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Das ganze Dorf tuschelte

Dass sie den Holocaust überlebt hat, verdankt Charlotte Knobloch einer bayerischen Bäuerin. Die Lebensgeschichte der Frau, die Aussicht auf den Vorsitz des Zentralrats der Juden in Deutschland hat.

Charlotte Knobloch lebt. Das ist alles andere als selbstverständlich. Quasi am Vorabend der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, am 29. Oktober 1932, wird Fritz und Margarethe Neuland eine Tochter geboren. Er betreibt am Karlsplatz in München, dem „Stachus“, eine stadtbekannte Anwaltskanzlei, sie war ihrem Mann zuliebe zum Judentum konvertiert und genoss das gutbürgerliche Leben an der Seite des erfolgreichen Juristen. Der kleinen Charlotte ist von frühen Kindertagen an der Anblick der neuromanischen Hauptsynagoge, die zusammen mit den Türmen der Frauenkirche ein Bauensemble bildete, bestens vertraut – noch heute zieren das Büro der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde mehrere Bilder mit eben dieser Ansicht. Die Eltern trennen sich 1936, wohl weil die Mutter dem gesellschaftlichen Druck im NS-Deutschland nicht standhält, Großmutter Albertine Neuland zieht ihr Enkelkind auf. Die Familie wohnt am Bavariaring. Oft kommen Besucher abends, im Schutz der Dunkelheit zu ihrem Vater – und fast immer ist vom „Wegfahren“, vom Auswandern also, die Rede. Selbstmorde von Bekannten und Pogrome gegen Juden – auch davon hört die kleine Charlotte oft. Die damalige, von ihr so genannte „Welt der Unterdrückung“ ist ihr bis heute präsent. Eine „grüne Minna“ hält eines Tages neben ihr und ihrem Vater, der wird mitgenommen und verhört. Geistesgegenwärtige Passanten retten das Kind: „Ich spürte plötzlich, wie meine Hand genommen wurde. Als ich aufblickte, sah ich eine Frau, die einen Kinderwagen schob.“ Charlotte begreift instinktiv, dass sie mitgehen muss. Die Fremden fragen das Mädchen, wo sie wohnt, bringen sie bis fast vor die Haustür und sagen ihr, sie solle ihrer Großmutter sofort erzählen, was passiert ist. Ihre Retter hat Charlotte nie wiedergesehen. 1942 droht schließlich auch Familie Neuland die Deportation. Dem Vater hatte man gesagt, es stünde ein Alten- und ein Kindertransport an. Ein Familienmitglied wird deportiert. Wie in so vielen anderen jüdischen Familien sollen die Menschen untereinander selbst das Todesurteil sprechen. Doch die Großmutter sagt mit aller Entschiedenheit, dass sie anstatt der kleinen Charlotte gehen werde. Die Enkelin erinnert sich noch heute an jedes Detail: „Als sie sich verabschiedete, gaukelte sie mir vor, sie müsse nur kurz verreisen und käme bald wieder.“ Doch die damals Sechsjährige ahnt, dass es ein Abschied für immer sein würde „Verreist du da hin, wo die anderen auch hingereist sind?“, fragt sie ihre Großmutter. Am 4. Juli 1942 wird Albertine Neuland nach Theresienstadt deportiert. Sie stirbt dort im Januar 1944. Sommer 1942. Charlotte muss in Sicherheit gebracht werden. Für einige Wochen hält sie sich im Kloster Petershausen nahe bei München versteckt. Gerettet wird sie schließlich, weil sich die ehemalige Haushälterin ihres Onkels, Kreszentia Hummel, bereit erklärt, sie in der fränkischen Heimatstadt Herrieden zu verstecken. Die Reise dorthin ist für Vater und Tochter höchst riskant, Juden ist das Zugfahren verboten. Die Flucht gelingt. Bald schon tuschelt das ganze Dorf, Charlotte sei das uneheliche Kind der Jungbäuerin. Schadenfreude macht sich breit. Kreszentia Hummel hält eisern durch, dementiert nicht, lässt zu, dass man ihr „Schande“ nachruft. So kann sie vor den Nachbarn die Anwesenheit des Kindes erklären. Klatschsucht und Schadenfreude der Dorfgemeinschaft sichern der kleinen Charlotte eine soziale Existenz und damit das Überleben. Noch heute wundert sich die 73-Jährige: „Ich habe mich schon oft gefragt, warum gerade ich gerettet wurde, warum gerade ich dies Glück hatte.“ Winter 1944. Hoffnungsschimmer. Mit grimmigem Trotz erzählt der alte Bauer Hummel von immer neuen Niederlagen der Wehrmacht. Kreszentias Mann glaubt, durch die gute Tat, die kleine Charlotte zu beschützen, würden seine beiden Söhne an der Front möglicherweise eher wiederkommen – eine Hoffnung, die sich erfüllen sollte. Im Frühsommer 1945 fährt schließlich ein Auto auf den Hof der Hummels. Fritz Neuland steigt aus. Charlotte erkennt ihn gleich, obschon er um Jahre gealtert und beinahe blind ist. Er will sie mitnehmen – nach Hause. Erst Wochen später kann der Vater seine Tochter überzeugen, nach München zurückzukommen. 1948 lernt sie, gerade 16-jährig, Samuel Knobloch kennen, einen Überlebenden des Holocaust aus Krakau. Die beiden haben nach den Schrecken des Nazi-Regimes wieder ein Leben vor sich, planen, in die USA auszuwandern, und heiraten 1951, kurz vor dem Termin der Ausreise. Der Arbeitsplatz in St. Louis war schon perfekt, die Passage gebucht – da kündigt sich bei dem Ehepaar Knobloch Nachwuchs an. Zwei weitere Kinder folgen, die Pläne zur Auswanderung werden erst verschoben, dann ad acta gelegt. Familie Knobloch bleibt in München.

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