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Andreas Pizsa/Flickr

Demokratie - Warum wir den Neid brauchen

Der Neid hat keinen guten Ruf. Er schmeckt bitter, zersetzt die Seele, macht misstrauisch und klein. Dabei ist er ein Bruder der Demokratie: Ohne Neid lässt sich kaum eine soziale Bewegung denken. Ein Beitrag in Kooperation mit dem Tagesspiegel

Autoreninfo

Malte Lehming ist Autor und Leitender Redakteur des Berliner "Tagesspiegels".

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Sie haben die Wahl. Ihr Chef bietet Ihnen 1000 Euro monatlich mehr Gehalt, allerdings würden alle Ihre Kollegen 2000 Euro mehr bekommen. Oder aber die gesamte Belegschaft erhält 500 Euro mehr. Die Entscheidung fällt nicht leicht. Im ersten Fall hätten Sie 500 Euro mehr als im zweiten – wäre da nur nicht die Sache mit der Ungerechtigkeit. Ihnen ginge es zwar deutlich besser, den anderen aber noch viel besser. Kein Wunder, dass die Mehrheit in der Regel für die zweite Option votiert. Für die Stärkung des Gerechtigkeitsgefühls ist der Einzelne zum Verzicht bereit.

Wer freilich frei ist von jeder Art Neid, nimmt fröhlich die 1000 Euro und freut sich über den Zuverdienst.

Was die anderen haben, ist ihm egal. Er zieht sein Glück nicht aus dem Vergleich, sondern aus sich selbst heraus. Kain erschlug seinen Bruder Abel, weil er glaubte, dass Gott diesen bevorzugt. Soll das das Vorbild sein?

Der Neid hat keinen guten Ruf. Er ist einer von sieben Todsünden. Er schmeckt bitter, zersetzt die Seele, macht misstrauisch und klein. Keiner gibt zu, neidisch zu sein, und doch lässt sich kaum eine soziale Bewegung denken, die ganz ohne den Neidfaktor ausgekommen wäre. Wer nach Teilhabe und Gerechtigkeit strebt, leidet unter Isolation und Ungerechtigkeit. Dieses Empfinden lässt sich nie trennen von dem Wunsch, dass es einem ebenso gut gehen möge wie den Privilegierten: den Reichen, den Männern, den Weißen, den Heteros – von der Arbeiterbewegung über die Frauenemanzipation bis zu Bürgerrechtlern und homosexuellen Aktivisten.

Oberschicht spricht von „Neidgesellschaft“


Im Unterschied zu diesen haben die Besitzstandswahrer ein starkes Interesse daran, den Neid, wahlweise Sozialneid, als gesellschaftliche Motivationskraft zu verunglimpfen. Das Schlagwort von der „Neidgesellschaft“ geht um. Höhere Vermögens- und Erbschaftsteuern? Wir dürfen doch Leistung nicht bestrafen! Verdrängt wird dabei, dass der, der ein Erbe antritt, dem Leistungsprinzip radikal widerspricht. Dessen Wohlstand resultiert nämlich nicht aus eigenem Tun, sondern aus Familie, Sippe, Dynastie. Er schöpft nicht Wert, sondern ab. Deshalb ist etwa in Amerika, wo anstrengungsloser Reichtum verpönt ist, die Erbschaftsteuer viel höher als in Deutschland.

Verdrängt wird ebenfalls, dass jeder Multimilliardär insgeheim weiß, dass er sein Vermögen nicht allein dem Schweiße seines Angesichts verdankt. Hinzu kommen Glück, Zufall, absurde Marktgesetze. Und wenn dann noch Manager von Banken, die mit Steuergeldern gestützt werden mussten, Bonuszahlungen abkassieren, darf sich keiner über die Empörung darüber wundern. Wer Leistungsgerechtigkeit predigt, aber bei eigenem Misserfolg von seinen Mitmenschen aufgefangen werden will, betreibt ein doppeltes Spiel, dessen oberste Regel heißt: immer nur zu meinen Gunsten.

Der Neid ist ein Bruder der Demokratie. In einer Gesellschaft von ideal Gleichen wird jede Art von Ungleichheit als Verstoß gegen ein Prinzip gewertet. So schreibt der französische Evolutionsbiologe François Lelord: „In der ständischen, alten Gesellschaft war der Bauer nicht neidisch auf den König oder auf den Adligen, das hat sich einfach verboten, das war gar nicht denkbar, dass er da hinkommen könnte. Aber in der Demokratie, wo wir angeblich alle die gleichen Chancen haben, ist der Neid natürlich ein wichtiger Antrieb für viele Menschen.“

Der Nachteil am Neid ist die verengte Perspektive des Neidischen. Nach Mauerfall und Währungsunion etwa ging es den meisten Ostdeutschen materiell besser als früher. Doch weil sie sich nicht mehr mit den sozialistischen Brudervölkern verglichen, sondern mit den Schwestern und Brüdern im Westen, fühlten sie sich als Menschen zweiter Klasse. Und dass global gesehen die Kluft zwischen Arm und Reich kleiner statt größer wird, weil bevölkerungsreiche Staaten, die einst sehr arm waren – China, Indien – anhaltend hohe Wachstumsraten haben und dadurch den Abstand zu den reichen Industrienationen verringern, tröstet ebenfalls nicht. Wir messen uns an Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden. Deren neues, großes Haus gleicht das Wissen nicht aus, dass nur eine Minderheit der Menschen auf der Welt überhaupt ein Auto besitzt.

Der zweite Nachteil am Neid, gewissermaßen sein inhärentes Paradoxon, besteht darin, dass sich das Ideal des Neidischen, die große Gleichheit, nie erfüllen darf. Wenn Leistung zu keinen Vorteilen führt, wird sie überflüssig. Soziologen unterscheiden vier Formen von Neid, sie reichen von „ehrgeizig stimulierend“ über „empört rechtend“, „depressiv lähmend“ bis „feindselig schädigend“. Der Ehrgeiz aber braucht Stimulanzien, ohne sie verfällt der Mensch in Trägheit. Auch die ist eine der sieben Todsünden.

Wer ist glücklicher – der, der alles hat, oder der, dem nichts fehlt? In dieser Kalenderspruchweisheit steckt das dritte und vielleicht letzte Manko des Neids, die stete Bezugnahme aufs Materielle. Mein Haus, mein Auto, mein Boot. Doch dem Unglücklichen fehlt immer etwas, und sei er noch so reich. Wer das nicht vergisst, darf ruhig manchmal neidisch sein.

Foto: Andreas Pisza/Flickr

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