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„Sie redet mit ihren Kindern in einer Sprache, die Kinder verstehen“ / Cicero

Sieben Jahre Angela Merkel - Die Glucke der Nation

Geltungssucht liegt ihr fern, Uneitelkeit ist ihre Waffe: Angela Merkel. Sie ist ungemein schnell im Kopf und kaum aus der Reserve zu locken. Warum uns Angela Merkel, trotz Koalitionschaos und Eurokrise, noch lange regieren wird.

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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Bitte nicht. Nicht auch noch Kirchenglocken. Es ist Punkt 19 Uhr, als sich Angela Merkel einen Weg durch die Menschen bahnt, aber es ist nicht nur das Schlagen zur vollen Stunde.

Im Turm der rot aufragenden Backsteinkirche von St. Johannes Baptist läuten die Glocken, als hinge Don Camillo unten am Seil. Dazu das volle, warme Abendlicht einer Sonne, die im richtigen Augenblick eine Wolkenlücke für ihre Strahlen gefunden hat. Beifall, reckende Köpfe, erhobene Handys und blitzende Kleinkameras markieren Merkels Weg Richtung Bühne.

Leistungsschau der Kanzlerin

Was sich hier abspielt auf dem Marktplatz von Neheim, über dem ein Parfumduft aus Bratwurst, Bier und Zigarettenschwaden liegt, ist vordergründig eine Wahlkampfveranstaltung der CDU im Hochsauerland. Aber es ist vor allem die Leistungsschau einer Kanzlerin in ihrem siebten Jahr.

Auf der Bühne angekommen, winkt sie ihr Patschhändchenwinken, das ein wenig an jenes huldvolle der Queen von England erinnert. Merkel zieht dabei den Kopf noch etwas tiefer zwischen die Schultern, die in einem sandfarbenen Jackett stecken. Sie sieht fast ein bisschen verlegen aus.

Ein Geheimnis, ein Rätsel

Aber freudig auch. So ein warmer, respektvoller Empfang tut gut, immer noch, auch nach all den Jahren. Eine andächtige Stimmung legt sich über den Platz. Selbst die Störer hinten mit ihrem Protest am Holzstiel stehen still und artig.

Es gibt ein seltsames Paradox in Deutschland. Ein Geheimnis, ein Rätsel. Das Rätsel heißt Angela Merkel. Sie ist das Geheimnis. Keine Regierung hat, soweit man sich erinnern kann, ein derart desolates Bild abgegeben wie das schwarz-gelbe Bündnis der Kanzlerin. Inhaltlich wie stilistisch.

Gewerkel, Gemerkel

Aktuell zanken die Koalitionäre über das Betreuungsgeld, die FDP irrlichtert so herum, dass sie als liberale Partei etatistisch die Pendlerpauschale erhöhen will. Das Rederecht der Abgeordneten soll erst eingeschränkt werden, dann doch so bleiben wie es ist. Bei der Schlecker-Rettung hatte die Koalition keinen gemeinsamen Plan, und bei der Vorratsdatenspeicherung auch nicht. Kein Kurs ist erkennbar, kein historisches Werk.

Stattdessen nur Gewerkel, Gemerkel. Und eine Politik voller Widersprüche. Widersprüche, die auch auf die Chefin selbst zurückgehen. Atomenergie – erst voll rein, dann voll raus, Mindestlohn – erst voll dagegen, jetzt unter dem Tarnnamen Lohnuntergrenze voll dafür. Dazu zwei gescheiterte Bundespräsidenten auf dem Kerbholz, in der aktuellen Koalition anderthalb Vizekanzler verschlissen, und inzwischen zwei Koalitionspartner runterregiert. Eine stramme Leistung für eine Kanzlerin in ihrem siebten Amtsjahr.

Hauch von Neuwahlen

Normalerweise müsste das reichen für das absehbare Ende einer Kanzlerschaft. Die Deutschen vergeben im Schnitt zwei Legislaturen an einen Kanzler. Dann steht ihnen der Sinn nach etwas Neuem. Das war bei Kohl so, der nur wegen der Wiedervereinigung 16 Jahre, also zweimal zwei Legislaturen, bekommen hat. Das war bei Schröder so, der freiwillig auf sieben Jahre verkürzte. Das gilt im Prinzip auch für Merkel.

Ein Hauch von Neuwahlen lag für einige also in der Luft, als nun im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen Schicksalswahlen anzustehen schienen. Ob sie wohl den Stecker ziehe, sorgte sich Bild. Vom „Superdämpfer“ schrieb Spiegel Online und notierte, „Was Merkel jetzt fürchten muss“.

Kann sie es überhaupt?

Unter der Überschrift „Ente messerscharf“ fragte sich die FAZ angesichts des Gewürges in den vergangenen Wochen: „Wird diese Regierungskoalition, deren Ende nach allem demoskopischen Ermessen im Herbst kommenden Jahres besiegelt sein wird, tatsächlich bis zum Ende durchhalten? Kann sie es überhaupt? Sollte sie es gar?“

Und doch steht Merkel auf wundersame Weise über dem ganzen Gesaus und Gebraus, das sie selbst zum Teil erzeugt hat. So, als ginge sie das alles nichts an, als sei das nicht ihr Gesaus und Gebraus. Mit einer Unbeirrtheit geht die Frau ihrer Wege, als laufe sie auf feinstem, glattem Asphalt.

Michael Glos hatte Lust auf das Gespräch und das Thema, deshalb ist er an diesem Freitag früher aufgestanden, obwohl der Abend bei Peter Altmaier, dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion, länger dauerte. Der Rollkoffer steht hinter ihm abfahrbereit neben dem Schreibtisch. Der Wagen zum Bahnhof ist für kurz vor neun bestellt. Eine gute Stunde also, um das Rätsel zu besprechen: die Koalition ein Trauerspiel, die Kanzlerin davon scheinbar unberührt – wie schafft Merkel das?

„Ja, wie schafft sie das?“

Michael Glos lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ja, wie schafft sie das?“, echot die Frage von ihm zurück. Dann richtet er sich auf und sagt: „Diese Frau ist mit wenigen anderen Menschen zu vergleichen.“ Glos, inzwischen auf den letzten Metern eines langen politischen Lebens, hat in Bonn als CSU-Landesgruppenchef schon den sagenumwobenen „weiß-blauen Stammtisch“ mit Journalisten abgehalten, als Kohl noch Kanzler war und Merkel dessen „Mädchen“.

Er versteht was von politischen Berserkern. „Was sie in der Lage ist auszuhalten, physisch und psychisch – da reichen nur ganz wenige heran.“ Diese Kampfkraft, dieser Willen, diese Intelligenz. Einen Hirnforscher habe sie sich als Hauptredner für ihren 50. Geburtstag gewünscht. „Einen Hirnforscher, verstehen Sie!“

Glos war an jenem Tag mehr fürs Bodenständige zuständig, damals im Juli 2004 im Adenauerhaus, der CDU-Parteizentrale in Berlin. Eine Flasche Jägermeister hat er ihr geschenkt. „,Sie ist die Jägermeisterin eitler Männer‘, habe ich gesagt“, erzählt Glos, ergraut in seinem Sessel sitzend. Über ihre Jagdlust hat er gesprochen und die Unvorsichtigkeit geltungssüchtiger Männer, deren Geweihe sie sammle.

Faszination und Fassungslosigkeit

Im Saal säßen noch einige, prophezeite Glos seinerzeit, die eines Tages auch noch an ihrer Trophäenwand hängen würden. „Da hat mancher noch gelacht.“ Edmund Stoiber zum Beispiel.

Glos ist kein Sensibelchen, nie gewesen. Die Härten des politischen Betriebs sind ihm nicht fremd. Und doch redet er von Merkel wie in einer Mischung aus ferner Faszination und Fassungslosigkeit – Fassungslosigkeit ob ihrer Knallhärte. Merkel, sagt Glos, habe alle ihre Lehrmeister übertroffen. Auch und gerade Kohl.

Uneitelkeit sei ihre Waffe. Sie denke in Prozessen und Abläufen. Und immer noch einen Schritt weiter. Wenn die FDP jetzt beschlösse, zur Lebensrettung aus der Koalition herauszugehen? „So, wie ich sie kenne, und ich kenne sie gut“, sagt Glos, „kalkuliert sie alle Möglichkeiten mit ein und hat einen Plan B.“ Und eine Idee davon, wie sie dann trotzdem Kanzlerin bleiben kann.

Die Jägermeisterin

Glos muss los, der Wagen wartet. Nur eines noch: Da habe es vor zehn Jahren mal so eine Untergrundoper gegeben, aufgeführt in einer aufgelassenen U-Bahn-Station in Berlin. „Angela – das Mädchen und die Macht“. Wenn es davon Aufzeichnungen gebe, die möge man sich noch mal anschauen. Mit der Oper sei alles gesagt, schon vor zehn Jahren.

Am Schluss habe sie Stoiber einen aufgesetzten Fangschuss gegeben. „Einen Fangschuss!“, sagt der Waidmann Glos. Da war sie wieder, die Jägermeisterin.

Die Jägermeisterin steht nun auf besagtem Marktplatz in Neheim und sieht gar nicht jagdlüstern aus. Sie tuschelt mit den Honoratioren, lacht und gibt Autogramme. Sie ist noch nicht dran. Wie bei einem Popkonzert müssen die Menschen auf dem Markt von Neheim erst die Vorgruppe abwarten. Norbert Röttgen kräht mit strapazierter Stimme Wahlkampfparolen von einer rot-grünen Schuldenregierung über den Platz.

Die Glucke Deutschlands

Dann kommt Merkel. „Ich sach ganz offen zu Ihnen: Da war nich nur eine Partei dran schuld“, seit Mitte der sechziger Jahre hätten sich alle in Deutschland verschuldet, alle. Es gibt einfaches Merkel-Mathe, damit jeder versteht, worum es geht. Früher bei Adenauer: 80 Millionen Deutsche, 2500 Millionen Menschen auf der Welt. Heute? 7500 Millionen weltweit, „und wir sind immer noch 80 Millionen!“ Oder China: Früher auf der Hannover-Messe zwei Dutzend Stände („zwei Dutzend, das sind 24, das kennt man ja meistens von Eiern“). Heute: 500!

Also ranhalten, Deutschland! China schläft nicht, die Welt schläft nicht, und da „müssen wa auch ma in der Lage sein, ne neue Hochspannungsleitung zu bauen und ooch mal n neuen Bahnhof zustande bringen unn nich immer nur sagen, was nich jeht.“

Merkels Sendung mit der Maus. Sie hudert, sie kümmert sich, sie erklärt. Sie redet mit ihren Kindern in einer Sprache, die Kinder verstehen. Sie ist die Glucke Deutschlands. Mutti sagen sie zu ihr, wahrscheinlich hat das Wort der CDU-Fraktionsvize Michael Fuchs erfunden.

Lausige Rednerin

Das meint das gleiche Phänomen. Aber Glucke trifft es noch besser. Sie zeigt ihren Küken, was zu tun ist: „Und wenn Se morgen jefragt werden: Wo warst’n gestern Abend? Dann hoffe ich, Sie haben den Mut zu sagen: Ich war da auf’m Platz und hab mir den Röttgen unn die Merkel anjeschaut.“ Beifall.

„Und dann werden die fragen: Hammse denn n bisschen mehr müde ausjesehen, oder n bisschen weniger müde ausjesehen, und was hatten se denn so an? Und dann, wenn das geklärt ist, dann hoffe ich, dass Sie auch weitersagen, was wir hier gesagt haben.“ Ende der Rede, Beifall.

Merkel sei eine lausige Rednerin, heißt es immer. Das stimmt auch. Sie hat keinen großen Wortschatz und liegt oft haarscharf neben dem, was sie eigentlich sagen will. Die Welt ist voller wunderlicher Merkelismen. Aber vielleicht muss man die Dinge anders betrachten. Vielleicht muss sie keinen Rednerpreis gewinnen. Sondern die Menschen. Vielleicht muss man sich überhaupt von der einen oder anderen lieb gewordenen Überzeugung trennen, wenn man sechs Gründe für das Phänomen Merkel finden will.

1. Angela Merkel nimmt sich nicht so wichtig.

Sie überschätzt sich und ihre Rolle nicht. Den Sternsingern hat sie im Jahr 2010 im Kanzleramt einmal über ihre Rolle gesagt: „In bestimmter Weise habe ich auch etwas zu sagen.“ Das hörte sich nach Understatement an und wurde auch so ausgelegt, war aber ihre volle Überzeugung.

[video:Merkel unter Druck - der umstrittene Kurs der Kanzlerin]

Sie kennt ihre Grenzen. Und räumt sie auch ein. Nach ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin saß sie morgens mit ihrem Mann am Frühstückstisch. „Glaubst du eigentlich wirklich, dass du die Rezepte für Deutschland hast?“, fragte er, und Merkel hielt diese Frage, jedenfalls unter Eheleuten, für absolut zulässig.

2. Sie kann Menschen in ihren Eigenschaften und Zwängen „lesen“.

Es war auf einem Flug zu Jean-Claude Juncker nach Luxemburg, schon eine Weile her, zu einer Zeit, als Juncker noch in den höchsten Tönen von Merkel sprach. Und es war eine ganz einfache Frage, die eine erstaunliche Antwort zutage förderte. Warum machen Sie das, warum tun Sie sich das an?

Daraufhin erzählte sie davon, welchen Reiz es für sie habe, politische Personen in ihren individuellen Eigenschaften und den strukturellen Zwängen zu betrachten und sich zu überlegen: Wie bekomme ich ihn oder sie unter Berücksichtigung der Umstände und persönlichen Eigenschaften so weit wie möglich dorthin, wo ich die Person in einem politischen Prozess haben möchte? Das sei für sie der Reiz der Politik, wenn dieser Reiz eines Tages nicht mehr da sei, dann müsse sie aufhören.

Sie scannt ihre Gegenüber und versetzt sich in sie. Wenn es sein muss, greift sie zu technischen Hilfsmitteln. Als ihr Mann vor Jahren einen DVD-Player anschaffen wollte und sie gerade mit einem hyperaktiven Franzosen ihre liebe Not hatte, bat sie ihn, ein paar DVDs von Louis de Funès mitzubringen. Irgendwann hat sie dann auch Nicolas Sarkozy erst verstanden und dann im Griff gehabt.

Das Spiel ausreizen, und je größer das Brett, je höher der Einsatz, je gerissener die Kontrahenten, desto größer der Reiz. Putin zum Beispiel – bei aller persönlichen Distanz, die auch auf ihre Russlanderfahrung in der DDR zurückgeht – hat sie immer als einen der reizvollsten Kontrahenten empfunden. Ein bisschen wie Klaus Maria Brandauer als Largo beim Spiel um die Welt mit James Bond in „Sag niemals nie“.

Merkel liebt dieses Spiel, und sie verliert nur sehr ungern. In geselligen Momenten erzählt sie gerne die Geschichte von ihrer ersten großen Umweltkonferenz. Sie als Umweltministerin der Bundesrepublik war in eine Art pendeldiplomatische Rolle zwischen den USA auf der einen und Indien und China auf der anderen Seite geraten.

Sie vermittelte und vermittelte und verbrachte die Nacht pendelnd zwischen den Konferenzsälen der Delegationen, bis ein Ergebnis herauskam, das sie für das maximal Machbare hielt. Und dann kam der indische Kollege des Weges, bedankte sich bei ihr für ihre Mühen und sagte lächelnd: „We never reached the bottom line.“ Sie haben uns nicht bis an den Rand geführt. Diese Lehre hat sie mitgenommen.

3. Sie macht sich nichts aus dem Gepränge der Macht.

Angela Merkel mag die Essenz der Macht, die schiere Macht. Die verschafft ihr Satisfaktion, der Rest ist unwichtig. Alles, was an Gepränge damit einhergeht, das ist ihr „nüscht“, wie sie selbst formulieren würde. Sie ist die Gegenfigur zu einem Christian Wulff, den die Lust an der glamourösen Seite der Macht hat scheitern lassen. Merkel wird nie ein Opfer dieser Versuchung werden. Für sie ist das keine Versuchung.

Einmal hat sie beim „Goldenen Lenkrad“, einer PS-Protzveranstaltung mit allen deutschen Autobossen, zum Entsetzen der Winterkörner gesagt, sie fahre am liebsten mit ihrem alten Golf auf die Datsche in Hohenwalde. Das benzintriefende schwarze Ungetüm auf der Bühne ließ sie völlig kalt.

Betreiber besserer italienischer Lokale in Berlin bereiten sich auf den Besuch der Kanzlerin vor, indem sie entgegen ihrer sonstigen Küchenplanung genügend Hackfleisch vorrätig halten. Trüffel-Spaghetti, Hummer-Papardelle? Bolognese bestellt sie, jedes Mal. Wenn sie selbst einlädt zum Gespräch in ihrem Speisezimmer im Kanzleramt, wird Kartoffelsuppe aufgetischt.

4. Sie schafft Loyalitäten guter Leute.

Es wird oft gesagt, Merkel lasse keine guten Leute neben sich groß werden und sei dafür verantwortlich, dass die besten resigniert die CDU verlassen hätten. Diese Beobachtung ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist, dass Merkel keine potenziellen Kontrahenten duldet und sie über kurz oder lang auf die eine oder andere Weise beseitigt.

Der eine, Wulff, wird kurzzeitig Bundespräsident, der andere, Merz, nimmt eine Karriere als erfolgreicher Rechtsanwalt in Wirtschaftsfragen wieder auf, der dritte, Koch, leitet inzwischen einen großen Baukonzern. Es gibt noch viel mehr.

Man hält sich aber in Partei und Kanzleramt nicht so lange und so sicher, wenn man sich nur mit willfährigen, aber einfältigen Schranzen umgibt. Der engste Zirkel um die Kanzlerin besteht aus Leuten von einigem politischen Geschick. Und wer mit dem einen oder anderen aus diesem Kreis redet, der merkt, dass diese Chefin imstande ist, eine Faszination auszuüben, die zu einer ungeheuren Loyalität und Aufopferungsbereitschaft führt.

5. Sie ist kaum aus der Reserve zu locken.

Ihre Miene hat Merkel nicht immer im Griff. Ihre Grimassen sind oft Ausdruck ihrer Stimmung. Ihre Worte und ihr Handeln aber hat sie immer unter Kontrolle. Engste Mitarbeiter sind daran schon verrückt geworden. Frau Merkel, wir müssen da was machen. Jetzt nicht, sagt sie dann immer. „Kommt schon noch.“

Als Gerhard Schröder in der legendären Elefantenrunde nach der Bundestagswahl 2005 seine Rumpelstilziade vor aller Augen vollzog, da fühlte sich Guido Westerwelle bemüßigt, den Kanzler außer Rand und Band zu kommentieren. Und gar nicht so schlecht.

Merkel aber saß da, ertrug Schröders Unverschämtheiten, stierte nur vor sich hin, wie paralysiert. Und am nächsten Morgen ließ sie sich als Vorsitzende der Unionsfraktion bestätigen, ein Schritt, ohne den sie vermutlich nicht Kanzlerin einer Großen Koalition mit Schröders SPD geworden wäre. So paralysiert war sie dann doch nicht.

In Sotschi, auf seiner Sommerresidenz, legte Wladimir Putin, ihr besonderer Freund, ihr einmal einen großen schwarzen Labrador vor laufenden Kameras zu Füßen. Merkel hat Angst vor Hunden, dass das auch der KGB wusste, darf man annehmen. Sie ließ sich nichts anmerken.

Als ihr Vizekanzler Philipp Rösler sie an jenem denkwürdigen Wochenende im Februar nach Christian Wulffs Rücktritt mit der FDP-Unterstützung für Joachim Gauck aufs Kreuz legte, da hat sie Rösler gegenüber wenig zu erkennen gegeben.
Aber fest steht seither, dass Rösler bei ihr nicht mehr ankommen muss. Er hat sich aus dem Spiel gebracht. Nicht weil Rösler Gauck am Ende unterstützt hat, sondern weil er in ihren Augen falsch gespielt und sich feige verhalten hatte.

6. Sie ist ungemein schnell im Kopf.

Merkel sieht immer ein wenig verschlafen aus, etwas phlegmatisch. Das machen die außen hängenden Augenlider, die ihr bei den Karikaturisten ein unverwechselbares Antlitz eingebracht haben.
Aber das Hängelid täuscht. Merkel ist ungefähr so phlegmatisch wie eine Schnappschildkröte. Die liegt scheinbar reglos im Sumpf und beißt blitzschnell zu.

Unterhaltungen mit ihr können zu Schachpartien werden. Einmal, nach einem langen Gespräch, wollte ich zum Abschied etwas plaudern. Der Fotograf brauchte noch Bilder. Am Morgen habe die Tochter mitbekommen, dass ich zu ihr ins Kanzleramt gehen würde, und dann gefragt: „Magst du die Merkel eigentlich?“

„Und“, fragte Merkel. „Was haben Sie gesagt?“

Verdammt. Voll in der Falle.

„Mögen, das ist nicht die Kategorie bei einer Kanzlerin, habe ich gesagt.“

Merkel: „Das haben Sie nicht zu einer Zehnjährigen gesagt.“

Stimmt. Falle zugeschnappt.

Merkel ein gutes Jahr vor der Bundestagswahl. Deutschland hat einen Bundespräsidenten, den sie nie wollte. Sie hat die Schicksalswahlen von NRW ebenso hinter sich gebracht wie im Saarland und in Schleswig-Holstein, die ihre CDU insgesamt weiter geschwächt haben. François Hollande heißt der neue Staatspräsident von Frankreich. Den wollte sie auch nie.

Alles nicht optimal für die Kanzlerin. Die Rezession frisst sich von Griechenland über Spanien, Italien und Frankreich Richtung Deutschland. Ob sie alles richtig gemacht hat oder alles falsch in der Eurokrise, keiner kann das verifizieren oder falsifizieren.

Aber wenn ihre Griechenlandpolitik am Ende schuld gewesen sein sollte, dass der Niedergang zur Unzeit, nämlich im Wahljahr 2013, Deutschland erfasst, so wird es vermutlich eher dazu führen, dass die Deutschen aufs Bewährte setzen, statt einen neuen Kanzler auszuprobieren.

Politische Gegner dehydriert

Merkel hat in sieben Jahren Kanzlerschaft den politischen Gegner dehydriert. Wie Dörrpflaumen sahen Grüne und SPD phasenweise aus, Dörrpflaumen, denen Merkel alle lebenswichtigen Themen wegregiert hat. Das Land ist politisch unter Merkel auch ausgedörrt.

Und jetzt? Nach dem Debakel von Nordrhein-Westfalen? Kein mehrheitsfähiger Koalitionspartner mehr für Merkel in Sicht, wie Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin im Cicero-Interview frohlocken?

Man sollte Vorsicht walten lassen. Düsseldorf ist nicht Berlin, die FDP nicht tot, und vor allem: Merkel ist nicht Röttgen  und nicht in der Verfassung eines Helmut Kohl ein Jahr vor dessen Niederlage gegen Schröder. Damals machte sich das Gefühl übermächtig breit: Der muss weg. Von dieser Wechselstimmung 1997 ist Deutschland 2012 weit entfernt.

Michael Frowin verfolgt das Faszinosum Merkel immer noch, nach all den Jahren. Er hat das Libretto damals 2002 für die Neuköllner Oper geschrieben, die Michael Glos noch so gut in Erinnerung hat. Die Oper hieß „Angela“ und hatte prophetische Qualitäten.

Sie zeigt eine Frau, die auf dem Weg nach oben alles beiseiteräumt, was ihr in die Quere kommt. Vor allem vermeintlich starke Männer. „Sie kam aus der Sauna und ging in den Westen.“ So geht es los. Und endet mit einem vergeblichen Fangschussversuch bei Stoiber und ihren letzten Worten: „Mein nächster Pflaumenkuchen wird mir gelingen!“ Was dann ja auch so war. Stoiber verlor die Wahl 2002, sie gewann 2005.

„Was will sie eigentlich?“ 

„Interessant, oder?“ Frowin hat gerade Drehpause in Halle an der Saale, zehn Jahre später. Für den MDR spielt er viermal im Jahr „Kanzleramt Pforte D“ ein. Er ist Merkels Chauffeur in der Satire. „Im Grunde gilt die Oper heute erst recht. Man müsste sie bloß um zwei, drei Szenen erweitern.“

Damals sei man auf der Suche nach einem Stoff und einer Figur, die für eine politische Oper trage, sehr schnell bei Merkel gelandet. So viele dramatische Momente, dazu die Biografie. Schon damals habe man gespürt, was für ein ungeheurer Machtwille in dieser Frau sei. „Und dann dieser irre Widerspruch zwischen ihrem Wirken und ihrem Bild in der Öffentlichkeit! Diese unglaublichen Bilder von Kohls Mädchen und zugleich diese Kaltblütigkeit!“

„Wir lagen gut“, sagt Frowin. Bis heute wüsste er nicht, wer einen auch nur annähernd ähnlich starken Stoff für ein musikalisches Drama hergeben würde. Und noch etwas weiß er nicht, nach all den Jahren immer noch nicht. Etwas, das ihn brennend interessieren würde.

„Was will sie eigentlich?“ 

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