobias M. Eckrich/Piratenpartei

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