Corona-Maßnahmen - Studie bezweifelt die Wirkung von harten Lockdowns

Der Wissenschaftler John Ioannidis hat eine Studie vorgelegt, die Zweifel an der Wirksamkeit harter Lockdown-Maßnahmen zulässt. Das Papier widerspricht anderen Studien aus dem Sommer und zeigt zumindest, dass Wissenschaft nicht letztgültige Klarheiten schaffen kann.

Passanten im Lockdown / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Macht die Politik einen Fehler? Die Frage stellt sich, wenn man eine Studie der Universität Stanford liest, die der renommierten Gesundheitswissenschaftler und Statistiker John Ioannidis zusammen mit dem Infektiologen Eran Bendavid durchgeführt hat und die nun im britischen Fachmagazin „European Journal of Clinical Investigation“ publiziert wurde. Ioannidis und Bendavid haben sich mit der Wirksamkeit von harten Lockdown-Maßnahmen auseinandergesetzt, wie sie in den zurückliegenden Monaten in nahezu allen Ländern der Erde in unterschiedlicher Ausprägung und Konsequenz durchgeführt worden sind. Welchen Effekt hat das Schließen von Geschäften und die häusliche Isolation der Bevölkerung auf das Infektionsgeschehen und die Ausbreitung von Corona?

Eine nicht ganz unberechtigte Frage. „Angesichts der Konsequenzen dieser Maßnahmen“, so schreiben die maßgeblichen Autoren gleich in der Einleitung zu ihrer Untersuchung, „ist es wichtig, ihre Effekte zu bewerten.“ Und sie sind, folgt man den beiden Stanford-Wissenschaftlern, eher als wenig zielführend zu bewerten.

Ein aufschlussreicher Ländervergleich

Untersucht haben die Wissenschaftler acht Länder mit „restriktiv nicht-pharmazeutischen Interventionen“ (NPI) – England, Frankreich, Deutschland, Iran, die Niederlande, Spanien, Italien und die USA – sowie zwei Länder mit wenig restriktiven Interventionen: Schweden und Südkorea. „Wir verwenden das Fallwachstum in Schweden und Südkorea, zwei Länder, in denen keine obligatorische Schließung durchgeführt wurde, als Vergleichsländer für die anderen acht Länder.“

Das Ergebnis dieses Vergleichs spricht nicht unbedingt jenen Politikern das Wort, die derzeit mit immer härteren Maßnahmen zu einer Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus beizutragen glauben: Nach Abzug der epidemischen und restriktiven Effekte nämlich habe man in keinem Land eine eindeutig positive Wirkung von harten nicht-pharmazeutischen Interventionen feststellen können: „Obwohl kleine Vorteile nicht ausgeschlossen werden können, finden wir keine signifikanten Vorteile für das Fallwachstum bei restriktiven NPIs. Ähnliche Reduzierungen des Fallwachstums können mit weniger restriktiven Interventionen erzielt werden.“

Viel hilft wenig

Der Glaube, nach dem viel auch viel helfe, scheint auch bei der Eindämmung von Covid-19 nicht unbedingt zu stimmen. Dabei wollen Ioanidis und Bendavid die politischen Maßnahmen gerade am Beginn der Epidemie nicht in Bausch und Bogen verdammen: Die frühzeitige Einführung der restriktiven nicht pharmazeutischen Interventionen zu Beginn des Jahres 2020 sei aufgrund der raschen Ausbreitung der Krankheit an einigen schwer belasteten Orten gerechtfertigt gewesen. Niemand hätte damals Morbidität und Mortalität richtig einschätzen können. Mittlerweile aber müsse man davon ausgehen, dass die Maßnahmen selbst Auswirkungen wie Hunger, unterbleibende Schutzimpfungen, Zunahme von Nicht-Covid-Erkrankungen, häuslicher Missbrauch, Schädigung der psychischen Gesundheit und einem Anstieg der Suizid-Rate mit sich brächten. Zudem würde auch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zu neuen Krankheitsbildern führen. 

Zunehmend würde daher auch von Befürwortern harter Maßnahmen anerkannt, dass die postulierten Vorteile einer sorgfältigen Untersuchung bedürfen. Es gäbe zwar eine Modellrechnung, nach welcher 81 Prozent der rückläufigen Reproduktionszahlen auf harte Lockdown-Maßnahmen zurückgeführt würden, laut den Autoren der Stanford-Studie aber gäbe es für dieses Modell keine Evidenz. Es, beruhe auf Annahmen, nicht auf Fakten. 

Schweden und Südkorea als Vergleich

Eine harte Zahlenbasis könne nach Meinung der Autoren nur geschaffen werden, wenn man die Länder mit harten Lockdown-Maßnahmen mit denen mit wenig harten Maßnahmen vergleiche. So habe etwa Schweden gerade am Beginn der Pandemie nur auf das Verbot von Massenveranstaltungen und auf Appelle zur Distanzierung gesetzt. Südkorea wiederum hat keine Lockdown-Maßnahmen erlassen. Hier habe man ausschließlich auf Testung und Isolation von Infizierten gesetzt.

In ihrer Untersuchung sind Ioannidis und Bendavid zuweilen auf Paradoxien gestoßen. Es hätte etwa Länder gegeben – darunter Deutschland, Italien und Spanien – in denen die harten NPI zu einem weiteren Anstieg der Infektionszahlen geführt hätte, während in anderen Ländern die Infektionen rückläufig waren. Auch hätten bestimmte Maßnahmen – etwa die Einschränkung des Reiseverkehrs – in einigen Ländern Wirkung gezeigt, in anderen Ländern aber nicht.

Aufforderungen sind effizienter als Verbote

Zusammenfassend aber deute in ihrer Studie nichts darauf hin, dass harte Lockdown-Maßnahmen einen signifikanten Vorteil gegenüber wenig harten Maßnahmen hätten. Es seien eher kleine Aufforderungen zur Verhaltensänderung gewesen, die im Vorfeld von harten Maßnahmen zu einem Rückgang des Infektionsgeschehens geführt hätten: „Mit anderen Worten, vor der Einführung von harten NPIs kam es zu einer Verringerung der sozialen Aktivitäten, die zu einer Verringerung des Fallwachstums geführt haben.“

Und noch etwas will die Studie angeblich belegen können: Oft sei die Sterblichkeit der vulnerablen Gruppen in Alten- und Pflegeheimen sogar in jenen Ländern am höchsten gewesen, in denen man prinzipiell auf harte Maßnahmen gesetzt habe. Das heißt, dort, wo die allermeisten Menschen bis dato an Covid-19 verstorben seien, haben harte Lockdowns nichts bewirkt. Ioannidis und Bendavid haben mit all diesen Daten und Analysen eine Studie vorgelegt, die mindestens aufhorchen lässt. Denn ihre Ergebnisse scheinen in einem starken Widerspruch zu einer amerikanischen Studie aus dem Sommer zu stehen, in der ein Team um Solomon Hsiang von der Goldman School of Public Policy an der Berkeley Universität nachgewiesen haben will, dass Lockdowns zur Rettung von Millionen Menschenleben beigetragen hätten. Die wissenschaftliche Einschätzung der aktuellen Maßnahmen scheint also noch längst nicht abgeschlossen zu sein.

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