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Kritikkultur - Die Mängel der Merkel

Wenn sie versagt, wird sie nicht haftbar gemacht. Keiner ihrer Vorgänger wurde so geschont wie die Kanzlerin. Ehrfürchtige Merkologen rühmen sie und bekritteln allenfalls Taktik oder Stil. Dabei hat sie eine Menge falsch gemacht. Ein Sündenregister – und ein Plädoyer für weniger Watte 

Autoreninfo

Peter Grottian ist Hochschul­lehrer für Politik­wissenschaft an der Freien Universität Berlin und in sozialen Bewegungen engagiert.

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In lebendigen Demokratien sind Regierungschefs immer wieder heftigster Kritik ausgesetzt. Die tagtäglich erneuerte Kritik- und Urteilsfähigkeit ist das Salz der Demokratie. Konrad Adenauer musste das schmerzlich erfahren genau wie seine CDU-Nachfolger Ludwig Erhard und der trotz aller Einheitsverdienste abgewählte Helmut Kohl. Auch die sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder wurden schonungslos attackiert – nicht zuletzt aus den eigenen Reihen. Die Legitimationsbasis der Kanzler wurde mehrfach substanziell erschüttert: Adenauer wegen seiner Nachfolgefrage, Erhard wegen seines Regierungsstils als „Gummilöwe“, Brandt wegen der umstrittenen Ostpolitik und der uneingelösten „inneren Reformen“, Schmidt wegen der Nachrüstungspolitik/Koalitionsaufkündigung und Schröder wegen des Kriegseinsatzes in Afghanistan und der Agenda 2010.

Merkwürdig: Stil- statt Inhaltskritik


In diesem Jahr wird Angela Merkel zehn Jahre im Amt sein. Nach eigener Einschätzung ist sie, wie sie selbst gesagt hat, bisher „ganz gut durchgekommen“. Erstaunlich ist: Über substanzielle Mängel der Kanzlerin werden keine anhaltenden oder zumindest gehaltvollen temporären Debatten geführt. Zwar werden einzelne Entscheidungen oder Nichtentscheidungen ihrer Regierung kritisiert, etwa die Wirtschafts- und Finanzpolitik, der NSA-Attentismus, die verschleppte Energiewende oder eine sozialpolitisch unvertretbare Belastung der jüngeren Generation. Höchst selten wird diese Kritik jedoch auf die Frau zugespitzt, die die politische Verantwortung trägt: auf Angela Merkel.

Ja, es gibt Kritik am Taktieren und Lavieren der Kanzlerin, an ihrer bis zur Drögheit reduzierten Vermittlungs- und Redekultur und ihren fast kohlschen Aussitzfähigkeiten. Die Zeiten, als Leute wunderliche Schlüsse von ihrer Frisur auf die Regierungsfähigkeit zogen, sind zwar glücklicherweise vorbei. Aber die rauten­artige Händehaltung der Kanzlerin ist noch oft genug Gegenstand der symbolischen Erörterung. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern ist die Kritik an ihr stilistisch geprägt. Ob in der Politik, in den Medien oder bei Gesprächen am Kneipentisch – diese Kanzlerin wird selten attackiert, sie wird rezensiert.

Und häufig fallen die Rezensionen positiv, ja ehrfürchtig aus, dann umgibt sie ein Hauch von Zauberin, und je bescheidener sie sich inszeniert, desto lauter ist das staunende Ah! und Oh! des Publikums. Kritik an ihr bleibt Strohfeuer, sie entfacht keine ernsthaften Legitimationsprobleme. Daraus ist eine fast atemraubende Massenloyalität gewachsen: Die Kanzlerin scheint anders als ihre Vorgänger bei der Mehrheit kein sich anhäufendes Minuskonto zu haben, sondern nur ein Sparbuch, dessen Guthaben wächst. In jedem Fall wird ihr konzediert, dass sie das Beste ganz pragmatisch versucht hat – wie immer das Ergebnis aussieht. Schon der glaubwürdige Versuch, ein Problem zu lösen, wirkt legitimationsstiftend und herrschaftssichernd.

Es gibt zwei mögliche Erklärungsvarianten. Zunächst die für Angela Merkel angenehme: Sie ist einfach eine führungsstarke Kanzlerin ohne penetrantes männliches Machtgehabe, die wenig anbrennen lässt und sehr vieles richtig macht. Sie ist eine exzellente Handwerkerin der Macht. Deshalb ist sie so unangreifbar und unangefochten. Sie ist das verantwortliche Gesicht der Großen Koalition. Sigmar Gabriel mag als schwergewichtiges Rumpelstilzchen aufstampfen, so viel er will, sogar der Bonus aus SPD-Projekten wird primär der Kanzlerin gutgeschrieben.

Merkel führt die Unionsparteien souverän. Die schwache parlamentarische Opposition aus Linken und Grünen hat erhebliche Schwierigkeiten, ihre oft berechtigte Kritik öffentlichkeitswirksam anzubringen. Merkel regiert geschickt im Konsens mit dem Volk: Die Bevölkerung fühlt sich in schwierigen Zeiten in guten Händen. Sie ist die fast geniale Resultante eines gesellschaftlichen Parallelogramms der Macht, einer bieder-sanften Macht, der zunächst nichts Böses unterstellt wird. Die Deutschen kämen nicht auf die Idee, dass Merkel in die eigene Tasche wirtschaftet oder andere krummen Geschäfte macht. Ihr schlägt kein grundsätzliches Misstrauen entgegen. Die Deutschen würden es für eine abstruse Idee halten, Merkel eine Affäre anzudichten. Wie Hollande mit dem Roller durch Berlin – aber ich bitte Sie!

Die Medien verbinden selten ihre inhaltliche Kritik an der Regierung mit einer auch personell festzumachenden Merkel-Kritik. Die EU versagt, die Bundesregierung versagt, ein Minister versagt. Merkel versagt, dieser Satz klingt dagegen seltsam fremd.

 

Es gibt eine zweite Erklärung, sie ist die für Merkel weniger angenehme: Sie leistet sich sehr wohl gravierende Fehlentscheidungen. Aber sie schafft es, sie entweder personell zu wattieren, umzuleiten auf andere Verantwortliche, auf andere Ebenen. Oder sie deutet Misserfolge und Niederlagen um. Aus ihnen werden „faire Kompromisse“ wie auf EU-Gipfeln, wenn die Kollegen ihr nicht gefolgt sind.

Ausgerechnet die ironische Bemerkung von Peer Steinbrück, jenes Kandidaten, der zuletzt ausschließlich ein Minuskonto hatte, ist charmant: Die Deutschen vertrauen Merkel blindlings als Pilotin, aber sie haben keine Ahnung, wo sie landen könnte. Zu ihrer Strategie gehört ein prinzipienfester Machtopportunismus ohne erkennbar eigene Substanz. Zumutungen für die Bevölkerung gibt es nur in geringen Dosen, wenn überhaupt. Die Medien lassen ihre politische Gesamtverantwortlichkeit merkwürdig unangetastet. Elogen zum 60. Geburtstag der Kanzlerin, wenig substanzielle Kritik nach einem Jahr Große Koalition. Der „Merkiavellismus“ lebt, um ein Wort zu verwenden, mit dem der unlängst verstorbene Soziologe Ulrich Beck ihre EU-Politik charakterisierte.

Die Debattenkultur ist deshalb ziemlich auf den Hund gekommen. Wenn eine Regierungschefin nicht auch in der Kritik steht, wirkt die Demokratie in seltsamer Weise verstockt. Ökonomisch-repräsentativen Absolutismus könnte man das nennen. Beispiele für diese Argumentation? Aber bitte reichlich.

Gläubiger der Finanzmarktkrise laufen lassen
 

Da wird in der Finanzmarktkrise die Hypo Real Estate mit mehr als 130 Milliarden Euro Steuergeldern gerettet – und das Duo Merkel/Steinbrück wagt es noch nicht einmal, die Gläubiger einzubestellen, um diesen Bankern zu sagen: „Hey: Alles zahlen die Steuerzahler nicht, die Gläubiger zahlen mit für die Krise, die sie mitverursacht haben.“ Merkel/Steinbrück hingegen: Die Regierung zahlt und vor allem die Steuerzahler. Kritik in der Öffentlichkeit? Nachsichtige Milde!

Zum Befund 2015 gehört daher: Macht der Banken kaum eingeschränkt, Sicherungen gegen künftige Finanzmarktkrisen nur rudimentär aufgebaut, vergiftete Finanzmarktprodukte nicht wirklich vom Markt genommen. Und die Verantwortlichen der Finanzmarktkrise blieben anders als in den USA von juristischen Konsequenzen weitestgehend verschont. Die Finanzmarktsteuer hat eine europäische Beerdigung dritter Klasse bekommen. Ackermann und die Finanzmarktindustrie haben den Handlungsspielraum der Kanzlerin in der Finanzmarktkrise bestimmt und aus der Politik ein zartes Mäuslein gemacht, das aus der Hand der ökonomisch Mächtigen frisst.

Zweites Beispiel: Die Griechenland-Hilfen der EU. Auch hier wurde noch nicht einmal der ernsthafte Versuch unternommen, die französischen, englischen, deutschen und italienischen Banker an einen EU-Tisch zu setzen, um deren wirkliche finanzielle Beteiligung an der von ihnen mit ausgelösten Krise einzufordern. Kritik in der Öffentlichkeit: milde bis gar nicht. Ein seinem Namen gerecht werdendes Hilfs- und Infrastrukturprogramm für Griechenland, das soziale Mindeststandards einschließt, ist von Merkel nie betrieben worden. Nur zähneknirschend hat sie das geplante Investitionsprogramm der Europäischen Kommission mitgetragen.

 

Ein weiteres Beispiel ist Merkels vordergründiges Engagement gegen die Jugendarbeitslosigkeit in der Europäischen Union. Erinnern wir uns: 2013 inszeniert die Kanzlerin einen EU-Gipfel als explizite Merkel-Verantwortungsnummer, um ihr katastrophales Image in den Südländern Europas aufzubessern. Und: Sie hat außer ein paar lächerlichen Brosamen für die jungen Leute nichts zu bieten – weder ein intelligentes Hilfsprogramm noch die notwendigen Mittel, die schließlich nur aus etwas umgeschichtetem und nicht etwa Extra-EU-Geld bestehen.

Die Maßstabslosigkeiten sind evident. Einen Finanzrahmen von fast 6 Billionen Euro hat die EU seit 2008 für die Bankenrettung bereit gestellt. Damit verglichen liegen die Mittel für süd- und osteuropäische Jugendliche im Promillebereich.

Aber auch daran ist nicht mal säuselnde Kritik in der Öffentlichkeit zu vernehmen. Angesichts von Merkels Kopflosigkeit könnte man ja auf einen nächsten EU-Gipfel zur Jugendarbeitslosigkeit hoffen. Pustekuchen. Der nächste Gipfel zum Thema Ende August 2014: abgesagt. Wegen mangelnder und nicht konsensfähiger Vorstellungen.

Hat sie nicht mehr zu bieten als Sparen und den Ruf nach Wettbewerbsfähigkeit? Nichts, aber auch gar nichts kam von ihr. Kritik in der Öffentlichkeit: Fehlanzeige.

Und es kommt noch dicker. Auch der EU-Gipfel zur Jugendarbeitslosigkeit in Mailand im Oktober 2014 wirkt wie ein geheimes Kommandounternehmen ohne Ziel. Man hätte ja vielleicht erwarten können, dass zumindest die 20 EU-Mitgliedsländer, die mit ihren spezifischen Projekten EU-Mittel beantragt haben, diese in Umrissen und selbstbewusst präsentieren. Mitnichten. Sie wollten erst die laufenden Bewilligungen abwarten, ließen sie verlauten. So kommt es in Mailand zu keinem transparenten und somit produktiven Wettbewerb unterschiedlicher Förderkonzepte.

Kurzum: Der Befund von Mailand gerät so dünn, dass die deutsche Öffentlichkeit weder über das Desaster noch über mögliche Alternativen informiert ist. Vernehmbare Kritik von Opposition, DGB, Medien an der Kanzlerin: nichts, außer einem kritischen Kommentar in der FAZ. Das eklatante Versagen von Merkel steht auch dafür, wie kaltschnäuzig und machtopportunistisch sie Themen ganz einfach verhungern lassen kann. Und sie kommt damit durch.

Merkels verstockte Bildungsrepublik


Ein geradezu mieses Stück als viertes Beispiel ist die Merkel’sche Bildungsrepublik, die sie im Oktober 2008 ausrief. Natürlich hat es anerkanntermaßen wichtige Förderprogramme gegeben – aber die windhundähnliche und windige Exzellenzinitiative und ein noch windigeres Stipendienprogramm für Nachwuchswissenschaftler machen noch keinen Bildungssommer. Die Fachhochschulen und Universitäten sind in einem schlimmen Zustand, taub-taumelnd vor weiter unausgegorenen MA/BA-Programmen und einer Personalstruktur der Erbärmlichkeit.

Es fehlen, so rechnen der Wissenschaftsrat und die GEW vor, mehrere Tausend Professoren und die anständige Bezahlung des Mittelbaus sowie der Privatdozenten. Dass die Lehrbeauftragten, die die Lehre an deutschen Hochschulen im Durchschnitt zu einem Drittel tragen, mit Stundenlöhnen von oft drei Euro abgespeist werden, gehört zu den großen Schandflecken der Mindestlohn- und Bildungspolitik.

Die Aufhebung des Kooperationsverbots von Bund und Ländern ist ein kluger, ein richtiger Schritt. Aber dass circa 400 000 junge Leute nicht das studieren können, wozu sie motiviert sind: kein Wort und kaum eine Kritik in der Öffentlichkeit. Wir brauchen qualifizierte Fachkräfte, aber blockieren junge Leute, die oft Jahre auf einen Medizin- oder MINT-Studienplatz warten oder 1,0-Abiturnoten vorlegen müssen. Das deutsche Bildungssystem bleibt im internationalen Vergleich unterfinanziert, und die Ziele der vor gut sechs Jahren ausgerufenen Bildungsrepublik wurden gründlich verfehlt. Die Halbierung der Zahl von Schulabgängern ohne Abschluss bis 2013: nicht erreicht. Die Halbierung der Zahl von jungen Erwachsenen ohne Ausbildung: bei weitem nicht erreicht.

Eine wirkliche Debatte über zusätzliche und zukünftige Investitionen vor allem für die abgehängten Bildungsverlierer ist nicht ernsthaft in Sicht. Merkel belässt es bei bildungspolitischen Allgemeinplätzen und erhält dafür noch nicht einmal sanfte Rügen. Schüler und Studierende entwickeln keine Macht, Bildungspolitik ist für Politiker eine Karrierebremse, und gute Bildungsjournalisten in der Republik sind rar – jedenfalls wenn man es mit den vielen Merkologen in den Medien vergleicht.

Natürlich: Für die Bildung sind in erster Linie die Länder zuständig, und die Ministerpräsidenten tragen Verantwortung für den schlechten Zustand der Ausbildung an Schulen und Hochschulen. Dennoch muss man freundlich daran erinnern dürfen, dass es Merkel war, die die Bildungsrepublik ausrief – und für das Ziel gelobt wurde. Für die Misere, für das Verfehlen des Zieles haftet sie nicht mit.
 

Und noch ein Beispiel: Die Kanzlerin genehmigt klammheimlich Rüstungsexporte in die Diktaturen, von denen man nicht weiß, ob sie demnächst die Gewehre und Panzer gegen die eigene Bevölkerung einsetzen – Indonesien zählt dazu, genau wie Algerien, Ecuador, Saudi-Arabien, Katar und ja: auch der Nato-Partner Türkei. Merkel hat zwar in ihrer etwas fälschlich als Doktrin hochgejubelten Empfehlung, Drittstaaten zu ihrer Verteidigung mit Rüstungsexporten zu ermächtigen, offen zugegeben, Macht­ungleichgewichte in den Weltregionen mit Waffenexporten ausbalancieren zu wollen. Aber offen begründet hat sie ihre dubiose Rüstungsexportpolitik bisher nicht – übrigens auch die vom christlichen Menschenbild geprägte Ursula von der Leyen nicht, die doch angesichts von misshandelten Frauen und Jugendlichen die Menschenrechtsfahne hissen müsste.

Nein, Merkel agiert klandestin, wohl wissend, dass die große Mehrheit der Bevölkerung gar keine Waffenexporte will, schon gar nicht in Länder des explosiven Nahen und Mittleren Ostens. Bei ihrem Indonesienbesuch lässt sie mal kurz und unöffentlich ein paar Panzergenehmigungen aus ihrer großen Handtasche fallen. In der Öffentlichkeit darf sich Vizekanzler Sigmar Gabriel für eine restriktivere Rüstungspolitik einsetzen. Sie widerspricht ihm nicht, aber sie lässt auch keine wesentlichen Veränderungen zu.

Einige Kritik an Waffenexporten kommt aus den Oppositionsparteien und von sehr aufmerksamen Journalisten von SZ, FAZ, Spiegel, taz und Zeit – ja sogar von sehr kundigen und recherchefreudigen Bild-Journalisten. Die Legitimation der Rüstungsexportpolitik bleibt aber hinter einer großen grauen Wolke verborgen. Auch in der jüngsten Debatte um Waffenexporte in den Nordirak versteht es die Kanzlerin, sich hinter Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und Ursula von der Leyen zu verstecken.

Wegducken im NSA-Skandal
 

Das Verhalten Merkels in der NSA-Affäre soll das letzte Beispiel sein: Geschenkt, dass die Kanzlerin die Beziehungen zu den USA nicht aufs Spiel setzen will. Geschenkt, dass sie auch Verständnis für den Sicherheitswahn der Amerikaner hat, die die Grund- und Menschenrechte bedenkenlos diesem Sicherheitsinteresse unterordnen. Aber wäre es denn zu viel verlangt von einer angeblich im Zenit ihrer Macht stehenden Kanzlerin, zumindest Möglichkeiten für den Umgang mit der NSA-Affäre öffentlich auszubreiten? Sie müsste ja nur mal sagen, dass die Bundesregierung verschiedene Optionen hat, darauf zu reagieren. Mit Obama verständigte sie sich auf einen dialogischen Diskurs unter Freunden. Das kritisieren zwar die Opposition des Bundestags sowie Medien und Gewerkschaften. Aber in den öffentlichen Diskurs schaffen es Alternativen zur Alternativlosigkeit nur selten.

Merkel verhält sich zu den USA nicht viel anders als Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Helmut Kohl: devot. Mit NSA, TTIP, Afghanistan, Irak und Gaza/Israel hat sich so viel aufgehäuft, dass die Kanzlerin über eine eigenständige deutsche, noch besser europäische Rolle nachdenken und diskutieren müsste. Sie ist angreifbar. Der Mainzer Rosenmontagszug geißelte ihre USA-Politik, indem er eine Merkel zeigte, die in den Allerwertesten von Bush krabbeln wollte.

Aber sonst kommt nichts.

Auch nach einem Jahr Großer Koalition setzt sich das beschriebene Merkel-Muster fort. Die bisherigen Erfolge werden primär der Kanzlerin zugeschrieben, obwohl es eher sozialdemokratische Projekte sind (Mindestlohn, Rente mit 63, Elternteilzeit Plus, Frauenquote), und problematische Vorhaben (Modalitäten der Energiewende, Maut, Bildung, Infrastruktur-Investitionen, NSA) erzeugen keine wirklichen Legitimationsdefizite. Die überwölbende Schrecklichkeit von Terroranschlägen, Kriegen und Flüchtlingselend lassen ohnehin innenpolitische Probleme zurzeit klein aussehen. Merkel wird damit zur Verteidigerin der Wohlfahrtsfestung, aber wie in der Eurokrise gelten für sie keine strengen Maßstäbe. Motto: Die Probleme sind so gewaltig, dass es ohne sie gewiss noch schlimmer gekommen wäre. Manche Minister geraten in Schwierigkeiten, nicht Angela Merkel. Sie lässt Dehnfugen für koalitionäre Profilierungen, ohne ihre machtopportunistische Rolle zu vernachlässigen. Inhaltlich steht sie für alles und nichts. Stattdessen wird sie – wie Helmut Kohl in einem Interview anmerkte – durch ihre Macht zusammengehalten.

Courage zur Merkel-Kritik
 

Merkel unentwegt zu schonen – das entspricht nicht der inzwischen streitbaren politischen Kultur der Republik. Mehr Courage wäre angebracht.

Aber wo ansetzen? Es könnte um eine neue Balance von repräsentativer und direkter Demokratie gehen, wofür Merkel nicht sonderlich musikalisch ist. Bei der Politik des Gehörtwerdens des Grünen Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg haben wir gerade erlebt, wie man trotz manch versuchter Bürgernähe ein zunächst ernsthaftes Demokratieprojekt vor die Wand fahren kann. Merkel traut sich aber noch nicht einmal, über ein Mehr an Demokratie zu reden – sehr wohl im fernen China, aber nicht in einem großen Hörsaal einer deutschen Universität. In China ist sie mutig, in Deutschland kleinmütig.

Merkel ist bisher gut durchgekommen – für eine wirklich funktionierende Demokratie viel zu gut. Denn Herrschaftskritik muss immer wieder neu gelernt werden.

Solange die Gewerkschaften eher auf dem Schoß der Kanzlerin sitzen, um ihr geneigtes Ohr zu erreichen, solange außerparlamentarische Bewegungen nicht mehr Druck auch mit zivilen Ungehorsamsformen machen, solange sich die Oppositionsparteien auf Merkel-Einzelkritik beschränken und solange die Medien ihrer kritisierenden Funktion nur eingeschränkt nachkommen – werden sich weder Merkel noch die Politik ändern.

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Barbara Erdmann | Mi., 21. Dezember 2016 - 20:35

Es sind inzwischen Bücher verfasst worden über den Irrsinn, den Merkel mit ihrer von Bewunderern als besonnen bezeichnete Politik in Gang gesetzt hat. Und die Randerscheinungen wie CDU, Presse, hörige TV-Journalisten und der durch all diese zum Trampelpfad ausgetretene Mainstream sorgen immer verkrampfter für das auf Merkel gerichtete Licht im Zentrum eines großen NICHTS. Wo sind die Persönlichkeiten geblieben, die wie Schmidt Schnauze nicht nur Schnauze hatten, sondern sich auch durch Meinungen und Taten auszeichneten? Wo sind die Visionäre a la Brandt und Kohl, die die Stunde ihrer Vision erspürten und sie auch in Gang setzten? Mit Wendehals-Aktionen, Verbal-Appellen und Worthülsen ist Merkel bei ihrer Planungsarbeit im großen Europa ihr eigenes Land abhanden gekommen. Das von ihr übernommene Deutschland wurde oder hat sich abgeschafft. Diese Diagnose wollte sie nicht hören und fand sie auch nicht hilfreich. Ich finde ihre Politik inzwischen auch nicht mehr hilfreich.