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(picture alliance) Er kritisiert den Euro und meint Europa – Thilo Sarrazin

Sarrazins Eurokalypse - An der europäischen Wirklichkeit vorbei

Die Euro-Kritiker bestimmen mehr und mehr die europäischen Krisendiskussionen. Sie kritisieren den Euro und meinen Europa. Sarrazin könnte ihr neuer Star werden. Er liefert Antworten von gestern auf Fragen von heute

Thilo Sarrazin hat es mal wieder geschafft. Zumindest auf diverse Titelseiten politischer Magazine. Und bei Günther Jauch zur besten Sendezeit durfte er sich gar mit Peer Steinbrück duellieren. Die Sarrazin PR-Maschinerie, sie läuft nach bekanntem Muster. Auf die expansive Werbestrategie für sein neuestes Werk „Europa braucht den Euro nicht“ angesprochen, kontert Sarrazin bei seiner Buchpräsentation im Berliner Nobelhotel Adlon: „Seit wann sind Sachlichkeit und PR Widersprüche?“

Keine Frage, der als spröde geltende Sarrazin hat Humor. Er besitzt einen durchaus ironischen Frohsinn, der nur leider immer dann auszusetzen droht, wenn er sich mit dem Thema „Integration“ befasst. Eine derartige Humorlosigkeit bewies er in seinem ersten Bestseller „Deutschland schafft sich ab“, in dessen Folge die hiesige Integrationsdebatte um Jahre zurückgeworfen wurde, weil Sarrazin mit Ressentiments statt mit Argumenten hantierte. Und auch sein neuestes Werk ist kein konstruktiver Beitrag im Hinblick auf ein fortschreitendes Gelingen einer europäischen Integration. [gallery:Europäische Einigung]

Bleibt zu hoffen, für Europa, dass der Sarrazin-Effekt diesmal ausbleibt, dass – wie im Falle der nationalen Integrationsdebatte geschehen – sich nicht am Ende der Empörungswelle unversöhnliche Gegensätze gegenüberstehen. Weil nur noch über Unterschiede, über vermeintlich kollektive Zuschreibungen bestimmter Ethnien gesprochen wird, statt über das Gemeinsame, das bereits Funktionierende. Dass die Diskussion nicht allein auf Verdacht, Vermutung und Vorverurteilungen Rückgriff nimmt. Doch wenn Sarrazin in seinem Europapamphlet dem Euro mit allerlei Statistik und Zahlenspielerei zu Leibe rückt, droht der europäischen Integrationsdebatte ein ähnliches Schicksal.

 

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Es droht, dass nicht mehr konstruktiv, um eine sinnvolle Konstruktion der europäischen Union gerungen wird, dass sich der Konflikt nicht systemisch, sondern personifizierend an Gruppen festzumachen beginnt. Das passiert immer dann, wenn Sarrazin in seinem Buch den Schulden- und Finanzkonflikt mit Kollektivzuschreibungen verbindet, wenn er in wechselnden Formulierungen „Kultur“ und „Mentalität“ der Südeuropäer für ihre unsoliden Staatshaushalte verantwortlich macht, wenn er zwischen „germanischen“ und „romanischen“ Finanzpolitiken unterscheidet. So, dass zwischen den Zeilen die vermeintliche Erkenntnis steht, dass der achtsam wirtschaftende Mitteleuropäer einer zügellosen Laissez-faire-Peripherie gegenübersteht.

Sarrazins Methode ist der kalkulierte und inszenierte Tabubruch. Und weil sich Europa und vor allem finanzpolitische Eurobücher in der Regel schlecht verkaufen, reicherte er das Thema mit ein bisschen Holocaust an. Gesamteuropäische Staatsanleihen seien „getrieben von jenem sehr deutschen Reflex, wonach die Buße für Holocaust und Weltkrieg erst endgültig getan ist, wenn wir alle unsere Belange, auch unser Geld, in europäische Hände gelegt haben.“ Die EU als Büßerbank für Deutschland? Wer so argumentiert, hat Europa nicht verstanden.

Die Argumentation, die Deutschen hätte das schlechte Gewissen blindlings in den ökonomischen Wahnsinn namens EU geführt, ist schlicht falsch und vergisst, dass Deutschland – gerade in der Krise – immer der große Profiteur der europäischen Integration war und ist. Deutschland hat über Europa seine nationale Souveränität wiedererlangt und ist wie kein anderes Land zu Wohlstand und Freiheit gekommen. Europa war nie Strafe, sondern eine Chance. Insofern war Europa immer von deutschem Interesse und nie eine altruistische Veranstaltung.

Sarrazin verwechselt Zwang mit dem sensiblen Bewusstsein einer besonderen Verantwortung, begründet in einer historischen Zäsur, die sich Auschwitz nennt. Nicht die Buße, sondern das Nie-Wieder-Krieg, die Vernunft (und die USA), hat die europäischen Bevölkerungen in das Integrationsprojekt geführt. Sarrazins Mär vom büßenden Deutschen bedient die altbekannte antieuropäische Stammtischrethorik: Deutschland habe genug gezahlt. Der Euro sei „Versailles ohne Krieg“. Es ist Sarrazins Version einer Schlussstrich-Forderung. Der unerhörte Versuch der nationalen Entlastung und Schuldabwehr in einer Zeit, da längst niemand mehr ernsthaft von einer Kollektivschuld spricht. Sollte es Sarrazin tatsächlich darum gehen, die Deutschen von ihrer historischen Verantwortung oder ihrem Scham entlasten zu wollen – und diese Lesart lässt er zu – bleibt er weitere Erklärungen schuldig. [gallery:Eine kleine Geschichte des Euro]

In solchen Formulierungen meldet er sich zurück: Der Stammtisch-Sarrazin. Wieder glaubt er auszusprechen, was ohnehin schon alle denken. So viel zur Methodik und zu beigemengten Provokationen. Doch bleiben wir beim Inhalt: Die Eurokalypse, das Heraufbeschwören europäischer Untergangsszenarien, ist mittlerweile Mainstream unter liberal-konservativen Euro-Skeptikern (ob Henkel, Gauweiler oder Schäffler). Sarrazin bricht kein Tabu. Er reiht sich vielmehr ein. Mit der Etikettierung „Tabubruch“ wird lediglich eine Art Fallhöhe konstruiert, die einzig der Steigerung der Aufmerksamkeit dient. Waren es gestern noch vor allem konservative Nationalstaatsgläubige, die vor einer fortschreitenden europäischen Einigung, dem „bürokratischen Monstrum Brüssel“, warnten, sind es heute vor allem Ökonomen, die an vorderster Kritik-Front argumentieren. Über den Umweg Euro erklären sie die Integration für gescheitert. Doch: Sie reden vom Euro und meinen Europa.

Thilo Sarrazin zeigt mit seinem Europabuch exemplarisch, wie sich über vermeintliche Kritik am Euro das europäische Projekt namens EU in seiner Gänze in Frage stellen lässt. Seine Totschlagrethorik: Er beginnt Sätze, die mit „das zeigen die Zahlen“ enden. Und auf einer Pressekonferenz verriet Sarrazin dann: „Um Zahlen zu beurteilen, muss man nicht an Orte fahren“. Es sind solche Sätze, die tief blicken lassen. Sarrazins vorrangig ökonomischer Blick (die teils rein fiskalische Perspektive) auf eine komplexe Realität, in dessen Verlauf die Krise auf die Schuldenfrage verengt wird, lässt den ideellen Charakter der EU vollkommen außer acht. Sarrazin unterschlägt, dass die Schuldenkrise ihre Ursachen in einer Banken- und Finanzkrise hat. Diese Sicht bestimmt den Trend. Doch Europa ist mehr als ein Zahlenspiel.

„Kann es sein, dass das, was wirtschaftlich falsch ist, politisch richtig ist?“ Für Sarrazin eine rhetorische Frage, die er mit einem klaren „Nein“ beantwortet. Hier liegt der Konstruktionsfehler im Sarrazin‘schen Denken. Denn: Natürlich kann es sein. Das ist im Kern Politik. Politisches Handeln. Die freie Entscheidung, sich nicht dem Markt, sondern dem Menschen mit all seiner Fehlerhaftigkeit zu unterwerfen. Martin Schulz, der Präsident des europäischen Parlaments, stellt im neuen Cicero fest: „Eine marktgerechte Demokratie gibt es nicht.“ Sie kann auch nicht das Ziel sein.

Sarrazins Euro-Kritik geht an der Wirklichkeit vorbei. Dabei ist der Titel dann auch das gelungenste an seinem Buch. „Europa braucht den Euro nicht“ – eine Antwort auf das Merkel’sche Mantra, die Antithese zu „Scheitert der Euro, scheitert Europa“. Hier hat Sarrazin ausnahmsweise Recht, wenn er diesen Ausspruch zu relativieren sucht. Er hat Recht, wenn er sagt, man dürfe das Schicksal Europas nicht an der Existenz einer gemeinsamen Währung festmachen. Hier trifft er in der Tat einen wichtigen Punkt. Denn: die politische Überhöhung des Euros hat nicht nur die politischen Eliten unter enormen Handlungsdruck gesetzt, sondern das Schicksal der EU unnötigerweise mit dem Schicksal des Euro verknüpft. [gallery:Der Vertrag von Lissabon]

Es ist nach wie vor ein großer Fehler, den Euro quasi in Geißelhaft für das gesamte europäische Projekt zu nehmen. Europa ist viel mehr als eine gemeinsame Währung. Doch die Konsequenz, die Sarrazin aus der richtigen Analyse ableitet, wäre fatal. Denn er will nicht mehr, sondern weniger Europa. Er nennt den richtigen Konstruktionsfehler, die Schaffung einer Währungsunion ohne eine politische Union. Doch zieht er die falschen Schlüsse daraus. Und an diesem Punkt werden die Eurokritiker eben doch zu Europakritikern: immer dann, wenn sie der Eurokrise mit Entflechtung begegnen, mit dem Abbau integrativer Errungenschaften. In Sarrazins Buch wird deutlich: Sarrazin will kein politisches Europa.

Laut Sarrazin müsste die Währung der Politik „organisch“ folgen und nicht umgekehrt. Ein schönes Ideal, das im Kern aber an der praktischen Umsetzung der europäischen Integration vorbeigeht. Immer schon musste die Wirtschaft vorangehen, mussten über den Wohlstand ökonomische, politische Realitäten geschaffen werden. Die EU begann einst mit der Montanunion, einer Wirtschaftsgemeinschaft, die die Schlüsselindustrien der Gründerstaaten miteinander verflochten hat. Die europäischen Gründerväter dachten anders. Der genau wie Sarrazin als Technokrat und Pragmatiker verschrieene Ideengeber Jean Monnet war zu sehr Realist, als er nicht die Notwendigkeit funktionierenden Handelns, den Sachzwang, vor die politische Idee stellte. Er war Funktionalist, Anhänger einer sektoralen Integration. Eine Integration, die ganz pragmatisch auf spill over, statt auf normatives Handeln setzte. Die Gründerväter der EU beziehungsweiseder EWG – von Monet bis Adenauer – glaubten, von oben auferlegte europäische Fakten würden letztendlich den Sinn für eine europäische politische Identität erzeugen. Aus ökonomischen Sachzwängen sollte eine politische Wirklichkeit entstehen.

Insofern bleibt Sarrazins Euro-Kritik theoretisch. Sarrazin übersieht die bereits geschaffenen politischen Realitäten, wenn er behauptet, die Annahme der Gründerväter, Sachzwänge würden organisch zu einer politischen Union führen, sei nun endgültig gescheitert. Er übersieht und vor allem unterschätzt die gerade ablaufenden Prozesse. Die EU ist längst auf dem Weg zu einer gemeinsamen Finanzpolitik, über die EZB findet bereits die Vergemeinschaftung von Schulden (Eurobonds) statt. Diese Prozesse passieren, sie brauchen nur mehr demokratische Kontrolle, so dass Eurobonds letztlich Teil einer Wirtschafts- und Finanzregierung werden. Doch Euro-Kritiker wie Sarrazin bemängeln das politische Voranschreiten im Ansatz, statt den Prozess kritisch zu begleiten.

Ihre Kritik zielt im Kern auf die europäische Idee. Daher bleiben die Vorschläge Sarrazins und der Eurokritiker kontraproduktiv und rückwärtsgewandt. Ohne die Behebung des von Sarrazin richtig erkannten Konstruktionsfehlers hat die finanz- und wirtschaftspolitische Integration, hat der Euro in der Tat keine Zukunft. Doch das heißt nicht, dass wir das europapolitische Rad jetzt zurückdrehen, im Gegenteil: Der europäische Integrationsprozess bedeutet die permanente OP am offenen Herzen! Ein riskantes Unterfangen, das sich am Ende immer auch um die Frage von Krieg und Frieden dreht. Und deshalb, so argumentiert Kurt Biedenkopf völlig zu recht, sei die Frage nicht ob, sondern wie schnell wir die notwendige Übertragung von nationaler Souveränität auf europäischer Ebene vollziehen.

Mehr Europa will Sarrazin, wollen die selbst ernannten Eurokritiker nicht. Doch was wollen sie? Bei Sarrazin wird vor allem deutlich, was er nicht will: Transferunion, finanzpolitische Solidarität, keine weitere Übertragung nationalstaatlicher Souveränität. Alles andere erahnen wir. Er spricht von einem Europa der Vaterländer. Heißt im Kern: Zurück zum Nationalstaat, zu rein nationalstaatlichen Souveränitäten. Einen europäischen Bundesstaat lehnt er ab. In letzter Konsequenz hieße dies faktisch: Wir verzichteten auf die Kommission, auf das europäische Parlament, auf den Europäischen Gerichtshof. Wir müssten also die vergemeinschafteten europäischen Institutionen, also das Alleinstellungsmerkmal der EU – die Supranationalität – , das, was das europäische Projekt von allen anderen internationalen Organisationen unterscheidet, zurückfahren. [gallery:EU-WG]

Vergessen wir nicht: Europa steckt in einer Rezession. In der Krise wird sich zeigen, wie solidarisch es wirklich ist. Griechenlands Krise ist der Lackmustest für Europa. Wer jetzt Griechenland über die Eurofrage die Solidarität aufkündigt, sich gar zu lässlichen Nord-Süd-Gebilden hinreißen lässt, der kündigt Europa. Zu einem solidarischen Europa gehört eben auch, dass Deutschland als wirtschaftlich starkes Exportland nicht auf Dauer in ein wirtschaftlich schwaches Land exportieren kann, ohne es früher oder später wirtschaftlich und finanziell bei seinen Anstrengungen zu unterstützen.

Und eigentlich müssen wir Sarrazin dankbar sein, dafür, dass er und all die anderen Eurokritiker deutlich machen, dass wir uns noch mehr anstrengen müssen, Europa zu verstehen, zu vermitteln, zu erklären. Weil er zeigt, dass es nicht selbstverständlich ist, europäisch zu denken. Fest steht: In einer globalen Welt brauchen wir Europa. Nicht die Krise gefährdet die europäische Idee, sondern die Art und Weise, wie damit umgegangen wird. Europa bleibt eine schöne Vision, wenn die Bevölkerungen zunehmend euroskeptischer werden. Die EU ist zum Teil selbst Schuld, ist sie doch lange genug an seiner Bevölkerung vorbeigewachsen. Sorgen wir also dafür, Europa an den Sarrazins vorbei zurück in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Sorgen wir dafür, dass Sarrazin am Ende nicht Recht behält.

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