Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Immer mehr Altenheimbewohner, kaum strukturelle Änderungen im Pflegesystem: Bahrs Reform geht an der Realität vorbei

Zu Besuch im Altenheim - „Der Tod ist schön. Jetzt weiß ich das.“

Mehr Alte, mehr Kranke, mehr Demente. Deutschland bereitet sich auf den demographischen Wandel vor. Zu Besuch bei den Menschen, die wissen, wie es ist, alt zu sein. Eine Reportage aus einer Pflegeeinrichtung

„Das war so schön. Das war soo schön.“ Wenn Edith Wiese vom Sterben spricht, dann hat man keine Angst mehr vorm Tod. Es ist ein paar Monate her, da schien es für die 82-jährige Berlinerin so weit zu sein. Sie hatte sich den Norovirus eingefangen. Zuerst dachte ich „naja, du bist ganz schön dick. Vielleicht werde ich durch den Durchfall ja noch zur Elfe“.

Wenn Frau Wiese lacht, wackelt ihr Doppelkinn. Sie trank und aß nichts mehr in diesen Tagen und lag in ihrem eigenen Bett, in ihrer eigenen Wohnung in der Kastanienallee im Prenzlauer Berg. Frau Wiese war bereit für den Tod. „Auf einmal hatte ich abgeschlossen. Ich dachte, das kann immer so bleiben.“ Dann denkt sie nach. „Ich kann Ihnen heute sagen: Der Tod ist schön. Jetzt weiß ich, dass der schön ist.“

Edith Wiese ist keine Elfe geworden. Plötzlich stand ihre Nachbarin in der Wohnung und ranzte sie an: „Was machst du denn da?“ Sie rief den Notarzt. Als der fragte, ob Frau Wiese ins Krankenhaus möchte oder lieber zu Hause bleiben wolle, mischte sich wieder die Nachbarin ein: „Das sehen Sie doch. Die muss ins Krankenhaus!“

„Wär die doch bloß nicht rübergekommen“, sagt Edith Wiese heute. „Dann wär ich schon längst da in den Wolken oben.“ Nach einem Sturz und einem Oberschenkelhalsbruch wird sie nun für einige Wochen in der Kurzzeitpflege des Elisabeth-Seniorenzentrums Dr. Harnisch-Haus in Berlin-Friedrichshain versorgt. Nach der Reha will sie so schnell wie möglich wieder in ihr eigenes Zuhause.

Wie Frau Wiese fürchtet sich auch Hans Bartels* nicht vor dem Tod. „Warum soll ich Angst haben? Ich merk das doch nicht mehr. Bin auf einmal weg.“ Und da oben warte auch keiner mehr. „Ich habe den Mann noch nicht gesehen, den Gott. Sie ja auch nicht.“ Etwas Schlimmeres als den Tod seiner Frau kann sich Hans Bartels sowieso nicht mehr vorstellen. „Ich war 56 Jahre verheiratet und 58 Jahre zusammen mit der Frau.“ Bartels blickt sein Gegenüber an und verstummt. Vor zweieinhalb Jahren ist sie gestorben. „Einer geht ja immer zuerst. Und ich muss gerade am längsten bleiben.“

Edith Wiese und Hans Bartels haben keine besonderen Probleme. Sie sind einsam, ihre Liebsten sterben, ihre Gesundheit spielt nicht mehr mit. Sie sind alt. Viele Menschen in Deutschland haben damit zu kämpfen. Und es werden immer mehr. Im Jahr 2060 werden von den 80 Millionen Menschen in Deutschland noch etwa 65 bis 70 Millionen übrig sein, besagen Schätzungen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2009. Während heute etwa 20 Prozent von ihnen 65 oder älter sind, wird dann jeder Dritte 65 und jeder Siebte sogar mindestens 80 Jahre sein. Diese demographische Entwicklung stellt Staat, Versicherungen und Pflegedienstleister vor große Herausforderungen: Im vergangenen Jahrzehnt nahm die Zahl der Bewohner von Pflegeheimen um rund 28 Prozent zu.

Die Kostenexplosion, die damit für die soziale Pflegeversicherung einhergeht, versucht die schwarz-gelbe Koalition jetzt mit einer Pflegereform in Schach zu halten. Während im Jahr 2000 noch rund 15,9 Milliarden Euro ausgegeben wurden, sind es 2010 bereits rund 20,4 Milliarden gewesen. Die Pläne des Gesundheitsministers Daniel Bahr über die Erhöhung der Pflegebeiträge im Jahr 2013 um 0,1 Prozent auf 2,05 Prozent, stoßen bei Opposition und Sozialverbänden auf starke Kritik. Mit den sich daraus ergebenden 1,1 Milliarden Euro will Bahr vor allem die steigenden Bedürfnisse der vielen Demenzkranken und die Betreuung in den deutschen Pflegeheimen finanzieren. Viel zu wenig Geld für ein riesiges Problem, zu wenig strukturelle Änderung im deutschen Pflegesystem, wird bemängelt.

Auch Hans Bartels hat sich für eine Pflegeeinrichtung entschieden. Anders als Edith Wiese wird er für den Rest seines Lebens in einer solchen Vollversorgung leben. 1994 hatte Bartels seinen ersten Schlaganfall, da war er 71 Jahre alt. Heute ist er 88, hatte gerade den dritten Schlaganfall – „Ich bin immer vom Stuhl gerutscht“ – und sitzt im Rollstuhl. Herr Bartels weiß, was ihn erwartet. Seine Frau lebte die letzten Jahre vor ihrem Tod in einem Heim im Berliner Osten, nahe der Wuhlheide, wo auch er in einigen Monaten hinziehen wird. Obwohl er sich an Szenen erinnert, die ihn heute noch wütend machen: Wie seine Frau in viel zu dünnen Kleidern am offenen Fenster saß oder daran, wie die Pfleger sie „einfach ins Bett gepackt“ haben. „Da hat ihr keiner das lange Hemd hinten über den Rücken gezogen.“ Er selber wollte nie ins Heim – aber: „Was soll ich denn machen? Ich bin alleine.“

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Pflegeheime auf die individuellen Wünsche der Heimbewohner eingehen.

Der gelernte Autoschlosser muss jetzt seine Wohnung kündigen. Das macht ihn traurig. „Ich hatte so schöne Möbel. Aber im Heim ist kein Platz dafür.“ Es ist schwer, das alte Leben loszulassen. Heute, da auch die Alten mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen in die Heime kommen, stehen die Pfleger vor einer großen Herausforderung. „Wir müssen individueller werden“, sagt Andrea Weller, Pflegedienstleiterin der Kurzzeitpflege im Elisabeth-Seniorenzentrum. Da kämen Homosexuelle, die seit Jahren ein freies Leben führen und sich jetzt nicht plötzlich wieder an spießige Vorurteile gewöhnen wollen. Heute fielen viele der Tabus weg, die es früher in den Heimen gegeben habe, sagt Weller zufrieden. Neben typischen Aktivitäten wie Gymnastik oder Bingo werde heute Bowlen mit der Computerspiel-Konsole Wii angeboten.

Jenen, die sich noch selbstständig und mobil bewegen können, wie Herr Bartels mit seinem elektrischen Rollstuhl, tut es gut, wenn sie weiterhin die gleichen Wege gehen, ihren Kaffee beim gleichen Bäcker kaufen und zum alten Friseur gehen. Hans Bartels rollt dann vorbei an besetzten Friedrichshainer Häusern und Kindergärten. Er fährt die alten Strecken ab und besucht die Straße, in der er in den 30er Jahren als Kind gespielt hat.

Können sie nicht in ihrer eigenen Umgebung bleiben, ziehen die Menschen bevorzugt in die Nähe ihrer Angehörigen. So kommt es, dass das Seniorenzentrum am Prenzlauer Berg zunehmend von schwäbischen Zugewanderten bewohnt wird, die im Weinbergspark um die Ecke ihre Latte-Macchiato-trinkende Schwiegertochter mit dem Enkelkind begleiten.

Trotzdem wollen die wenigsten Menschen eines Tages ins Heim. Das weiß auch Andrea Weller. Die meisten ihrer Bewohner kommen nach einem Krankenhausaufenthalt zu ihr, weil es nicht mehr anders geht. Auch Edith Wiese hat ihren Kindern immer gesagt: „Ihr braucht mich nicht zu pflegen.“ Sie war sich sicher, dass sie wie Vater und Mutter eines Tages eines kurzen Herztodes sterben werde. „Aber jetzt bin ich immer noch da.“ Dabei hat Frau Wiese Glück – und das weiß sie auch. Denn genau wie Hans Bartels lässt sie ihr Geist nicht im Stich. Einmal, da war sie drei Tage lang bei den Demenzkranken untergebracht. Nach zwei Tagen wusste sie: „Wenn sie dich nicht heute hier rausholen, dann kriegst du was am Kopp.“

In Zukunft muss fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann damit rechnen, eines Tages dement zu werden, schätzt etwa der Barmer-GEK-Pflegereport. Und wer dement wird, ist fast automatisch irgendwann auf Pflege angewiesen. Nur zehn Prozent der Dementen, die im Jahr 2009 starben, waren nicht pflegebedürftig.

Frau Wiese wird wieder nach Hause in die Kastanienallee gehen. „Die sollen mich ja nicht hier einsperren“, sagt sie im Scherz, denn sie weiß, dass das nicht das Ziel der Pflegeeinrichtung ist. Andrea Weller bestätigt das: „Die Bewohner haben hier einen Vertrag, den sie jederzeit kündigen können.“

Hans Bartels dagegen hat eigentlich keine Wahl. Aber er hat seine Kinder, die sich um ihn kümmern, auch wenn er im Heim ist.

Bevor Bartels in sein neues Zuhause zieht, wird er mit seinem Sohn zum Angeln fahren. „Hoch nach Usedom, nach Wolgast. Da mieten wir uns ein Boot und fahren rüber nach Rügen.“ Sie wollen Hechte fangen. Vielleicht auch Heilbutt. „Mein größter Fisch war 1 Meter 20 lang, 28 Pfund.“ Herr Bartels wird zwar im Seniorenzentrum leben, seine Mitgliedschaft im Anglerklub aber wird er behalten – vorerst. Man weiß ja nie, was noch kommt.

*Name geändert

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.